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# taz.de -- Verlorene Jugend Nie wird so viel über Radikalisierung geschrieben…
Bild: Im Juni 2014 besuchte der salafistische Prediger Pierre Vogel Bremen. Vog…
Von Annette Hauschild
Marco aus Oldenburg war in seiner Jugend ein Kleinkrimineller aus einer
zerbrochenen Familie. Im Gefängnis konvertierte er zum Islam. Jetzt steht
er vor Gericht, weil er im Dezember 2012 am Bahnhof in Bonn einen
Sprengsatz gelegt haben soll. Eine solche Karriere ist keine Seltenheit im
radikalislamischen Milieu. Der Rapper Deso Dogg, der „Emir von Gröpelingen“
genannte René M. aus Bremen und viele der gewalttätigen Salafisten, die im
Mai 2012 gegen die Provokation der Muslimhasser von PRO NRW randalierten,
haben ebenfalls eine klassische Kleinkriminellenkarriere hinter sich:
Schwarzfahren, Schlägereien, Alkohol, Kiffen, Dealen.
Seelenfänger wissen das. Sie sind auf solche Fälle spezialisiert. Sie
kümmern sich um Heranwachsende mit Problemen, geben ihnen Geborgenheit,
Familienersatz und ein Gefühl der Stärke. Und führen sie schrittweise in
eine vermeintlich heile Welt.
In vieler Hinsicht ist der Prozess der Bekehrung und anschließenden
Radikalisierung Heranwachsender mit dem Abtauchen in eine Sekte
vergleichbar. Die Rückkehr daraus ist schwierig und langwierig.
Junge Leute mit schwierigen Lebensläufen, frühem Scheitern und großer
Frustration sind für Radikalismen jeglicher Couleur besonders empfänglich.
Das zeigt sich in den Lebensläufen junger Rechtsradikaler, Linksextremer
und Salafisten gleichermaßen. Sozialarbeiter nennen als Gründe Ausgrenzung
und Nichtteilhabe an der Gesellschaft. Aber beileibe nicht nur
Unterprivilegierte, Marginalisierte und Ausgegrenzte, sondern auch Kinder
aus anscheinend heilen Verhältnissen und Mittelstandsfamilien wenden sich
radikalen Anschauungen zu.
## Ein Bruch als Auslöser
Doch auch hier ist der Auslöser sehr oft ein Bruch im Leben des
Jugendlichen, meint Thomas Mücke, der Geschäftsführer des Vereins Violence
Prevention Network (VPN), der sich bei für den Salafismus anfälligen
Jugendlichen um Prävention und Deradikalisierung bemüht und auch mit
Syrienrückkehrern arbeitet. Oft passiert dieser Bruch, wenn in der Familie
schwere Krisen eintreten.
Dann finden sich Freunde und Gleichaltrige mit ähnlichen Erfahrungen. Sie
diskutieren über Gott und die Welt, hören zu, helfen, trösten und laden zu
Treffen ein, etwa in einer Moschee oder zum Grillabend mit Koranstunde.
Bei der „Sauerlandgruppe“ gab es gleich zwei deutsche Islamkonvertiten aus
zerrütteten Familien. Der Anführer stammte aus einem Ärztehaushalt. Die
Eltern ließen sich scheiden, ein Zuhause fand der Sohn bei radikalen
Mujaheddin-Veteranen aus dem Bosnienkrieg im Multikulturhaus Neu-Ulm. Der
Jüngste der „Sauerlandgruppe“ wurde von seinen Eltern im Scheidungskrieg
regelrecht missbraucht.
Drei der vier Neonazi-Brandstifter von Solingen, die im Jahr 1992 fünf
Menschen umbrachten, stammten aus kaputten Familien, nur einer aus
sogenanntem „gutem Hause“. Dessen Eltern waren sozial und ökologisch
engagiert. Der rechtsradikale Attentäter der Kölner Oberbürgermeisterin
Henriette Reker wurde von seinen Eltern verlassen und wuchs in einer
lieblosen Pflegefamilie auf, er fand im Alter von 16 Jahren durch
Schulkameraden Anschluss an die Bonner Skinheadszene. Zwei dieser fünf
Personen sind von Gerichtspsychiatern als schwer psychisch gestört,
gleichwohl für schuldfähig befunden worden.
Jugendliche, die sich zum Salafismus bekehren, verändern ihr Verhalten
rasch und offensichtlich. Oft wird das von der Familie zunächst als positiv
empfunden. Sie hören auf zu kiffen und zu trinken oder geben das Rauchen
auf. Familien mit muslimischem Kulturhintergrund wundern sich zunächst oft,
dass der Sohn oder die Tochter plötzlich nicht mehr draußen rumhängt,
sondern den Koran liest, sich anders kleidet, anfängt zu beten.
Nichtmuslimischen Eltern bereitet genau dies aber oft zusätzlich Sorge,
denn sie befürchten, dass das Kind in eine ihnen völlig unbekannte Richtung
driften, sich ihnen komplett entziehen und sich schließlich von ihnen
abkehren könnte.
In der salafistischen Szene gibt es Gruppen, die Gewalt zum Aufbau einer
islamischen Gesellschaftsordnung strikt ablehnen – dazu gehören etwa Pierre
Vogel oder Sheikh Hassan Dabagh – und solche, die dies als legitim erachten
und sogar propagieren. Zu letzteren zählt die Gruppe Millatu Ibrahim um den
in Wien geborenen Prediger Mohamed Mahmoud. Angehörige des gewaltbereiten
Spektrums zieht es regelrecht in den bewaffneten Kampf, der gegenwärtig in
Syrien stattfindet, um den „Brüdern und Schwestern“ im Kampf gegen das
Assad-Regime zu helfen.
## Besseres Leben
Sicher spielen beim Aufbruch in den bewaffneten Dschihad eine gehörige
Portion Abenteuerlust und Dschihadromantik eine große Rolle, aber auch die
Möglichkeit, Gewaltphantasien auszuleben, ein Held zu werden, und der
Wunsch, aus dem verpfuschten alten Leben in ein neues, besseres
aufzubrechen.
Ein Polizist, der das Strafverfahren gegen die „Sauerlandgruppe“, die sich
in Waziristan zusammengefunden hatte, beobachtete, meinte einmal:
„Erschreckend, wie viel Abenteuerlust da drinsteckt.“
Wenn diese Leute mit den Grausamkeiten des Krieges konfrontiert werden,
kehren sie oft traumatisiert zurück. Die Sicherheitsbehörden betrachten sie
wegen ihrer Kampferfahrung als Risiko, können aber nicht alle überwachen.
Vor etwa einem Jahr stellte das Bundesamt für Verfassungsschutz seine
„Aussteiger-Hotline“ für Islamisten ein, mangels Nachfrage. Wer traut in
dieser Szene schon dem Verfassungsschutz?
Große Akzeptanz finden dafür andere, nichtstaatliche Organisationen, die
Rat und Unterstützung für Radikalisierte und Aussteigewillige, ihre
Familien und ihre Lehrer anbieten: das Zentrum demokratische Kultur in
Berlin mit dem Aussteigerprogramm Hayat, das seine Beratungstätigkeit
bundesweit ausbaut; und der Verein Violence Prevention Network, der auch in
die Justizvollzugsanstalten geht.
Annette Hauschild beobachtet Extremisten-Prozesse für verschiedene
Tageszeitungen. Bei der taz betreibt sie den Terrorismus-Blog
„Sauerländische Erzählungen“
9 Jul 2016
## AUTOREN
Annette Hauschild
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