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# taz.de -- Deutschland sucht seinen Impfpass: Man könnte mal Gitarre üben
Ausgehen und Rumstehen
von Anne-Sophie Balzer
Freitagabends ruft C. an. Sie haben eine neue Tischplatte, die endlich groß
genug ist für Gäste. Ein Happening mit Lachshäppchen. Die Platte wird
bewundert, ihre Auswahl gelobt, und der Wein schmeckt so gut wie in Porto,
von wo man ihn im Rucksack nach Hause transportiert hat, eingewickelt in
die Boxershorts des Freundes.
Am Morgen danach versucht man den portugiesischen Kater wegzumeditieren,
beim lang gezogenen Oooohm kommt ein bisschen was vom Kaffee hoch. Dann
eben: deutsche Kamille und Netflix. Weil in US-Serien immer unanständig
gegessen wird, googelt man mit wachsendem Appetit Apple-Pie-Rezepte und
landet in der landlustigen, mehlbestaubten Welt der Instagramerinnen, die
sowieso nie essen, was sie fotografieren.
Von da ist es ein Katzensprung zum Artikel: „Goji berries are good for your
tits.“ Mangels geeigneter Backform, Eiern und genug Äpfeln werden aus dem
Pie trockene Kekse. Aus dem Vorhaben, etwas Sport zu machen, wird ein
Schupfnudelabendessen am offenen Fenster.
Abends Treffen mit der einzigen Freundin, die ebenfalls noch immer jede
Liveband einem Abend im Ohm vorziehen würde. Jedes Jahr verliert man ein
paar Freunde. Man sei da halt so ein bisschen rausgewachsen, sagen die und
wechseln ihre Lederjacken gegen glitzernde Blousons und Radlerhosen und ihr
Bier gegen MDMA ein. Und man selbst in der Lederjacke fühlt sich, als hätte
man gerade zum Kindergeburtstag bei McDonald’s eingeladen. Also allein mit
L., die Zwieback dabeihat wegen einer abklingenden
Magenschleimhautentzündung.
Die Wahl fällt auf den Schokoladen und später das Antje Øklesund –
bedrohte Orte für eine bedrohte Ausgeh-Art: rumstehen, den Takt mitnicken
und Flaschengetränke.
Die erste Band heißt Arbeitsgemeinschaft Form und macht Instrumentalmusik
in Siebenachtelhosen. Nicht mal sein Entspannungsbier habe man auf der
Bühne geschafft, ruft der Gitarrist, dessen Schweißränder seine
Aufrichtigkeit bezeugen. Dann spielen Besides aus Polen, die mit ihrer
Musik irgendwo zwischen Sigur Rós, Marschkapelle und Judas Priest liegen
und die eine Talent-Show im Fernsehen gewonnen haben.
Musikalisch virtuos, visuell wenig ansehnlich, wie sie auf der Bühne
posieren: synchrones Headbangen, Gitarren und Bässe phallisch in die Höhe
gereckt. Der Bassist scheint zudem ein unlösbares Problem mit seinem
Undercut zu haben, es ist eine Sisyphos-Angelegenheit, die Haare aus dem
Gesicht zu streichen.
Auf der Damentoilette steht: Welche Werbung sagt dir, dass du nicht schön
bist? Man probiert in funzeligem Licht, schnell noch den neuen
Augenbrauenstift anzubringen, bevor wer reinkommt. Auf dem Weg zur Tante
Antje, die elften Geburtstag feiert, obwohl ihr Ende doch schon nahte,
begegnet man Batman und Superman auf dem Fahrrad. Vielleicht, weil man ohne
Licht und auf der falschen Seite radelt, kucken beide säuerlich.
Flennen heißt die Partyreihe im Antje, und als man hineinstolpert durchs
Gemäuer, ist einem selbst ein bisschen zum Flennen, weil der Kater vom
Vorabend doch wieder aufzieht. Statt gleich heimzugehen, schaut man sich
Typen mit Wollmütze, dicken Brillen und kurzen Ponys an, auf und vor der
Bühne.
Leichtes Kopfnicken ist der einzige Hinweis für den Grad der Begeisterung.
Der Gitarrist von AG Form fällt vor der Antje in einen Nagel. Ob er gegen
Tetanus geimpft ist, weiß er nicht mehr. Deutschland sucht seinen
Impfpass.
Morgen ist Sonntag, und da könnte man eigentlich mal wieder selbst Gitarre
üben.
5 Apr 2016
## AUTOREN
Anne-Sophie Balzer
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