| # taz.de -- Wendepunkt Dallas | |
| > Essay Nicht der Rassismus – die ungleiche Verteilung von Chancen und | |
| > Ressourcen ist die größte Herausforderung für Gesellschaft und Politik in | |
| > den Vereinigten Staaten | |
| Bild: Ungleiches Kräfteverhältnis: Festnahme bei einer Demonstration gegen Po… | |
| von Anjana Shrivastava | |
| Wenn Donald Trump nicht mehr trompetet, sondern plötzlich versöhnliche Töne | |
| anschlägt, dann ist äußerste Vorsicht geboten. Und wenn dann auch noch der | |
| potenzielle Vizepräsidentschaftskandidat Newt Gingrich, Galionsfigur der | |
| amerikanischen Rechten, darüber schwadroniert, wie unvorstellbar schwer es | |
| ist, in Amerika eine schwarze Haut zu tragen, ist noch mehr Misstrauen | |
| angebracht. | |
| Die ungewohnt emphatischen Äußerungen republikanischer Spitzenpolitiker | |
| nach der Katastrophe von Dallas entspringen einem kolossal schlechten | |
| Gewissen. Bei Trump, Gingrich und anderen grassiert die Angst, einen | |
| gesellschaftlichen Zerfallsprozess ausgelöst zu haben, der eine halbwegs | |
| funktionierende multikulturelle Gesellschaft in eine ethnisch bitter | |
| verfeindete Gesellschaft verwandelt. Demonstrationen können jederzeit in | |
| Straßenkämpfe umschlagen, Mord wird zum politischen Mittel, Politik, Gewalt | |
| und Hass vermengen sich unauflöslich. | |
| Es herrscht Eskalation, nicht Ausgleich oder Kompromiss. Trump und Gingrich | |
| wollen ins Weiße Haus – und sagen und tun dabei, was sie in ihren Augen | |
| sagen und tun müssen. Doch schon werden sie aus den eigenen Reihen | |
| kritisiert: Ihre versöhnlichen Worte seien unangemessen, die gefallenen | |
| Polizisten von Dallas würden nicht adäquat verteidigt. | |
| Ebenfalls angegriffen wird die linke Kritik, dass die Polizei immer wieder | |
| unschuldige schwarze Männer auf den Straßen Amerikas erschießt. Diese | |
| Kritik wird vor allem von der Bewegung „Black Lives Matter“ formuliert. Sie | |
| dominiert in den Straßen und ist eine mächtige Lobby in der demokratischen | |
| Partei. | |
| Vor seinem Tod gab Micah Johnson, der schwarze Schütze von Dallas, bekannt, | |
| dass ihn diese Bürgerbewegung, die seit zwei Jahren immer stärker wird, zu | |
| seiner Tat motiviert habe. Spätestens jetzt kritisieren konservative | |
| Amerikaner, dass „Black Lives Matter“-Aktivisten – mit ihrer Fixierung auf | |
| die Polizei in den Brennpunkten amerikanischer Städte – die Polizisten im | |
| Endeffekt zu Sündenböcken machten. Sündenböcke für gesellschaftliche | |
| Verhältnisse, die von Polizisten zwar verwaltet, aber in der Regel kaum | |
| persönlich verursacht werden. | |
| Parallel zu der Bürgerbewegung hat die Obama-Regierung nach der Erschießung | |
| von Michael Brown in Ferguson, Missouri, vor zwei Jahren, eine Erhebung | |
| über das Verhalten der Polizei in Auftrag gegeben und einen Bericht | |
| veröffentlicht. Ebenso wie „Black Lives Matter“ rückt auch die Regierung | |
| das Polizeiverhalten ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Diese Fokussierung | |
| ist bei Weitem zu selektiv und oberflächlich, und somit tatsächlich Teil | |
| des Problems und nicht nur der Lösung. | |
| Wenn Präsident Obama jetzt nach Dallas fährt, besucht er eine von nur 15 | |
| Städten, die seine Empfehlungen für Community Policing unterschrieben | |
| haben. 15 von 18.000 Polizeibezirken. Aber diese Empfehlungen haben auch in | |
| Dallas nichts genutzt, weil sie den Kern des Problems nicht treffen. Denn | |
| das Verhalten der Polizei ist oft allenfalls Symptom der Probleme und | |
| weniger die Ursache. | |
| Die Dimensionen der Probleme des schwarzen Amerika sind überwältigend. | |
| Über das erste lange Wochenende dieses Sommers wurden in Chicago 64 | |
| schwarze Menschen angeschossen, 6 davon starben. Nicht durch Polizisten – | |
| durch andere schwarze Bürgern. Die Innenstädte Amerikas sind Kriegszonen | |
| geworden, nicht umsonst heißt Chicago im Volksmund „Chiraq“. | |
| Amerikas Konservative kritisieren Barack Obama sowie Hillary Clinton, die | |
| enge Bindungen zu Chicago haben, dafür, dass sie nicht mehr über diese | |
| Epidemie schwarzer Gewalt reden. Lieber sprechen Demokraten von der von den | |
| Konservativen herbeigezwungene Waffenschwemme. Doch die Ursachen der Gewalt | |
| liegen tiefer als in der leichten Zugänglichkeit zu Waffen. Auch hier, wie | |
| so oft, ist die amerikanische Debatte von gegenseitigen Schuldzuweisungen | |
| geprägt. | |
| Nicht nur die schwarze Unterschicht hat gravierende Probleme. Nach der | |
| Bankenkrise gibt es immer weniger öffentliche Stellen, die bisher für die | |
| schwarze Mittelschicht so wichtig waren; auch die damit verbundenen guten | |
| Renten sind in der Krise unsicher geworden. Der schwarze | |
| Durchschnittshaushalt verlor zwischen 2005 und 2010 ganze 59 Prozent des | |
| Vermögens, der weiße nur 18 Prozent. Der Fortschritt von Jahrzehnten wurde | |
| durch den Finanzcrash vernichtet. | |
| Es ist vielleicht reiner Zufall, aber zweifelsohne symbolisch, dass der | |
| Schütze von Dallas, Micah Johnson, eben kein von Polizisten misshandelter | |
| Armer aus der Innenstadt war, sondern ein Amokläufer und Waffennarr aus | |
| einem gepflegten Mittelschichtsvorort, der seine Identität als | |
| hochstilisierter Black Nationalist betonen wollte. Überhaupt ist es nicht | |
| von der Hand zu weisen, dass eher privilegierte Schwarze ihre schwarze | |
| Identität durch diese Bürgerbewegung kundtun wollen – ohne dabei die | |
| soziale Spaltung der US-Gesellschaft in Klassen anzusprechen. Das Problem | |
| in den USA ist nicht der Rassismus gegen einzelne Schwarze, sondern die | |
| Unfähigkeit der Gesellschaft, kollektive Lösungen für Durchschnittsbürger | |
| zu schaffen, etwa in der Immobilienkrise. | |
| Sowohl der demokratische Sozialist Bernie Sanders als auch Hillary Clinton | |
| haben in den letzten Monaten immer wieder auf diesen Klassenaspekt | |
| hingewiesen – und wurden dafür von AktivistInnen von „Black Lives Matter“ | |
| öffentlich gescholten. Wenn Trump von Einheit redet, obwohl er eigentlich | |
| vor allem spaltet, müssen sich linke Bewegungen, die eine Politik der | |
| Identität so sehr ins Zentrum rücken, auch diese Frage gelegentlich | |
| stellen: Ist Amerikas Problem vorwiegend Rassismus? Oder geht es um die | |
| Verteilung von Chancen und Ressourcen? | |
| Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Dallas einen Wendepunkt | |
| darstellen wird. Entweder wird das Land jetzt an einem Strang ziehen, um | |
| den Millionen Vergessenen wieder echte Hoffnung zu geben; oder die | |
| Verzweifelten und die Polizei werden immer stärker gegeneinander aufgehetzt | |
| – mit den unvermeidbaren Konsequenzen. Dann wären die Ereignisse von Dallas | |
| nur das Signal zum endgültigen Kontrollverlust. Zum Glück stirbt die | |
| Hoffnung zuletzt. | |
| Anjana Shrivastava ist eine US-Journalistin in Berlin. Sie schreibt unter | |
| anderem für das „Wall Street Journal Europe“ | |
| 12 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Anjana Shrivastava | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |