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# taz.de -- Hausbesuch Sie sind jung, sie machen Kunst. Das geht, weil sie sich…
Bild: Sie leben in einfachen Verhältnissen: Sabine Sellig und Robin Pohl
von Geraldine Oetken (Text) und Mark Kruszewski (Fotos)
Zu Besuch bei Robin Pohl (28) und Sabine Sellig (26) in der Jahnstraße in
Braunschweig.
Draußen:Die bröckelnde Jugendstilfassade des Hauses im westlichen
Braunschweiger Ringgebiet ist eingerüstet, die Bürgersteige sind
aufgeplatzt. Im Hintergrund ist das stete Rauschen des Verkehrs auf der
Autobahn zu hören.
Drin: Die Wohnung steht voll, die Regale sind es bis oben hin. An den
Wänden hängen Postkarten, Fotos, Briefe; Noppenfolie bedeckt die Fenster.
Und trotzdem sieht alles nach Verzicht aus. Nichts ist neu, alles ist
gesammelt, gebraucht. Zwischen den Büchern auf dem Regal hängen vier
farbige Boxershorts zum Trocknen. Daneben stehen gestapelte Dosen mit
Katzenfutter. Die Toilette ist im Treppenhaus. Ein Zimmer ist No-go-Zone,
weil verschimmelt, aber dafür ein Katzenzspielparadies.
Kater Finn: Kater Finn springt auf das Hochbett, Sabine Sellig hockt
darunter auf dem Boden. Sie hat vegane Muffins gebacken, Tee gekocht, den
sie auf die kleine Elektroheizung zum Warmhalten gestellt hat. Die
Kohleöfen dürfen nicht mehr befeuert werden. Robin Pohl, der Mitbewohner,
rumort noch in seinem Zimmer.
Sabine Sellig: Wenn es brennen würde, sagt sie, würde sie keinen Besitz,
keine Dinge retten. „Obwohl“, schiebt sie nachdenkend hinterher, „so blöd
wie es klingt, ich würde versuchen, das MacBook mitzunehmen“. Im Juli macht
Sellig ihr Diplom an der Braunschweiger Kunsthochschule, und ohne Laptop
geht die Klangkunst, die sie macht, doch nicht. „Wenn ich allen Besitz
verlieren würde, dann wäre das wie ein Nullpunkt, wie ein Neuanfang“, sagt
die 26-Jährige.
Robin Pohl: „Wenn es brennen würde“, sagt er, „würde ich als Erstes mei…
Bücher aus dem Fenster werfen.“ Er nimmt sich einen Muffin vom
Goldrandteller. Noch studiert er Kunstwissenschaften, aber eigentlich,
eigentlich, will er Bühnenmaler im Theater werden. Schluss mit Theorie, mit
Gerede, ein Neuanfang im Handwerk. Im Sommersemester lernt er schon noch
etwas in seinen Büchern, dann will er – ohne Bachelor-Abschluss – mit der
Ausbildung anfangen.
Dann:Bis zum Sommer, dann. „Dann vielleicht Leipzig irgendwann“, sagt
Sellig. „Aber erst einmal müssen wir bald hier raus“, sagt Pohl, zwei Jahre
wohnt der 28-Jährige hier, Sellig schon seit sechs. Ihre Wohnung wird bald
von der Baugenossenschaft saniert, wie die meisten Wohnungen in der
Jahnstraße. Sie bekommt eine Heizung, eine Dusche, dichte Fenster. Einen
neuen Anstrich. Im Sommer gab es einen Unfall mit einem Kohleofen. Im
November kam dann ein Schreiben von der Baugenossenschaft: Die Kohleöfen
dürfen ab sofort nicht mehr benutzt werden. Eine Woche später erst stand
eine kleine Ersatz-Elektroheizung im Flur. Einige in der Straße sagen, die
Sanierungen würden aus Profitgier gemacht werden. Sellig und Pohl meinen
jedoch, sie könnten die BBG verstehen. Nur für die Leute, die gehen müssen,
sei es halt schwierig. Trotzdem hängt auch an ihrer Wohnungstür der
neongelbe Flyer: Mein Kohleofen bleibt hier!
Das einfache Leben: Bislang haben die beiden zusammen 165 Euro Kaltmiete
bezahlt, für 65 Quadratmeter. Pro Winter kamen noch 80 Euro für das
Kaminholz dazu. Die Tauschangebote, die die Baugenossenschaft den beiden
Studierenden gemacht hatte, waren für sie nicht vergleichbar. Zu klein. Zu
teuer. Beide finanzieren ihr Studium selbst. Je teurer die Wohnung, desto
größer der Gelddruck, desto weniger Zeit für die Kunst. Und überhaupt, sagt
Sellig, sie will gar keinen Komfort, keine Zweifachverglasung, keine
Heizung, sie mag ihren Kohleofen. Sie mag das einfache Leben.
Raucherpause: Immer wieder geht es ins Treppenhaus zum Rauchen. Pohl hockt
sich auf eine Pappe. Gegen die Kälte. „Die Kälte ist wirklich das
Schwierigste“, sagt Sellig und zieht an der Selbstgedrehten. „Aber“, sagt
sie und atmet aus, „man lebt näher am Zyklus der Natur.“ Näher an der
Realität, man spürt sich dann und arrangiert sich mit dem, wie das Wetter
sich gibt. Und für alles, alle Unannehmlichkeiten, lasse sich ja auch eine
Lösung finden: Pulli auf Pulli oder die Noppenfolie.
Containern: Luxus, den gibt es ja trotzdem. „Helle Trauben aus Indien,
dunkle aus Südafrika. Das macht das Frühstück dekadent“, sagt Sellig. Der
Sonntag ist für das Containern reserviert. Dann angeln sie aus den Abfällen
der Supermärkte Lebensmittel, die eigentlich noch essbar sind, aber nicht
mehr verkauft werden dürfen. Sie sammeln so viel, dass sie das Essen
weitergeben oder für viele kochen. Ein Überfluss sei das, sagt Sellig, und
gleichzeitig: „ein Retten der Dinge“. In der Küche liegen gerettete Äpfel,
der Tee auf der Heizung ist gerettet, die Milch darin auch. Robin Pohl sagt
leise: „Ich kann die Tradition in meiner Familie für Fertiggerichte nicht
ganz loswerden“ und kauft manchmal welche.
Suche: Aber erst einmal ziehen beide aus. Er sucht Gemeinschaft, wie er sie
in der Jahnstraße gefunden hat, und zieht in eine große WG. Mit sieben
Leuten, direkt in der Nähe. Sellig zieht in eine Kleingartenanlage und
sagt: „Dort hab ich sogar die größte Jauchegrube.“ Das einfache Leben, das
Leben ohne viel Geld, das Leben der Genügsamkeit, das suchen beide, auch
nach dem Studium. Und dennoch, ohne Geld geht nichts. Dafür jobben sie. Bei
VW, Rewe, Westermann, Bretschneider, auf Messen, am Ausschank bei
Hochzeiten, als Statist im Staatstheater, in der Zeitungsdruckerei und
schließlich auch beim Zeitungausteilen.
Das Lebensprinzip: Sabine Sellig möchte den Nebenjob zum Lebensprinzip
machen. Um nicht den Druck zu haben, mit ihrer Kunst Geld verdienen zu
müssen. Wenn die Lebenshaltungskosten günstig sind, kann sie nur von
Nebenjobs leben. Wenn allerdings die Miete steigt, das Containern nicht
mehr geht, dann geht ihr Konzept nicht auf. Dann geht die Kunst nicht mehr,
nicht mehr einfach so, nicht mehr nur für das eigene Tun, hinter jeder
Arbeit stünde dann die Idee, sie verkaufen zu müssen. Und das würde die
Kunst unehrlich machen, meint Sellig.
Horizonte: Sie kann den Gelegenheitsjobs zudem mehr abgewinnen. Diese
erweiterten die eigenen Horizonte, meint sie, ließen sie in andere
Arbeitswelten eintauchen, zeigten ihr ihre eigenen Grenzen auf. „Meine
Grenze war das Fließband bei VW“, sagt die Künstlerin: „Man musste das
Leben ganz streng nach dem Takt des Fließbands ausrichten, um die Schichten
zu schaffen.“ Pohl kam beim Jobben auf dem Weihnachtsmarkt an seine
Grenzen. „Man ist da Marktschreier, muss sein Produkt verkaufen, offensiv
auf die Leute zugehen“, sagt er, „und das war für mich ungewohnt,
schwierig, aber es ging immer besser.“ „Du warst doch nur drei Tage da“,
meint Sellig.
14 May 2016
## AUTOREN
Geraldine Oetken
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