# taz.de -- Delikt Wenn der Tod ein Jahrhundert zurückliegt, kann man ihn plö… | |
Von Geraldine Oetken | |
Als wären alle zusammengeklappt. Als wäre es ein Dornröschenschlaf, aber | |
nein, da ist der Tod. Das Sterben ist schon vorbei. Ein Stativ beugt sich | |
über den Zusammengesackten. Das Treppenhaus zeigt seine Kratzer, die | |
Blutflecken, die auf die Holzvertäfelung gefallen sind. | |
Irgendwie verstörend, irgendwie auch spannend. Noch mal hinschauen. Die | |
Bilder, schwarz und weiß, sehen nach Vintage-Effekt aus. Nur dass da kein | |
Effekt ist, kein Komparse die Filmleiche spielt. Die Fotos stammen aus | |
einem rund hundert Jahre alten New Yorker Polizeiarchiv, die für den | |
Bildband „Wenn es Nacht wird“ zusammengestellt wurden. Joe Bausch, | |
Gefängnisarzt, der im Kölner „Tatort“ den Gerichtsmediziner mimt, hat das | |
Vorwort verfasst. Die Fotografen des Bildbands waren Polizisten. Auf die | |
Fotos sollten sich Ermittlungen stützen. | |
Dadurch, dass die Bilder historisch, alle Zeugen, Ermittler, Täter lange | |
schon tot sind, werden sie wieder zu einer Art Fiktion, Geschichte. Beim | |
Durchschauen entsteht ein seltsamer Sog. „Es ist ein menschliches | |
Bedürfnis, aus dem sicheren Wohnzimmer in Abgründe zu schauen. Wir alle | |
leben ein Stück weit vom Voyeurismus“, sagt Joe Bausch. Faszinierend, sich | |
durch die Leichen zu wühlen, nach Schusswunden Ausschau zu halten und ganz | |
in Ermittlermanier Schlüsse über die Todesursache zu ziehen. Ah …die Lücke | |
zwischen den Haaren ist doch keine Perücke – das könnte ein Axthieb gewesen | |
sein. | |
Oh. Plötzlich ist Schluss mit der Distanz. Man schaut auf die eigene Lust | |
am Abgrund und widert sich etwas an. Ob man schon mal eine Leiche gesehen | |
hat? Im Idealfall nein, nicht. Hoffentlich. Über die eigenen Erinnerungen | |
schieben sich Filmbilder. Aus Gangsterfilmen, vielleicht mit einem Humphrey | |
Bogart. „Wir haben eine diffuse Vorstellung von Gewalt und Verbrechen, | |
angelernt aus Krimis, aus Fiktion. So spielt es sich meist in Wahrheit | |
nicht ab“, sagt Bausch. Aber sind die Aufnahmen nicht auch ästhetisch? | |
Erzählen sie doch von diesem New York der Schatten. Wie in einem Film Noir: | |
Hüte, dunkle Mäntel, Strumpfhalter. Bloß ist da eben kein Film, da ist nur | |
Abgrund. Nur Noir. | |
Wilfried Kaute(Hg.): „Wenn es Nacht wird: Verbrechen in New York | |
1910–1920“. Emons Verlag, Köln 2015, 240 S., 39,95 Euro | |
26 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Geraldine Oetken | |
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