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# taz.de -- Gesellschaft Warum digitale Utopien die Zusammenarbeit schwächen, …
Einer der zurzeit anregendsten politischen Essays kommt von César
Rendueles. In „Soziophobie“ setzt sich der 40-jährige Soziologe mit einer
weit verbreiteten Annahme auseinander: Die oft langsam und häufig hilflos
wirkende Politik könne durch das Internet schneller und demokratischer
werden. Diese gemeinsame Hoffnung von Piraten, Linkslibertären und
Liberalen nimmt Rendueles ernst. Er zeigt aber überzeugend, warum sie sich
nicht erfüllen wird.
Dies tut er so fulminant, dass die spanische Originalausgabe bereits
mehrere Auflagen erlebt hat und von den Lesern der linksliberalen
Tageszeitung El País zum „Essay des Jahres 2013“ gekürt wurde. Rendueles
verbindet eine antikapitalistische Haltung mit einem abgeklärten Wissen um
die Komplexität von Gesellschaften. Seine Kritik an digitalen Utopien
speist sich erkennbar aus der Abneigung gegen einfache Lösungen. Der Essay
kreist um zwei zentrale Begriffe: die titelgebende Soziophobie und den
Cyberfetischismus.
Bei der Soziophobie handelt es sich um eine oft uneingestandene Angst vor
der Gemeinschaft. Vor allem das Bild einer „apokalyptischen Peripherie“,
die von Elend und Terror geprägt sei, erzeugt im Westen eine massive Furcht
vor Veränderung. Das führt bei aller Unzufriedenheit mit dem Status quo zu
politischer Passivität: „Wir haben panische Angst vor den Menschenmassen,
weil die einzige uns bekannte Alternative zum liberalen Individualismus der
Absturz in die Megaslums oder in den Fundamentalismus ist“, schreibt
Rendueles zugespitzt. Am extremsten zeigt sich diese Soziophobie angesichts
der Flüchtlingsbewegungen, bei denen einige gar an eine „Barbareninvasion“
denken.
Wer sich vor der Masse fürchtet, findet heute Zuflucht beim
Cyberfetischismus. Diese Utopie verspricht gemeinsames Handeln, das
trotzdem individuell bleiben könne – die digitale Interaktion. Den
gesellschaftlichen Nutzen der Technik hält sie für unbestritten. Diese sei
uneingeschränkt ein Mittel menschlicher Emanzipation. Obendrein gilt sie
den Cyberfetischisten als „postpolitisch“: Ihre positive Wirkung sei nicht
an politische Veränderungen geknüpft. Damit vernachlässigen die digitalen
Utopisten existierende Machtverhältnisse und verkennen auch, argumentiert
Rendueles, dass vor allem „Ungleichheit und Marktlogik“ einer solidarischen
Gesellschaft im Weg stehen.
## Verbindlich sein
Doch der spanische Soziologe sieht ein noch grundsätzlicheres Problem:
Schon die Grundannahme der Cyberfetischisten ist falsch. Denn das Gegenteil
von Egoismus ist nicht Altruismus, sondern das Befolgen von Normen. Erst
verpflichtende soziale Beziehungen bringen uneigennütziges Verhalten
hervor. Genossenschaften etwa leben von dieser Verbindlichkeit. Doch genau
diese fehlt im Internet, wo die Kooperation gänzlich auf Altruismus
basiert. Schlimmer noch: Die notwendige Verbindlichkeit lässt sich im Netz
gar nicht herstellen. Selbst informelle Regelsysteme können dort nicht
etabliert werden. Entgegen den Intentionen ihrer Anhänger behindern
Netzwerkideologien daher eine wünschenswerte Demokratisierung, da sie
letztlich die Zusammenarbeit schwächen.
Dagegen setzt Rendueles beinahe altmodisch eine Rückbesinnung auf
kontinuierlich gepflegte soziale Beziehungen. Er plädiert für eine „Ethik
gegenseitiger Sorge“. Es gelte, unsere Abhängigkeit voneinander als
Grundlage jeder Politik anzuerkennen.
Bei seiner Kritik schöpft Rendueles aus eigenen politischen Erfahrungen,
etwa mit der Indignado-Bewegung ab 2011 und mit Podemos. Auch bei der
jungen Linkspartei sei die digitale Partizipation nicht mit radikaler
Demokratie zu verwechseln, schrieb Rendueles kürzlich in der Zeitschrift
Nueva Sociedad: Die zunehmende Verselbständigung der Führungsspitze habe
sie jedenfalls nicht verhindern können.
César Rendueles zeigt einen Mut zur starken These, der leider selten
geworden ist. Das Buch bietet daher selbst dann eine gewinnende Lektüre,
wenn man nicht jeder Zuspitzung des Autors folgen mag. Zudem untermauert
Rendueles seine Thesen mit Anekdoten, was ebenso für eine angenehme Lektüre
bürgt wie der klare, pointierte Stil, der in der gelungenen Übersetzung von
Raul Zelik erhalten geblieben ist. Steffen Vogel
César Rendueles: „Soziophobie. Politischer Wandel im Zeitalter der
digitalen Utopie“. Suhrkamp Verlag 2016, 262 S., 18 Euro
5 Mar 2016
## AUTOREN
Steffen Vogel
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