Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Weltdeutende Text-Kunst
> kunst Lesen Die Ausstellung „…und eine Welt noch“ im Kunsthaus Hamburg
> zeigt Werke von 40 KünstlerInnen, die sich die Welt durch eigene Systeme
> erschließen. Die Referenzen an die Konzeptkunst der 70er-Jahre sind
> unübersehbar; der Kanon der Konzepte wird zitiert und variiert
Bild: Akribische Erschließung der Welt: Daniela Comanis „Ich war’s. Tagebu…
Von Hajo Schiff
In einem feingezeichneten Tortendiagramm mit 365 Segmenten erfasst der
Hamburger Künstler Nick Kopenhagen täglich das Wetter und seine Stimmung.
Das dazu gewählte Farbsystem ist eine seltsame Mischung von objektiven
Daten und abwegigen Kriterien. Die erstaunlich schönen Blätter zeigen eine
etwas andere Jahreswahrnehmung als gemeinhin üblich.
Solche zugleich akribischen und ungewöhnlichen Erschließungssysteme der
Eigen-Welt sind allen über 40 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern
gemeinsam, die die künstlerische Leiterin Katja Schroeder und die
Kuratorin Miriam Schoof im Kunsthaus Hamburg zusammengetragen haben.
Referenzpunkt dabei ist die renommierte Hamburger Künstlerin Hanne Darboven
(1941 – 2009) mit ihren subjektiven, geradezu manischen Schreibsystemen.
Zeichnung und Fotografie sind die wesentlichen Medien dieses Versuchs zur
Neuanordnung des Wissens in individuellen Enzyklopädien. Das ergibt keine
schnelle Kunst, mehr eine Leseausstellung. Auch Dichter wie Arno Schmidt
und die Filmemacherin Ulrike Ottinger sind vertreten. „Learn to read Art“
heißt es in der Vitrine von Textkünstler Lawrence Weiner und die Besucher
erhalten ein 14-seitiges Handout zur Erklärung des durch Sehen allein nicht
vollständig Erschließbaren.
Weht seit Langem mal wieder ein Hauch von Intellektualität durch den Raum,
wie der Kunsttheoretiker Laszlo Glozer bemerkte, oder ist das alles hier
eher hirnwütig und hermetisch? „Wie nah wohl zuweilen unsere Gedanken an
einer großen Entdeckung hinstreichen mögen“ hat der große deutsche
Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg einst gefragt. Und wie nahe am
Wahn!, wäre ein boshafter Einwurf angesichts so vieler hier ausgebreiteter
individueller Weltsysteme.
Jedenfalls scheinen die Referenzen an die wichtige und schätzenzwerte
Konzeptkunst der 70er-Jahre manchmal etwas manieriert. Denn so wie es einst
kaum mehr möglich schien, nach Raffael und Michelangelo noch Großes zu
malen und die folgende Generation der Manieristen sich in individuelle
Stilkapriolen rettete, so wird hier der inzwischen klassische Kanon der
Konzepte nur noch zitiert und variiert: Subjektive Reihung und
selbstgesetzte Regeln, durch Zahlen oder Zeiten gesteuerter Zufall,
Hervorkehren des Hintergründigen, des Zwischenraums und der Rückseite der
Systeme, Aufwertung des Abfalls, Gewinnung immer neuer Möglichkeiten durch
Kombinatorik und Permutation. Und bei alledem kann jedwede Form von
Notation nicht nur als Geheimnisse offenbarende apokryphe Schrift
verstanden werden, sondern auch als unerhörte Musik.
In Sigrid Sigurdssons Video über den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt
sind nur die An- und Auslaute der Worte als Nachhall im Raum zu hören, das
Räuspern, Luftholen und die Nebengeräusche ergeben einen kläglichen
Rhythmus. Die Zwischenräume bilden die möglicherweise einzigen ganz
objektiven Momente dieser schrecklichen Aussagen.
Unpolitisch und oder weltabgewandt ist die überall demonstrierte
Subjektivität nicht: In den Vitrinen finden sich Verweise auf den
Massenmord an den Armeniern oder die tagebuchartige Übernahme großer
Weltereignisse als selbsterlebt und absurderweise selbstgemacht; in oft
schwer lesbaren Collagen und Notizen finden sich Bezüge auf Walter
Benjamin, James Joyce und Aby Warburg.
Der aus Benin stammende Georges Adeagbo erzählt nicht nur Geschichten durch
die bloße Kombination von Objekten, er hat den von Alfredo Jaar gesetzten
Neon-Schriftzug KULTUR=KAPITAL ins Französische und in seine Handschrift
übersetzt. Immer wieder geht es so um die Subjektivierung der Welten. Lässt
sich aus so vielen verschiedenen Zugängen noch so etwas wie Realität
gewinnen?
Banu Cennetoğlu hat in ihrer Installation auf elf Tischen mit je sechs
schwarzgebundenen Bänden alle deutschen Tageszeitungen vom 11. August 2015
ausgelegt: Auch was jedem Leser in seinem Blatt als objektiv aktuell
serviert wird, zeigt sich als eine eher subjektive Auswahl.
Am Ende bleibt die Beschwörung des Augenblicks im 2.244-fach geschriebenen
Wort „now“ bei Jorinde Voight oder das „Work No. 867“ von Martin Creed:…
ist ein auf einem Sockel unter Glas präsentiertes zusammengeknülltes Blatt
Papier. Klar dass diese oft philosophierende Kunst auch ihr eigenes
Scheitern thematisiert.
„… und eine Welt noch“, Kunsthaus Hamburg, bis 26. Juni
27 May 2016
## AUTOREN
Hajo Schiff
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.