# taz.de -- An der Grenze, die keine war | |
> Im Donbass herrscht ein Stellungskrieg. Was früher ein Land war, ist | |
> geteilt durch die Waffenstillstandslinie. Sie zerreißt Familien und | |
> Ortschaften. Viele glauben, dass die neue Bruchlinie von Dauer ist | |
Bild: Um die Menschen im Donbass zu erreichen, müssen sich die Helfer der NGO … | |
AUS STANITSA LUHANSKA CEDRIC REHMANN | |
In der Nacht betet Nina Gratchowa, 87, dass der Tod gnädig ist. Sie hofft | |
auf einen Treffer, der sie und ihre 93-jährige Schwester Nadja auslöscht. | |
Keine abgetrennten Gliedmaßen, kein Wimmern unter rauchenden Trümmern, nur | |
endlich Ruhe. In ihrer Straße in Stanitsa Luhanska hat es schon das Haus | |
gegenüber getroffen. Ihre eigene Wand ist voller Krater, die Fenster ohne | |
Glas sehen aus wie leere Augenhöhlen. Gratschowa schlurft in Pantoffeln auf | |
die Helfer der Organisation Vostok SOS zu. Mit dünnen Armen greift sie nach | |
einem der Männer. „Spasiba“, „danke“, sagt sie auf Russisch. Dann flie… | |
Tränen. | |
Ihre Geschichte gleicht dem, was die Helfer schon oft gehört haben. Alte, | |
meist Frauen, zurückgelassen in einer Geisterstadt, die ohne Hilfe nicht | |
überleben könnten. Die meisten Familien haben den Ort längst verlassen, wo | |
es jederzeit Granaten regnen kann. Die Tränen der Alten fließen vor | |
Dankbarkeit oder vor Scham, wenn die Helfer ihre Pakete mit Öl, | |
Fleischkonserven und Seife abliefern. In den Häusern riecht es nach | |
Verwahrlosung. In Küchen schimmelt das schmutzige Geschirr. „Wer keine | |
Familie hat, die anderswo Fuß gefasst hat, der bleibt und versucht zu | |
überleben“, sagt Dmytro Thedobass, Aktivist von Vostok SOS. | |
Die Initiative entstand 2014 aus zwei Menschenrechtsorganisationen aus | |
Luhansk und der von Russland annektierten Krim. Thedobass ist frühmorgens | |
aufgebrochen. Er steuert seinen Geländewagen über staubige Pisten, um nach | |
Stanitsa Luhanska zu kommen. Der Krieg hat jeden Straßenbau im Donbass | |
unterbrochen. Auf der ungeteerten Strecke dauert es Stunden, rund ein | |
Dutzend Kilometer zurückzulegen. Thedobass hat Boxen an sein Smartphone | |
angeschlossen. Die russische HipHop-Band Krovostok singt von Drogen, der | |
Mafia und Mädchen. Thedobass liebt die Rapper aus dem Feindesland. Er | |
kurbelt das Fenster herunter, um zu rauchen. An der Brücke dort habe es | |
kürzlich einen Hinterhalt gegeben, da auf der Sandpiste seien Zivilisten | |
aus der Kampfzone geflohen. Zwischen Anekdoten und Zigaretten analysiert er | |
den Krieg zwischen Kiew und den Separatisten. | |
Schuld am Elend der Region sei die Grenze, die vor 2014 keine war. Sie | |
teilt den Verwaltungsdistrikt Luhansk in einen von der ukrainischen Armee | |
kontrollierten Norden und die Separatistenrepublik im Süden. Die Stadt | |
Luhansk liegt nur 15 Kilometer von Stanitsa Luhanska entfernt, doch sie ist | |
nur über den Checkpoint in der Stadt zu erreichen. Wer im Hinterland wohnt, | |
muss manchmal einen Tag lang anreisen. „Vor dem Krieg haben die Menschen | |
aus der ganzen Region in Luhansk gearbeitet“, sagt Theobass. Jetzt sind die | |
Jobs, Krankenhäuser und Geschäfte für die Leute auf der ukrainischen Seite | |
wie auf einem anderen Planeten. | |
## Die örtlichen Ärzte sind geflohen | |
Auch die Landwirtschaft bringt kaum noch Einkünfte. Erdbeeren oder Tomaten | |
aus der Region Luhansk wurden vor dem Krieg nach Russland verkauft. Zwar | |
hat die Ukraine eine neue zivilmilitärische Verwaltung errichtet, aber ihr | |
fehlen die Mittel, um das Elend zu lindern. In Sjewjerodonezk, 124 | |
Kilometer nördlich von Stanitsa Luhanska, steht das einzige Krankenhaus der | |
Region. Ärzte aus Kiew und anderen Städten leisten dort in ihrem Urlaub | |
Dienst. Sieben Chirurgen für 57.000 Menschen. Die örtlichen Ärzte sind | |
längst geflohen. | |
Die Landstraße nach Luhansk führt zu den Hügeln, auf denen die Truppen der | |
„Volksrepublik Luhansk“ stehen. An einer zerschossenen Tankstelle am | |
Stadtrand haben die ukrainischen Truppen zwei Baracken aufgestellt und eine | |
blau-gelbe Fahne gehisst: das einzige Nadelöhr in der Grenze, die sich über | |
Hunderte von Kilometern zieht. Es sind viele Babuschki, Großmütterchen, wie | |
sie auf Russisch heißen, die sich in Schlangen auf die Grenze zubewegen. | |
Sie schultern Pakete oder schieben sie auf Rollwagen. Eine Frau antwortet | |
unwirsch auf die Frage, was sie auf die andere Seite bringt: ein paar | |
Tomaten für ihre Verwandten. Mit dem Gemüse, das sie trägt, könnte sie | |
Tomatensoße für eine ganze Fußballmannschaft kochen. | |
Dmytro Thedobass lacht. „Das verkauft sie drüben, wo sie den doppelten | |
Preis bekommt“, sagt er. In der Volksrepublik haben die Menschen Hunger auf | |
Obst und Gemüse. Auf ihrer Seite stehen die Kohleminen. Die Felder im | |
Norden hat das Minsk-II-Abkommen vom Februar 2015 den Ukrainern überlassen. | |
Die Menschen in der Volksrepublik sitzen nun auf Kohlebergen, die sie nicht | |
mehr in die Ukraine verkaufen können. „Was sie an Lebensmitteln aus | |
Russland geliefert kriegen, ist teuer. Und die meisten Menschen verdienen | |
nichts mehr, weil niemand ihre Kohle kauft. Die Russen haben eigene Minen“, | |
sagt Thedobass. Hüben wie drüben nimmt die neue Grenze den Menschen die | |
Lebensgrundlage, und es sieht so aus, als werde die Teilung von Dauer sein. | |
Während Kiew die vorgesehenen Wahlen nur abhalten will, wenn die Waffen | |
schweigen, wollen die Separatisten Wahlen mit Gewalt erzwingen. | |
Unzufriedene ukrainische Soldaten an einem Posten nahe Stanitsa Luhanska | |
murren, dass Kiew die Volksrepubliken gar nicht loshaben will. Der Krieg | |
diene der Regierung als Ausrede für alles, was nicht vorangeht in der | |
Ukraine. Ein Brandherd, der die Unzufriedenen in Freiwilligenbataillone | |
lockt und in den Osten lenkt. Dort könnten sie die Oligarchen und | |
Seilschaften aus der Janukowitsch-Zeit nicht mehr stören. | |
Die Babuschkas in der Stadt warten unterdessen mit hungrigen Mägen auf den | |
Tod aus der Luft. Wenigstens können sie ab und zu ihre früheren Nachbarn | |
übervorteilen. Dmytro Thedobass lehnt den Begriff „Kriegsgewinnler“ dafür | |
ab. „Was sollen sie sonst machen?“ Er versucht, die Menschen aus dem | |
Donbass zu verstehen. Er ist einer von ihnen und auch wieder nicht. Mit | |
seiner Biografie steht er für die Zerrissenheit der Region. | |
Thedobass wurde in Sjewerodonezk nördlich von Stanitsa Luhanska geboren. | |
Seine Sprache ist Russisch, und seinen Vater bezeichnet er als „Sowok“. | |
Einen Sowjetmenschen, der das Ende der UdSSR nie verwunden hat. Thedobass | |
ging gleich nach der Schule nach Kiew. Er wollte Jura studieren. Vor allem | |
aber wollte er weg. Er tanzte in Kiew in Technoclubs, statt sich wie die | |
jungen Männer von Sjewerodonezk am Lenin-Denkmal zu betrinken. | |
## Mit der Waffe in die alte Heimat | |
Dann kam der Maidan und mit der Revolution der Gedanke, dass bald die ganze | |
Ukraine so sein würde wie er: neugierig, risikobereit, lebenshungrig. | |
Theobass stand im Winter 2013/2014 mit Hunderttausenden in der Kälte und | |
skandierte: „Bandu het“ – Banditen raus. Ein paar Monate später zog er m… | |
der Waffe in die alte Heimat, die sich gegen die neue Ukraine erhoben | |
hatte. Nachbarn und Jugendfreunde sahen in ihm einen Faschisten, der Russen | |
ermorden will. Mit seinem Vater kommt er bis heute nicht klar: „Wenn ich | |
nur die Scheiße aus seinem Kopf kriegen könnte.“ | |
Seit dem Ende seines Militärdienstes 2015 fährt er als Helfer immer wieder | |
in den Donbass zurück. Er glaubt, dass die Menschen mit Geduld und | |
Solidarität für die Ukraine gewonnen werden. Er sei nicht der einzige | |
Kämpfer gewesen, der Russisch spricht und dennoch für die Ukraine kämpft. | |
„Der Krieg hat Familien zerrissen“, sagt er. | |
Die Helfer von Vostok SOS brausen im Geländewagen von Dmytro Theobass den | |
Fluss Siwersky Donezk entlang, der das letzte Stück Ukraine markiert. | |
Theobass wagt sich ungern in die 500 Kilometer lange und 20 Kilometer | |
breite Zone zwischen den Stellungen. Rings um den Ort Lobadschewo aber | |
drohe weniger Gefahr als anderswo, sagt er. Dort haben beide Seiten einen | |
Waffenstillstand ausgehandelt. Lobadschewo ist ein geteiltes Dorf. | |
Niemand hat ein Interesse daran, dass Geschosse über den Fluss fliegen. | |
Deswegen gelingt hier, was im Donbass sonst nur eine Forderung auf dem | |
Papier ist: Die Waffen schweigen. | |
Die Helfer von Vostok SOS übergeben einer Mutter Medikamente gegen die | |
Epilepsie ihrer Tochter. Sie schreiben sich die Adresse eines Mannes auf, | |
der an Grauem Star leidet und langsam erblindet. Vielleicht kann die | |
Organisation dafür sorgen, dass der Mann einen Spezialisten außerhalb des | |
Donbass aufsuchen kann. Sie tragen Pakete zu einem Lebensmittelgeschäft, | |
das kaum noch Waren in den Regalen hat. Auf den Stufen vor dem Eingang | |
sitzen Babuschkas und alte Männer. Sie warten. Als die Pakete verteilt sind | |
und die Alten aufbrechen wollen, taucht ein Soldat auf. Eine Gruppe | |
Babuschkas fleht ihn an, sie ziehen zu lassen. Sie sind mit dem Boot von | |
der anderen Seite gekommen, um Hilfspakete zu holen, die nicht für sie | |
bestimmt sind. Sie seien doch nur alte Frauen. Eine klagt, dass sie früher | |
am 1. Mai doch alle zusammen gefeiert hätten. Ach, käme sie doch zurück, | |
die alte Sowjetunion! Der Soldat ruft trotzdem die Polizei. | |
11 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Cedric Rehman | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |