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# taz.de -- Artensterben Die botanischen Gärten galten einst als die Pyramiden…
> Pflanzenarten wachsen im Botanischen Garten in Berlin, der 43 Hektar groß
> ist. Er gehört damit zu den größten seiner Art
Bild: Das Große Tropenhaus ist das Wahrzeichen des Berliner Botanischen Garten…
Aus Berlin und BonnAnjana Shrivastava und Helmut Höge
Ein etwas unwahrscheinlicher deutscher Politiker mit langen Haaren geht
langsam durch den Botanischen Garten von Padua. An einer brillantgrünen
Fächerpalme hält Anton Hofreiter an. Chamaerops humilis, Zwergpalme, sie
steht hier schon seit langer Zeit.
Johann Wolfgang von Goethe hat bereits vor mehr als 200 Jahren vor diesem
Baumexemplar gestanden und es bewundert. Schon damals war die Palme, im 16.
Jahrhundert gepflanzt, eine kleine grüne Ewigkeit alt – was Goethe
seinerzeit veranlasste, über einen in der Vorzeit gemeinsamen Ursprung
aller Pflanzenarten zu spekulieren: die Urpflanze.
Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen auf Italienreise, ist
Botaniker. Irgendwie kann man ihn sich gut vorstellen an diesem Ort, von
dem er erzählt, im 1545 gegründeten Botanischen Garten der Universität
Padua, Europas ältestem seiner Art. Als Tropenbotaniker schleppte sich
Hofreiter einst mit gebrochenem Wadenbein durch den peruanischen Regenwald;
er promovierte über die Systematik von Inka-Liliengewächsen. Ihn umweht
ein Hauch Humboldt-Romantik.
Doch Hofreiter, anders als Alexander von Humboldts Zeitgenosse Goethe,
sinniert beim Anblick von Chamaerops humilis, der Zwergpalme, nicht über
den Ursprung und die Ewigkeit, sondern über die unmittelbare Zukunft: Wird
es in 20 oder 30 Jahren solche Palmen in solchen alten europäischen
Gewächshäusern noch geben?
Es ist Frühjahr 2016, und die Frage ist: Ist die Ewigkeit bald vorbei?
Europas botanische Gärten sind eine gefährdete Art, was für engagierte
Botaniker wie Hofreiter ein Anlass zur Sorge ist. Der 1952 gegründete
Botanische Garten der Universität Saarbrücken etwa ist im April dieses
Jahres geschlossen worden – wegen plündernder Pflanzendiebe sogar noch
einen Monat früher als geplant. Seitdem ist das Saarland das erste
Bundesland ohne einen botanischen Garten für die Bevölkerung.
Der Garten in Saarbrücken – einer von knapp 75 deutschen Gärten im Verband
Botanischer Gärten – ist vergleichbar der ersten ausgestorbenen Froschart
im heutigen Regenwald geworden: ein unheimliches erstes Zeichen einer viel
radikaleren Krise, eines Artensterbens.
Längst fragen sich andere Gartendirektoren, sogar Direktoren größerer und
besser finanzierter Einrichtungen wie Hamburgs Botanischer Garten mit
seinen zwei Standorten, welche Einrichtung als Nächstes schließe. Unter
Botanikern wird diskutiert, dass der Saarbrückener nicht der letzte
Gartentod gewesen sein wird. In Berlin zum Beispiel möchte sich die
Humboldt-Universität von ihrem Treptower Arboretum trennen, dem
Gehölzgarten. In den gartenvernarrten Niederlanden wurden in den
vergangenen Jahren mehrere Gärten aufgegeben. Anderswo, von Großbritannien
bis Tschechien, werden sie zunehmend vernachlässigt.
Nur die Biophilia, die natürliche Liebe des Menschen zu anderen Spezies,
die der Biologe E. O. Wilson beschrieb, hat bisher die meisten deutschen
botanischen Gärten immer noch am Leben gehalten, wenn sie gefährdet waren.
Drohende Schließungen rufen stets wütende Bürgerproteste hervor. In Berlin,
Hamburg und Köln haben Proteste in den letzten Jahren mittelfristig
Abschaffungspläne vereiteln können. Nur der Protest von tausenden
Saarbrückern hat diesmal nicht ausgereicht.
Gestresste Städter suchen solche grünen Oasen, wo Kinder zwischen
Blumenbeeten das Laufen lernen und Alte unter mächtigen Bäumen auf Bänken
sitzen, ohne Lärm und Unterhaltungsprogramm. Ein botanischer Garten ist für
den Städter wie die Natur selbst: etwas, das da ist und immer da war.
Also warum sind die Gärten bedroht, wenn doch eigentlich niemand gegen sie
ist?
Die Universität Saarbrücken begründete den Abwicklungsbeschluss ihres
Botanischen Gartens damit, dass er für Forschung und Lehre nicht mehr
gebraucht werde; mit seinem Jahresetat von 500.000 Euro könnten drei
Professorenstellen finanziert werden.
„Das Problem der Gärten ist das knappe Budget der Länder und Städte. Und
dazu die wissenschaftliche Abkehr von der ‚organismischen Biologie‘ zur
profitablen Molekularbiologie“, sagt Anton Hofreiter in seinem Berliner
Büro.
## Der Unterschied zwischen Hafer und Gerste
Die Abkehr, die Hofreiter meint, ist eine Abkehr vom Feld und eine
Hinwendung zum Labor. Die organismische Biologie beschäftigt sich mit der
Vielfalt und den Beziehungen der Organismen untereinander sowie unter
Umständen mit ihrer Gefährdung durch den Menschen. Wissenschaftler haben
heute ein zunehmend peripheres Interesse an lebenden Pflanzen, weil sie
diese mehr und mehr auf genetischer und molekularer Ebene untersuchen.
Es gehört zur Bestimmung der botanischen Gärten, die Studenten der
Naturwissenschaften mit lebenden Pflanzen vertraut zu machen.
Gartendirektoren beklagen, dass viele Studenten nicht einmal mehr den
Unterschied zwischen Gerste und Hafer kennen würden. In der organismischen
Biologie kann man einen solchen Wissensmangel aufwiegen, doch bald
experimentieren die Laborbiologen in Gewächshäusern mit bloß noch einer
Art, und das über Jahrzehnte. „In Deutschland ist diese Wende sogar
radikaler vollzogen worden als selbst in den USA“, sagt Hofreiter.
Die Entwicklung ist nicht neu. Schon in den Sechzigerjahren beklagte der
brillante ukrainisch-US-amerikanische Biologe Theodosius Dobzhansky, obwohl
selbst Genetiker, dass seine Kollegen in der organismischen Biologie
inzwischen als „Schmetterlingsammler und Vogelbeobachter“ abgetan würden.
Der französische Genetiker und Nobelpreisträger François Jacob sagte es so:
„Es geht nicht mehr um ‚das Leben‘, heute interessiert sich die Biologie
für die Algorithmen des Lebendigen.“
Hinzu kommt heute, dass die botanischen Gärten nun, in Zeiten der ewigen
Mittelverknappung, wie Dinosaurier wahrgenommen werden, als Verschlinger
üppiger Ressourcen. Zahlreiche Gärtnerstellen sind in den Gärten unbesetzt.
Haushaltskürzungen werden von den Trägern, den Universitäten, direkt an sie
weitergegeben. Die neoliberale Lösung zielt auf Verschlankung,
Verdienstleistung und Selbstausbeutung.
Anton Hofreiter allerdings glaubt, dass die Gärten noch gebraucht werden –
und nicht nur um des bloßen Erhalts eines Kulturguts willen. Er verlangt
eine radikale Neuerfindung: „Ein botanischer Garten muss eine Arche Noah
für den Erhalt der Artenvielfalt sein.“ Wir kommen darauf zurück.
***
Der Berliner Botanische Garten der Freien Universität in Dahlem, eine
ehrwürdige Institution mit derzeit noch 22.000 Pflanzenarten, hat das
Potenzial zur Arche Noah. Er siedelt seltene Pflanzen aus aller Welt an,
vermehrt sie und siedelt sie zum Teil wieder aus.
Da ist die Welwitschia mirabilis, die nur in Namibia wächst. Da ist ein 160
Jahre alter Palmfarn. Da ist ein 25 Meter hoher Bambus. Da sind die
feuchtigkeitsliebenden Pflanzen der nordamerikanischen Atlantikküste. Da
sind alte Eichen, ein Prachtexemplar neben dem anderen. Da ist das üppige
Viktoriagewächshaus mit seiner berühmten brasilianischen Riesenseerose,
einst der Stolz des kaiserzeitlichen Berlins.
Über dem Eingang des Gartens an der Königin-Luise-Straße steht ein Satz von
Goethe: „Habt Ehrfurcht vor den Pflanzen, denn alles lebt durch sie.“
Man kann hier allerdings auch beobachten, wie eine Neuerfindung des
botanischen Gartens der vergangenen Jahre tatsächlich aussieht: weniger
nach Arche Noah als nach Veranstaltungskulisse.
Besucht man eine der sogenannten Tropischen Nächte im Berliner Palmenhaus,
sieht man wenig von der von Goethe angemahnten Ehrfurcht – zwischen den
Cocktailbars, die alle paar Meter zwischen Pflanzen stehen, ist auch kaum
Platz dafür. Die Besucher trinken Caipirinhas und trippeln im Lauf des
Abends immer schwankender durch die schmalen Pfade zwischen Gewächsen wie
der Seychellen-Palme.
Die Palme ist so schön, dass sie auf praktisch keiner Marketingbroschüre
für die Tropischen Nächte fehlt. Sie ist aber nicht nur schön, sondern auch
fast ausgestorben, weil ihr Habitus auf den Seychellen, den Inseln im
Indischen Ozean, schwindet. Und weil jeder ihrer Samen – es sind die
größten der Pflanzenwelt – ungefähr so schwer wie ein Kleinkind ist; und
damit zu schwer, um von den Seychellen mittels Wind und Wasser woanders
hingetrieben zu werden.
Die Besucher, die nicht recht wahrzunehmen scheinen, dass sich in ihrer
Mitte ein Wunder befindet, wippen zu Salsa-Musik, die von leicht
bekleideten Sängerinnen geboten wird.
Früher, bei den „Sonnenaufgängen im Regenwald“, die der Botanische Garten
organisierte, standen noch die Pflanzen im Mittelpunkt, Kulisse war nur die
Soundcollage. Heute, bei den „Tropischen Nächten“, ist es umgekehrt: Die
seltenen Bäume fungieren als grüne Tapete.
Die Veranstaltung ist ein Sinnbild für den neuen Umgang mit den Gärten, den
wissenschaftlichen wie den politischen.
Ein Fachgärtner im Berliner Botanischen Garten, der nicht namentlich
genannt werden will, weil er ohnehin Angst um seinen Job hat, kritisiert,
die Wissenschaftler würden sich gar nicht für die Pflanze interessieren,
sie wollten nur kurz in sie hineingucken.
Und mit dem sinkenden Stellenwert der Gärten in den Wissenschaften steigt
der Sachzwang, sie anders zu verwerten. Für die tanzenden Abendtouristen
wie für nichtorganismisch orientierte Biologen wird die lebende Natur zum
Beiwerk für distinktiven Lifestyle und wissenschaftliche Ideologien.
Thomas Borowka ist der Leiter der Gewächshäuser. Er wird zusammen mit den
Palmen und dem Palmenhaus als Gesamtpaket für die „Tropische Nacht“ an die
veranstaltende Firma mitvermietet. Er zeigt den angeheiterten Besuchern bei
der Salsa-Nacht Fotos von Monokulturen wie Soja, die den südamerikanischen
Regenwald quadratkilometerweise veröden lassen. Das ist nicht das
Lateinamerika von Salsa und Bacardi-Rum.
Borowka, so könnte man es frei interpretieren, zeigt mit den Bildern der
Verödung des Regenwalds auch die drohende Verödung der botanischen Gärten.
***
Die hochspezialisierten Gärtner der botanischen Gärten sind die Steinmetze
unserer Zeit. Sie reisen durch Europa, um Wasserpflanzen in Breslau
kennenzulernen oder Kakteen in Amsterdam, so wie einst die Steinmetze alle
gotischen Kirchen auf der Suche nach neuen handwerklichen Fähigkeiten
aufsuchten. Wie lange aber wird es in der Atmosphäre des Sparzwangs und der
Degradierung der Gärtner zu Dienstleistern diese Bildungsreisen noch geben?
Bereits 2003 entging der Berliner Botanische Garten nur knapp der
Schließung. Seine Lage ist seitdem prekär. 2007 wurde eine
Betriebsgesellschaft gegründet, die nicht nach Tarif bezahlt, ein
100-prozentiges Tochterunternehmen der Freien Universität – ein Stiefkind.
Nun wird gespart; es wird in Gebäude investiert, aber Stellen bleiben
unbesetzt, Blumenbeete lässt man verwildern, und es wird über zündende
neoliberale Lösungen nachgedacht.
„Die drastischen Kürzungen der Landesmittel werden seit Jahren seitens der
Freien Universität ohne Rücksicht auf Verluste an den Botanischen Garten
weitergegeben“, kritisieren Gruppen wie „Work Watch“, eine Initiative, die
mit der Gewerkschaft Verdi eng zusammenarbeitet; Günter Wallraff ist ihr
bekanntester Aktivist. „18 offene Stellen sorgen dafür, dass den
Gärtnerinnen und Gärtner die Arbeit buchstäblich über den Kopf wächst.“
## Professoren sitzen auf KW-Stellen – „kann weg“
Bei jeder Veranstaltung der „Tropischen Nächte“ gibt es eine Schar linker
Schüler und Studenten, Vertreter der „Revolutionär-kommunistischen Jugend�…
die gegen den Arbeitgeber Freie Universität agitieren, wegen der schlechten
Behandlung einfacher Arbeitnehmer wie Putzfrauen und Wachpersonal, wegen
Lohndumpings und Tarifflucht.
Im neu gewählten Studierendenparlament der FU setzten sie als Erstes eine
Solidaritätsadresse an die Angestellten des Botanischen Gartens durch. Bei
den nächtlichen Events versuchen sie, die Palmenhausbesucher zu agitieren,
bevor die im Rausch des Abends womöglich nicht mehr aufnahmefähig sind.
Die Spartendenz zieht sich durch zahlreiche Institutionen in mehreren
Städten.
Nicht nur Putzfrauen, Wachpersonal und Techniker sind bedroht, auch die
organismische Biologie, die sich mit den Beziehungen der Lebewesen
zueinander beschäftigt, wird eingedampft. Ihre Vertreter sitzen oft auf
einer KW-Stelle – KW heißt: „kann weg“, sobald ein Stelleninhaber
ausscheidet.
An der Universität Potsdam zum Beispiel fiel der ganze feldbiologische
Bereich mit der Emeritierung des Zoologen Hans-Dieter Wallschläger weg.
Was den Botanischen Garten in Berlin-Dahlem betrifft, ihm steht ein derzeit
mit 14 Millionen Euro veranschlagtes Bauprogramm bevor. Es soll angeblich
den Garten für Touristen besser vermarktbar machen. In einem Exposé, das
der taz vorliegt, wird die angeblich unterbewertete Anlage als
„Dornröschen“ bezeichnet, welches „wir gerne wecken würden“: mit neuen
Gebäuden, einer Multimediainstallation, Smart-Technologien wie einem
3-D-Leitsystem und einem elektronischen Kassen- und Zutrittssystem für
Besucher. Investitionen in die Gartenarbeit aber sind nicht vorgesehen.
Manche Gärtner in Berlin gehen davon aus, dass der Botanische Garten mit
seinen 22.000 Arten irgendwann nur noch einer mit 16.000 Arten sein und
sich langsam zu einer Art Freizeitpark entwickeln wird.
In anderen, sogar in reicheren Städten, gibt es vergleichbare
Entwicklungen.
In Hamburg verhinderte ein Bürgerprotest zwar die Schließung des Gartens.
Beschnitten wurde er trotzdem. Als er 2012 in Loki-Schmidt-Garten umbenannt
wurde, gab der Referent des Naturschutzbunds für Umweltpolitik, Malte
Siegert, der taz ein Interview. Die Artenvielfalt „wird im Botanischen
Garten aus Finanznot seit Jahren stetig reduziert“, sagte er: die
Naturschutzabteilung des Gartens, in der im Freiland geschützte Arten
gezeigt wurden – geschlossen. Die sogenannte Kleine Salzwiese –
zugeschüttet. Der Heidegarten – eingestellt. „Wir befürchten, dass das
nicht alles ist“, sagte Siegert. „Wenn die Einsparungen weitergehen, wird
der Botanische Garten irgendwann ein Park mit viel Rasen, aber wenig
Pflanzenvielfalt – einfach weil dessen Pflege weniger personalintensiv und
somit kostengünstiger ist.“
An vielen Orten also ganz ähnliche Tendenzen: ein Umbau zulasten des
Wesentlichen seit den Anfängen der botanischen Gärten in Padua – der
intensiven Beschäftigung mit lebendigen Pflanzen.
Die Reduktion der Artenvielfalt im botanischen Garten der Gegenwart wirkt
deshalb so absurd, weil sie so leicht vermeidbar wäre – wenn man sie
vermeiden wollte. Etwa durch die Kommunalisierung der Gärten und eine
Bürgerschaft, die bereit wäre, für das Wesentliche Opfer zu bringen.
***
Alfred Döblin, der Berliner Schriftsteller und Nervenarzt, schrieb im
Inflationsjahr 1923 als Theaterkritiker von der tiefen Ruhe und
Zufriedenheit, die er im Berliner Botanischen Garten empfinden konnte –
mitten in den Katastrophen von Weimar. Ginge Deutschland vor die Hunde,
blieben die Pflanzen des Gartens für ihn wie ein Labsal, schrieb er.
Döblin sah in dem Garten nicht weniger als ein Weltwunder, das die Weimarer
Krisen überdauern würde. Gebaut von Generationen von Gärtnern, von
Entdeckern wie Alexander von Humboldt, der die südamerikanische Sammlung
begründet hat, von Botanikern wie Adelbert von Chamisso, der als Kustos des
Gartens erstaunliche Beobachtungen an den Korallenriffen der Südsee machte.
Döblin sah das Ensemble der Pflanzen auf einer Stufe mit den Pyramiden, mit
unendlicher Mühe für die Ewigkeit gebaut.
Als in Europa die gotischen Kathedralen errichtet wurden, wurden die
mittelalterlichen Städte und Gesellschaften bis an den Rand ihrer
technischen, politischen und finanziellen Möglichkeiten gebracht. So
kostspielig die botanischen Gärten in Berlin oder Hamburg auch sein mögen –
wer würde behaupten, dass sie nicht zu erhalten wären?
Es geht dabei, wenn man Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter folgt, nicht
nur um den Erhalt eines Kulturguts, es geht um die Zukunft. Einen
zwingenden Grund, an den botanischen Gärten festzuhalten, sieht er darin,
dass sie helfen können, Erkenntnisse über das sogenannte Artensterben zu
gewinnen.
„Die Reduzierung der ‚organismischen Biologie‘ ist deswegen zu bedauern,
weil vor allem das derzeitige Artensterben noch völlig ungenügend erforscht
ist“, sagt er. Es ist eine Biologie, die übergreifende Zusammenhänge
erforscht und auch den Einfluss des Menschen einbezieht. „Inzwischen sind
über 30 Prozent der Arten gefährdet, sie stehen auf der ‚Roten Liste‘, man
spricht bereits vom ‚Sechsten Massensterben‘.“ Alle fünf Massensterben v…
Arten davor waren Naturerscheinungen – der Asteroid, der die Dinosaurier
aus der Evolution ausradierte, zum Beispiel. Doch jetzt, sagt Hofreiter,
führten menschliche Einflüsse dazu, dass immer mehr Arten akut bedroht
seien.
Südamerikanische Frösche sterben massenhaft in den Regenwäldern wegen eines
importierten heimtückischen Pilzes namens Chytrid.
Korallenriffe, jene Oasen des Lebens im Ozean, sterben nach Millionen von
Jahren Wachstum an der Erwärmung und Übersäuerung des Meeres.
„Ohne die organismische Biologie wird die Menschheit nicht einmal eine
Diagnose der Situation in der Hand haben. Zur Biologie gehört das
Kennenlernen der Vielfalt.“ Und die, sagt er, würde in den botanischen
Gärten gezeigt, und die Studierenden würden darin geschult.
***
Maximilian Weigend läuft durch die Pflanzengeografie seines botanischen
Gartens. Er ist einer von Hofreiters Studienfreunden aus der Universität
Regensburg. Heute ist er Direktor der Botanischen Gärten in Bonn.
Er geht von den Sumpfbäumen aus den Südstaaten bis zu den südostasiatischen
Bäumen mit riesigen lila Blüten.
„Ein botanischer Garten ist kein Rummelplatz“, sagt der energische Bayer
Weigend. Die Events, die in vielen Gärten stattfinden, betrachtet er als
Verlustgeschäfte, weil sie so viel Kapital und Fachkräfte unentgeltlich
binden und weil sie seiner Meinung nach eher Verschleiß als Gewinn für den
Garten bringen.
Aber was dann? Maximilian Weigend sagt, die Zukunft der Gärten sei in
diesem Zeitalter des Artensterbens so wichtig, dass man sich ernsthaft
Gedanken über alternative Finanzierungen machen sollte. Die Bonner
Botanischen Gärten sehe er bei der Universität der Stadt gut aufgehoben,
sagt er. Dennoch, man müsse nachdenken darüber, ob es andere, geeignetere
Träger gibt als die Universität, die sich zur Industrie und nach
Drittmitteln streckt.
Als Präsident des Verbands Botanischer Gärten befürwortet er die gänzliche
oder teilweise Kommunalisierung der Gärten. Auch Stiftungen als Träger kann
er sich vorstellen. Nur nichts tun – das gehe nicht, sagt er mit Blick auf
die Schließung des Saarbrücker Gartens im April.
In Saarbrücken habe es schon vor vielen Jahren die ersten Warnzeichen
gegeben. „Viele Pflanzen wandern aus ihrem angestammten Gebiet, wenn das
Klima sich wandelt.“ So wie sich die Pflanzen dann eine neue Nische suchen,
so müssten auch die Gärten aufbrechen. Eine Hauptaufgabe in den nächsten
Jahren werde etwa die ökologische Bildung sein.
Weigend gehört, wie Hofreiter, einer jungen Generation von Botanikern an,
die als Entdecker unerforschter Gebiete zu verstehen sind. Entdecker, das
sind heute nicht mehr Leute auf der Suche nach der Nilquelle. Sondern auf
der Suche nach den evolutionären Folgen des menschlichen Einflusses in der
Welt; nach den Auswirkungen des Anthropozäns. Sie erforschen etwa die sich
entwickelnde Mobilität von Pflanzen, die sich ein neues Klima suchen
müssen; die Biodiversität. Botaniker sind heute so unentbehrlich für die
Klimawissenschaftler wie einst Anatomiker für die Ärzte der Renaissance.
Anton Hofreiter sagt: „Wir brauchen eine Offensive für die
Diversitätsforschung und dazu Lobbyarbeit. Dafür müssen neben den Gärtnern
und den interessierten Bürgern auch die Wissenschaftler gewonnen werden.
Die vorhandenen Gelder dürfen nicht nur für die Genetik und die
Molekularbiologie verwendet werden.“
## Die Ekstase des Ablaichens und der Horror
Maximilian Weigend schimpft, während er durch den Botanischen Garten läuft,
zwischendurch auf die Hörigkeit gegenüber „Big Data“ bei der Vermessung d…
Welt des Klimawandels. Big-Data-Apologeten „denken, dass grottenschlechte
Daten über Pflanzen aussagekräftig werden, wenn man sie nur massenweise
erhebt“.
Das sei aber nicht so, sagt er, und da sind wir wieder bei den Anfängen der
botanischen Gärten, in Padua, im 16. Jahrhundert. Bei der intensiven
Beschäftigung mit dem Leben. Und bei der Sorge, dass diese kleine Ewigkeit
enden könnte.
Wer einmal eine tropische Nacht auf einem Korallenriff erlebt hat, in der
Zeit des Massenablaichens, das in nur einer orgiastischen Nacht des Jahres,
zu Beginn des Sommers, stattfindet, der hat die Ekstase und den Horror
gleichzeitig erlebt: die Ekstase über ein natürliches und immer
wiederkehrendes Wunder, wenn rosafarbene Eier plötzlich millionenfach durch
das Wasser nach oben pulsieren. Und den Horror über den drohenden Verlust
dieser Unterwasser-Oasen, die Millionen Organismen im kargen tropischen
Gewässer am Leben erhalten.
Wie die Korallenriffe spielen die botanischen Gärten eine helfende und
revitalisierende Rolle, jetzt, da unsere Welt an Arten immer ärmer wird.
Es sind beide Wunder vom Zerfall bedroht.
Anjana Shrivastava wurde in Großbritannien geboren, wo sie die botanischen
Gärten des Königreichs kennenlernte. Dann zog sie in die USA, wo die
Wildnis im Mittelpunkt steht, und studierte Europäische Geschichte in
Harvard.
Helmut Höge wurde 1947 in Bremen geboren, studierte Sozialwissenschaften in
Berlin und Bremen, arbeitete danach als landwirtschaftlicher Betriebshelfer
und ist seit 1970 journalistisch tätig
28 May 2016
## AUTOREN
Anjana Shrivastava
Helmut Höge
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