# taz.de -- Zeitforscher über Tage und Stunden: „Natur kennt keinen Takt“ | |
> Wer die Uhrzeit festlegt, hat Macht, sagt Zeitforscher Karlheinz Geißler. | |
> Weil wir fremdbestimmt sind, ärgern wir uns so über die Sommerzeit. | |
Bild: Schätzt eher den Rhythmus als den Takt: Zeitforscher Karlheinz Geißler. | |
taz: Herr Geißler, existiert Zeit objektiv? Oder erschaffen wir sie, indem | |
wir sie messen? | |
Karlheinz Geißler: Wir erschaffen sie durchs Messen. Bevor es die Uhr gab, | |
hat man nicht über Zeit gesprochen. | |
Aber man hat in ihr gelebt. | |
Natürlich. Aber der Begriff „Zeit“ ist ein Konstrukt. Das Werden und | |
Vergehen, die Veränderung in und um uns nennen wir Zeit. | |
Woher kommt das Wort „Zeit“? | |
Von dem Wort Tide, also von den Gezeiten, an denen sich am Meer lebende | |
Völker orientieren. Das spiegelt sich in vielen nordeuropäischen Sprachen. | |
In den romanischen Sprachen ist das Wetter die Maßeinheit. Das französische | |
„temps“ etwa bedeutet „Wetter“ und „Zeit“. | |
Was hat unsere Uhr überhaupt mit dem Takt der Natur zu tun? | |
Die Natur kennt keinen Takt. Ihr Zeitmuster ist der Rhythmus. Auch das | |
menschliche Herz schlägt nicht im Takt, sondern rhythmisch. Rhythmus | |
bedeutet: Wiederholung mit Abweichungen. | |
Und der Mensch hat eine Uhr gebastelt und künstliche Symmetrie | |
draufgesetzt. Tut man der Natur damit nicht Gewalt an? | |
Ja. Unser Dilemma ist, dass wir ein rhythmisches System vertakten. Das | |
erzeugt auch ein ökologisches Problem: Sie leiten in einen See Abwässer | |
ein, und zwar in bestimmten Intervallen, nach der Uhr. Sie muten einem | |
System, das sich rhythmisch regeneriert, eine vertaktete Belastung zu, bis | |
es kippt. | |
Wann kippt der Mensch? | |
Beim Herzinfarkt. Der ist nichts anderes als die Vertaktung des Herzens: | |
die Störung des Herzens durch zu viel von der Uhr bestimmte Aktivität. Der | |
Herzschrittmacher versucht es dann wieder in den Rhythmus zu bringen. Nicht | |
in den Takt. | |
Vertaktung bedeutet also Entfremdung von der Natur. | |
Ja. Vertaktung ist ein totes Mittel, die Uhr hat ein totes Muster. Dieses | |
tote Muster wird einem lebendigen System zugemutet. | |
Welches wäre die Alternative? | |
Keine Uhren! Und genau das machen wir zurzeit. Die sogenannte Postmoderne | |
zeichnet sich dadurch aus, dass wir uns von den Standard-Zumutungen der Uhr | |
wieder lösen und den Takt außer Kraft setzen: Da wird etwa die Tagesschau | |
nach dem Programm – der Vertaktung – um 20 Uhr geliefert. Aber Sie können | |
die Sendung nach der Erstausstrahlung auch in der Mediathek schauen, wann | |
Sie wollen. Dadurch konsumieren Sie mehr, das dient der Wirtschaft, und es | |
schließt sich der Kreis. Denn mit der Uhr wurde der Kapitalismus erfunden. | |
Ist das historisch verbürgt? | |
Ja. Die Uhr, die doppelte Buchführung, die erste Bank – das alles wurde | |
Anfang des 14. Jahrhunderts in Norditalien erfunden. Die Uhr führte zum | |
Fall des Zinsverbots, die doppelte Buchführung war die kalkulatorische | |
Grundlage für die Verrechnung von Zeit, und die ersten Banken verrechneten | |
ganz konkret Zeit in Geld. Gleichzeitig überlegten die ersten Philosophen | |
der Renaissance, ob man die Zeit selbst in die Hand nehmen könnte. Bis | |
dahin hatte die Zeit ja Gott gehört, so die mittelalterliche Vorstellung. | |
Aber auch das Mittelalter kannte Kalender. | |
Ja, aber das waren Heiligenkalender, keine Datumskalender. | |
Der überlieferte julianische Kalender der alten Römer war doch kein | |
Heiligenkalender. | |
Julius Cäsar hat den Kalender gemacht, um die römischen Feste zu | |
organisieren. Und die Monate waren nach römischen Herrschern benannt. | |
Was Ihre These stützt, Zeit sei ein Herrschaftsinstrument. | |
Ja, natürlich. Als die Zeit Gott gehörte, war Gott Besitzer der Zeit; die | |
Menschen haben sich nach den kirchlichen Festen gerichtet. Später haben die | |
Herrschenden das übernommen und mit Hilfe der Uhr Ordnung geschaffen. | |
Wirklich? | |
Ja, so ist es bis heute! Nachdem Putin die Krim annektiert hatte, stellte | |
er als erstes deren Zeit auf die Moskauer Zeit um. Wer über Raum und Zeit | |
herrscht, hat die Macht. | |
Auch über die Sommerzeit. | |
Ja. Wenn sie Ende März wieder eine Stunde geklaut bekommen, regen sich | |
viele auf, weil sie merken, dass jemand anders über ihre Zeit herrscht. Die | |
Bundesregierung hat ein Zeitgesetz und behält sich vor zu bestimmen, wie | |
viel Uhr es ist. | |
Und die Forscher erfinden ständig genauere Uhren. Was verbirgt sich hinter | |
dem Bedürfnis, Zeit in den Griff zu bekommen? | |
Ein Herrschaftsanspruch: Ich möchte die Zeit im Griff haben, um nicht mehr | |
sterblich zu sein. | |
Aussichtslos. | |
Trotzdem: In allen Todesanzeigen steht heutzutage eine Ursache, die man | |
hätte vermeiden können. Da steht nicht mehr „Altersschwäche“, denn das w… | |
bedrohlich. | |
Wohingegen das Schaltjahr einen geschenkten Tag beschert. | |
Was heißt geschenkt: Das ist eine Manipulation, ein Eingeständnis, dass man | |
die kosmischen Rhythmen nicht abbilden kann. | |
Dann sollte der Mensch ein rhythmisches Gerät erfinden. | |
Ja. Oder die Uhr bleiben lassen. Die bayerischen Bergbauern orientieren | |
sich an den Bergen. Da gibt es den Elf-Uhr-Kogel, den Zwölf-Uhr-Kogel, den | |
Abendkogel. Die Sonne steht nicht jeden Tag gleich, aber wenn sie an einem | |
bestimmten Punkt steht, ist es eben zwölf Uhr. Das ist rhythmisch. | |
29 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## TAGS | |
Sommerzeit | |
Zeitumstellung | |
Sommerzeit | |
Zeitumstellung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Der Wechsel zur Sommerzeit: Wer an der Uhr gedreht hat | |
Die Sommerzeit wird 100 Jahre alt. Die Zeitumstellung ist kriegerisch, | |
ungesund und unsinnig. Warum gibt es sie eigentlich noch? | |
Gutachten zur Zeitumstellung: Kritiker bestätigt | |
Die Energieeinsparungen durch die Umstellung seien zu vernachlässigen, sagt | |
ein Bundestagsgutachten. Nächste Woche will sich das Parlament damit | |
beschäftigen. |