# taz.de -- Hausbesuch Bertrand Freiesleben wollte Konzeptkünstler werden, abe… | |
Bild: Abbildner und Abbilder: Bertrand Freiesleben in seinem Atelier | |
Von Christina zur Nedden (Text) und AmÉlie Losier (Fotos) | |
Berlin, Stadtteil Prenzlauer Berg. Zu Besuch bei dem Bildhauer Bertrand | |
Freiesleben, 48, in seinem Zuhause und Atelier. | |
Draußen: Eine gepflasterte Straße im idyllisch-biederen Prenzlauer Berg. | |
Links ein Eisladen mit gluten- und laktosefreiem Angebot, rechts eine | |
Physiotherapiepraxis und ein Bioladen. Ein Bollerwagen mit fünf Kindern, | |
eins trägt Hasenohren aus Papier, rattert über den Asphalt. Durch den Hof | |
mit Metallrutsche und Sandkasten gelangt man zum Hinterhaus mit den vier | |
Ateliers im Erdgeschoss, wo Bertrand Freiesleben mit seiner Frau und seinen | |
drei Kindern wohnt. | |
Drinnen: Durch eine der beiden Wohnungstüren – Freiesleben hat die linke | |
Wohnung vor ein paar Jahren dazugemietet und die Wand durchbrochen – geht | |
es ins Ess- und Arbeitszimmer. An der Wand gegenüber der Tür stehen eine | |
schwarze Wachsbüste des Berghain-Türstehers Sven Marquardt und die | |
geschmolzene Schauspielerin Esther Esche. „Ein Opfer des heißen Berliner | |
Sommers, aber leicht reparabel“, sagt der Bildhauer. Links ein Cello und | |
ein Notenständer, der einen Laptop trägt. Es läuft ein Video des | |
verstorbenen Dirigenten Claudio Abbado, die Berliner Philharmoniker haben | |
seine Büste bei Freiesleben in Auftrag gegeben. Im Oktober wurde sie | |
enthüllt und steht seither im Südfoyer der Philharmonie. Zwischen den | |
dunkelblauen Porzellantassen mit schwarzem Kaffee auf dem mit einem großen | |
Leder bezogenem Tisch liegt ein menschlicher Beckenknochen, auf dem | |
geometrische Strukturen eingezeichnet sind. | |
Im Atelier: Aufgeräumtes Chaos in einem hellen Raum mit Fenstertüren zum | |
Hof. Überall stehen und liegen halbe und ganze Köpfe und Statuen aus Holz, | |
Ton, Bronze. Im Regal reihen sich Horst Köhler, Egon Bahr und Hans Riegel | |
neben die Abbilder der Familie des Künstlers („Die Köpfe stehen da, wo halt | |
Platz ist“). In der Mitte des Raums der Modellierstuhl auf einem Podest mit | |
Rollen. An der Wand Scheinwerfer und ein rotes Rennrad. Links vom Eingang | |
ein Waschbecken mit Mischgefäßen, gegenüber ein Sofa und ein Tisch. Darauf | |
zwei Köpfe, eine Hand, ein Bildband des italienischen Bildhauers Rembrandt | |
Bugatti und ein Buch über russische Lyrik. | |
Bertrand Freiesleben: Brach mit 23 sein Studium der Bildhauerei in Kiel ab, | |
um Konzeptkünstler in New York zu werden. Dabei bestellte er zum Beispiel | |
bis zu 8.000-mal Postkarten aus London, um einen Raum damit auszukleiden. | |
Am Ende war er aber enttäuscht davon, dass Konzeptkunst oft nur einen | |
Aha-Effekt auslöst, der bei erneuter Betrachtung verfliegt. Zurück in | |
Deutschland, studierte er Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin und | |
machte in den Ferien Skulpturen. Sein erster berühmter Kopf war Walter | |
Scheel. | |
Der Nachname: Freiesleben ist ein Künstlername, denkt man. Ist es nicht. | |
Aber der Name hat seinen Träger zur Kunst geführt. „Er ist ja wie ein | |
Motto“, sagt er. Als Freiesleben fünf Jahre alt war, lief er in Linz in das | |
Atelier eines Malers hinein und seine Eltern kauften ihm einen Druck, der | |
einen Drachen zeigt. Er war beeindruckt, wie man so schön leben kann, nur | |
indem man Bilder verkauft. Den Drachen malte er zu Hause immer wieder nach. | |
Von da an wollte er Künstler werden. Sein Vater war Mikrobiologe und seine | |
Mutter Handwebmeisterin. | |
Köpfe: Rund 200 Köpfe hat er schon gemacht, darunter auch vier | |
Bundespräsidenten. Zu sehen sind viele von ihnen in seinem Buch „Köpfe“, | |
das 2014 erschien. Für einen Kopf braucht Freiesleben im Schnitt sechs bis | |
acht Stunden mit dem Modell. Jeder Kopf kostet gleich viel – ganz gleich, | |
wie lange er braucht. Er modelliert alle Menschen gleich gern („Bloß weil | |
jemand Bedeutungsträger ist, ist er kein interessanterer Mensch“). Trotzdem | |
sei es natürlich spannend, sich von Walter Scheel, Egon Bahr, Klaus von | |
Dohnanyi und Lord Dahrendorf erzählen zu lassen, wie die erste | |
sozialliberale Koalition zustande gekommen ist („Das ist wie ein hoch | |
exklusiver Geschichtsunterricht“). | |
Struktur und Qualität: „Für mich ist es keine Kunst, wenn sie nicht | |
durchdacht und durchgearbeitet ist“, sagt Freiesleben. In seiner Arbeit | |
bemüht er sich immer um die Verdichtung einer Idee, „bis es keinen Platz | |
mehr gibt, eine Nadel reinzustechen“, wie sein Kunstlehrer immer sagte. In | |
der Literatur schafft das seiner Meinung nach Thomas Mann, mit dem er sich | |
als Lübecker viel beschäftigt hat. „Jeder Satz ist eine Verdichtung. Man | |
könnte nichts mehr ändern, ohne das Gefüge zu stören.“ | |
Kunst am Baum: Als Freiesleben 17 Jahre alt war, wurden zwei große Ulmen | |
auf einem Lübecker Kirchhof gefällt. Sie sollten auf der Mülldeponie | |
landen. Er fand die Bäume so schön, dass er sie sich nach Hause liefern | |
ließ und mit 20 Freunden die zwei Meter großen, tonnenschweren Stämme in | |
den Altstadtgarten rollte. Daraus schnitzte er dann „pubertäres Zeug. Man | |
könnte auch sagen: bedeutendes Frühwerk“. Er sagt das und grinst. | |
Über Mimik: „Wir Menschen sind alle baugleich, wir sehen alle gleich aus | |
und trotzdem differenzieren wir über minimale Nuancen, wer eine Person ist | |
und wie es ihr geht. Wir alle können enorm gut Form lesen, sonst würde | |
unsere ganze Mimik und Kommunikation nicht funktionieren. Die meisten | |
Menschen wissen das nicht. Aber das Innere spiegelt sich im Äußeren. Sie | |
sagen dann ‚Der Kopf ist doch fertig‘, obwohl das individuelle Wesen noch | |
gar nicht herausgearbeitet ist.“ | |
Zukunft: Büsten haben es in der Gegenwartskunst schwer, besonders in | |
Deutschland aufgrund der nationalen Geschichte. Trotzdem ist Freiesleben | |
gut im Geschäft. Er hat Anfragen, Garri Kasparow, Christian Wulff und | |
Vitali Klitschko zu modellieren. Er würde gern mehr Ganzkörper-Arbeiten | |
machen. „Am liebsten Akt. Kleidung lenkt ab und ist schnell zu | |
illustrativ.“ | |
Geometrie: „Niemand versteht die menschlichen Formen und ihre Geometrie so | |
umfassend, wie Michelangelo es getan hat“, findet Freiesleben. Das | |
untersucht er als Kunstwissenschaftler, denn als Bildhauer fasziniert ihn | |
die konstruktive und die ästhetische Funktion. Er nennt es „Form als | |
Sprache“. Freiesleben forscht gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für | |
Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen zur Regelflächengeometrie in der | |
Natur. | |
Wann sind Sie glücklich? „Gestern Abend erst war ich glücklich: Ich fuhr | |
mit meinen Söhnen zur Videothek, die Jungs auf den Longboards und ich mit | |
dem Fahrrad hinterher, unser VW-Bus wurde neulich schon wieder geklaut. Und | |
ich dachte nur: War das alles richtig. Glück ist, wenn man im Großen und | |
Ganzen etwas richtig gemacht hat, durchgehalten hat“. | |
Wie finden Sie Merkel? „Ich hoffe, Sie findet mich.“ | |
12 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Christina zur Nedden | |
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