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# taz.de -- „Sterben mit dem Krebs, nicht an ihm“
> Therapie Immer mehr PatientInnen setzen bei der Krebsbehandlung auf
> alternative Methoden, zumindest um die Nebenwirkungen der klassischen
> Therapien zu vermeiden. Die Produkte können aber auch gefährlich werden
> und das Krebswachstum sogar befördern
Bild: Verfechterin der Schulmedizin: Viele andere PatientInnen setzen auch auf …
von Anna Gröhn
An einem Nachmittag im März sitzt Gerd Kramer* in seinem Arbeitszimmer in
Hamburg-Blankenese und spricht über das Sterben. Seit zehn Jahren leidet
der 74-Jährige an Prostatakrebs. In einer ledernen Aktentasche steckt seine
lange Krankheitsgeschichte. Zwischen Daten, Zahlen und Fachbegriffen hat er
in fein säuberlichen Druckbuchstaben kurze Anmerkungen notiert.
„Ende 2004: routinemäßige Untersuchung beim Urologen“, steht da. Und auch
das Ergebnis. Sein PSA-Wert, ein Enzym, das in Krebszellen vermehrt
vorkommt, ist erhöht. Das deute auf ein Prostatakarzinom hin. Damit konnte
Kramer damals, vor zehn Jahren, nichts anfangen. Einzig die Diagnose
verstand er sofort: Prostatakrebs. „Ich habe gedacht, das ist das Ende“,
sagt er.
Sein damaliger Urologe habe ihn sofort zu einer Operation in eine Klinik
schicken wollen. Doch Kramer wollte zunächst verstehen, was mit ihm
geschieht. Kurze Zeit später suchte er einen Onkologen auf. „Er hat mir die
Angst genommen und alles relativiert“, sagt Kramer. Auf der Suche nach der
passenden Therapie konsultierte er verschiedene ChirurgInnen, UrologInnen –
und NaturheilkundlerInnen.
Nach etlichen Gesprächen traf der damals frisch pensionierte Bauingenieur
eine Entscheidung: Er wollte keine Operation und weder eine
Strahlentherapie noch eine Chemo. „Fast jede Therapie hätte Inkontinenz,
Impotenz oder andere gesundheitlichen Probleme zur Folge gehabt“, sagt er.
„Die Aussicht wieder gänzlich gesund zu werden, schien relativ gering.“
Jetzt lebt er mit dem Krebs.
Tatsächlich bringen einige Methoden zur Behandlung eines Prostatakarzinoms
Langzeitfolgen mit sich. So geht aus den Ergebnissen des Barmer GEK
Krankenhausreports aus dem Jahr 2012 hervor, dass knapp 90 Prozent der
Patienten ein Jahr nach dem Eingriff über Erektionsprobleme klagten, 28
Prozent wurden inkontinent und 78 Prozent hatten weniger Interesse an Sex.
„Ich wollte nicht sterben, aber auch nicht meine Lebensqualität einbüßen�…
sagt Kramer. Gerade bei älteren PatientInnen, die keine hohe
Lebenserwartung haben und bei denen der Krebs nicht aggressiv ist, werde
daher abgewogen, ob sich eine onkologische Behandlung lohne, sagt Matthias
Rostock, der Leiter der komplementärmedizinischen Beratung am
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). „Oft warten wir ab und
beobachten, wie sich der Krebs entwickelt.“Diese Strategie nenne sich „Wait
and watch“. Der Krankheitsverlauf wird regelmäßig kontrolliert. „Doch
einfach nur abzuwarten, fällt vielen PatientInnen schwer“, sagt Rostock.
So ging es auch Kramer. Statt sich seinem Schicksal hinzugeben, wollte der
74-Jährige aktiv werden. Bei einer Selbsthilfegruppe für Prostataerkrankte
erfuhr er von der Alternativmedizin – und von dem Nahrungsergänzungsmittel
Prostasol. Das sollte angeblich eine krebshemmende Wirkung haben. Doch in
Deutschland war das Präparat nicht zugelassen. „Ein Lebensmittel darf keine
heilende Wirkung versprechen“, begründet eine Sprecherin des Bundesamtes
für Verbraucherschutz.
Kramer bestellte das Produkt deshalb im Internet bei einem niederländischen
Händler. Zwei Jahre lang habe er das teure Mittel eingenommen, ohne
Rücksprache mit seinen ÄrztInnen zu halten. Tatsächlich sei sein PSA-Wert
rapide gesunken. Doch in der Selbsthilfegruppe klagten viele über
Nebenwirkungen, wie eine plötzliche Thrombose. Kramer setzte die Medikation
ab, sein PSA-Wert stieg schnell wieder an.
„Im Internet werden viele dubiose Therapien und Alternativen beworben, die
für die Gesundheit gefährlich sein können“, warnt auch der Mediziner
Rostock. Dies gelte für Präparate genauso wie für Foren oder
Beratungsstellen. „Das Gefährlichste an alternativen Therapien ist, wenn
sie an Stelle einer kurativen Therapie angewandt werden“, sagt der
Onkologe. Deswegen sei es wichtig, FachärztInnen aufzusuchen. „Anschließend
kann man sehen, was komplementär aus der Naturheilkunde für die
PatientInnen getan werden kann“, sagt er.
„Immer mehr PatientInnen fragen ihre behandelnden OnkologInnen nach
Alternativen“, bestätigt auch Helena Meyer*, die Praxismanagerin einer
onkologischen Praxis in Hamburg. Sie will beim Thema Alternativmedizin
lieber nicht ihren Namen nennen. Viele Ärzte hätten nicht die zeitlichen
Ressourcen und kaum Erfahrung mit der Alternativmedizin, sagt sie. „Um die
Wünsche der PatientInnen wirklich zu kennen, bedarf es einer gewissen Nähe,
die oft aus Zeitgründen nicht in der ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehung
entstehen kann.“
Zudem würden sich viele ÄrztInnen kaum mit komplementärer Medizin befassen
und keine offene Haltung dazu haben. „Von einem Paradigmenwechsel sind wir
leider weit entfernt“, sagt Meyer. Auch auf Nachfragen der taz wollten sich
viele OnkologInnen nicht zum Thema Alternativmedizin äußern.
„Dabei ist es kein Entweder-oder, sondern eine Ergänzung“, sagt Rostock.
Auch wenn die Schulmedizin und die Naturheilkunde scheinbar unvereinbar
seien, müssten sie sich nicht ausschließen. Viele Alternativen können in
klassische Therapien integriert werden. So spielen bei der alternativen
Krebsbehandlung vor allem grundsätzliche Maßnahmen, wie eine
Ernährungsumstellung, ausreichend Bewegung und seelische Ausgewogenheit
eine Rolle.
Dafür griffen ÄrztInnen zunehmend auf fernöstliche Methoden wie Tai Chi,
Yoga oder Akupunktur zurück. Dieser Ansatz wird auch „Mind-Body-Medizin“
genannt. „Er geht von einem untrennbaren Zusammenhang zwischen Geist, Seele
und Körper aus“, sagt Rostock.
Während einer Chemotherapie würden etwa viele PatientInnen an Übelkeit
leiden, wogegen auch modernste Medikamente nicht ankämen. „Mit Akupunktur
oder Pflanzenheilkunde kann unterstützt werden, dass es den PatientInnen
besser geht“, sagt der Onkologe. KrebspatientInnen litten zudem häufig
unter Fatigue, einer starken Erschöpfung. Allein durch regelmäßige Bewegung
würden die Symptome weniger.
Auch die Hamburger Onkologin Sigrun Müller-Hagen weiß über die seelischen
Effekte der Alternativmedizin: „Das Gefühl, etwas für sich selbst tun zu
können, ist wichtig bei einer Krebserkrankung.“ Dennoch gebe es kaum
Studien, die diesen Nutzen bewiesen.
Trotzdem könne die alternative Medizin gefährlich werden. Pflanzliche
Präparate etwa aus Indien oder Brasilien seien oft mit toxischen Substanzen
verschmutzt. In Hamburg sei eine Patientin beinahe an einer Bleivergiftung
gestorben, nachdem sie ein Ayurveda-Produkt genommen habe, sagt die Ärztin.
Sogenannte Krebsdiäten könnten zudem zu Mangelerscheinungen führen oder das
Krebswachstum noch befördern. Gefährlich könne auch die Kombination aus
biologischen und synthetischen Präparaten sein: Johanniskraut, das gegen
Depressionen hilft, beschleunige den Abbau von einigen Krebsmedikamenten.
Deswegen solle „jedes Mittel, das eingenommen wird, mit den OnkologInnnen
abgesprochen werden“, sagt Müller-Hagen.
Kramer blickt in seinem Arbeitszimmer aus dem Fenster. Der anfängliche
Schrecken des Krebses ist mit der Zeit verflogen, sagt er. „Krebs ist nicht
immer ein leidvolles Siechtum.“ In seinem Alter werde er vermutlich eher an
einer Lungenentzündung sterben. In der Selbsthilfegruppe sagen sie immer:
„Wir sterben nicht an dem Krebs, sondern mit ihm.“
19 Mar 2016
## AUTOREN
Anna Gröhn
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