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# taz.de -- Die Spitze des Werbeeisbergs
> Lobbyismus an Schulen Der Versandriese Amazon deckt kreative Schulklassen
> mit Preisen der eigenen Produktpalette ein. Vier Bundesländer haben den
> Amazon-Schulwettbewerb nun verboten, Sachsen hingegen hält daran fest
Bild: Kann ein Kindle schlecht sein, wenn sich eine Schülerin so daran erfreut…
von Claudia Hennen
Schulleiterin Silke Kruppa freut sich über die 30 Kindle-Geräte, über die
die Grundschule Rötha in Sachsen seit zwei Monaten verfügt. Ihre
Förderklasse hat sie mit einer selbst geschriebenen Geschichte gewonnen –
gesponsert hat sie Amazon. „Solche hochwertigen Geräte hätten wir uns nie
leisten können“, gibt die 46-Jährige unumwunden zu. Der Haushaltsrahmen sei
eng gesteckt. Und dank des beigelegten Büchergutscheins könne sie den
Schülern die vierfache Zahl an Büchern anbieten. Das sei gut für die
Lesemotivation, Produktwerbung hin oder her.
Wie stark sich Unternehmen an Schulen engagieren sollten, darüber gehen die
Meinungen auseinander. Für viele Verbraucherschützer und Politiker ist
klar: Amazons Wettbewerb „Kindle Storyteller Kids“ ist Schleichwerbung und
hat an den Schulen nichts verloren. Rund 300 Schulklassen machten dieses
Jahr beim Schreibwettbewerb mit, allein für die Teilnahme winkt ein
50-Euro-Amazon-Gutschein. Gewinner erhalten neben den Kindle-Lesegeräten
und dem Büchergutschein auch eine Führung durch eines der
Amazon-Logistikzentren. Im Regionalfernsehen laufen die immer gleichen
Bilder: Grundschüler stehen in einer Halle voll mit Konsumartikeln und
recken stolz E-Book-Reader und Gutscheine des Internetriesen in die Kamera.
Von geglückter PR und Produktwerbung spricht Amazon selbst natürlich nicht:
Ihm gehe es darum, die Lese- und Schreibfähigkeit der Kinder zu fördern.
Das kauft dem Konzern mittlerweile nicht mehr jeder ab. Als erstes
Bundesland erklärte Hessen Anfang Mai den Schülerschreibwettbewerb als
unzulässig, das hessische Schulministerium untersagte den Grundschulen des
Landes eine künftige Teilnahme. Der Wettbewerb verstoße gegen die
rechtlichen Vorschriften zum Werbeverbot in Schulen. Auch
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen teilen
mittlerweile diese Einschätzung. Sie alle bemängeln, dass als Preise
ausschließlich Amazon-Produkte winken und die Preisverleihung in den
firmeneigenen Hallen stattfindet.
Das sieht man nicht überall so. Besonders lax geht Sachsen mit den „Kindle
Kids“ um. Dort hält das Schulministerium den Wettbewerb für vereinbar mit
dem Schulgesetz. Verbote sind nur vorgesehen, wenn etwa der Unterricht
beeinträchtigt oder der Wettbewerb überwiegend kommerziellen Zwecken diene.
Imagepflege von Unternehmen falle jedoch nicht darunter, heißt es in einem
Schreiben an den Verein LobbyControl, das der taz vorliegt.
Da wundert es nicht, dass die Sächsische Bildungsagentur, eine dem
Schulministerium nachgeordnete Behörde, den Schulen empfahl, am
Amazon-Wettbewerb teilzunehmen. So erfuhr Rektorin Silke Kruppa von der
Gewinnerschule aus Rötha davon. Bildungsagentur-Sprecher Roman Schulz
begründet die Unterstützung damit, dass der Wettbewerb die Lesekompetenz im
digitalen Zeitalter fördere. Dafür nehme man „gewisse Werbeeffekte in
Kauf“.
Amazons Schulwettbewerb ist nur die Spitze des Eisbergs. Wissenschaftler
der Universität Augsburg fanden heraus, dass die Zahl kostenloser
Schulmaterialien von Wirtschaftsunternehmen massiv angestiegen sind, von
845 im Jahr 2011 auf mehr als 17.000 im Jahr 2013. Von den 20
umsatzstärksten deutschen Unternehmen bieten 16 Schulmaterialien an.
Felix Kamella von LobbyControl begrüßt daher das jüngste Verbot des
nordrhein-westfälischen Schulministeriums und hofft auf eine
„Signalwirkung“. Allerdings zeige die Tatsache, dass der Schulwettbewerb
drei Jahre ungehindert stattfinden konnte, dass Schulen und Lehrer nicht
ausreichend sensibilisiert seien. Kamella sieht Handlungsbedarf,
Schulministerin Silvia Löhrmann (SPD) sollte Schulen besser vor der
Einflussnahme von Unternehmen schützen und den kritischeren Umgang mit
außerschulischen Akteuren fördern.
Die entsprechenden Gesetze reichen zum Schutz vor Werbeeinflüssen nicht
aus. Zwar ist in fast allen Bundesländern – eine Ausnahme ist Berlin –
Werbung an der Schule verboten. Schulsponsoring und Firmenkooperationen
sind jedoch erlaubt. In NRW etwa dann, wenn die Werbewirkung „deutlich
hinter den schulischen Nutzen zurücktritt“. Solche schwammigen Vorgaben
lassen Schulen und Unternehmen Interpretationsspielraum. Dazu kommt, dass
jede dritte Grundschule in NRW personell unterversorgt ist, wie gerade eine
aktuelle Studie des Verbands für Bildung und Erziehung (VBE) festgestellt
hat. Fehlt Schulleitern und Lehrern schlichtweg die Zeit, Angebote von
Wirtschaftsunternehmen pädagogisch zu prüfen? Oder muss die Landesregierung
die Schlupflöcher für Lobbyismus im Schulgesetz stopfen, wie nun der
Piraten-Fraktionschef in NRW, Michele Marsching, fordert.
Das späte Handeln verwundert nicht nur ihn. Amazon ist nicht der erste
eindeutige Lobbyismusfall in NRW. Im Herbst wurde bekannt, dass Schulen in
Kooperationsverträgen RWE versprachen, ihren Schülern den Nutzen der
Braunkohle positiv zu vermitteln. Löhrmanns Ministerium forderte die
Schulen damals lediglich auf, „die Vereinbarungen und deren
Anwendungspraxis den geltenden rechtlichen Regelungen anzupassen.“ Erst vor
wenigen Wochen gab es wieder Wirbel, als an Hunderten Grundschulen
Panini-Sammelhefte kostenlos verteilt wurden. Unerlaubte Werbung, urteilte
die Bezirksregierung in Düsseldorf.
Und doch sieht das nordrhein-westfälische Schulministerium keinen weiteren
Handlungsbedarf, verweist auf eine sechs Jahre alte Broschüre zum
Schulsponsoring. Dort finden sich vor allem Praxistipps für Schulen, etwa
zur Gewinnung von Sponsoren oder zur steuerlichen Absetzbarkeit.
Fallbeispiele für Produktwerbung? Fehlanzeige.
Und somit bleibt es den Schulen nach wie vor selbst überlassen, ihre
Kooperationen abzuwägen.
Klaudia Funk-Bögershausen, Leiterin der Wiehagenschule in Werne, hat
zweimal beim Amazon-Wettbewerb teilgenommen. Sie störte die Produktbindung.
Schließlich entschied die Schulkonferenz, die Finger von „Kindle Kids“ zu
lassen.
22 Jun 2016
## AUTOREN
Claudia Hennen
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