| # taz.de -- Im Anwohnerpark | |
| MANJA PRÄKELS | |
| ## Teil 24: Fallen oder Fliegen | |
| Mama, warum heißt es Schneefall und nicht Schneeflug?“ „Na vielleicht, weil | |
| der Schnee nicht freiwillig fällt.“ | |
| Von der Schule fliegt man auch nicht freiwillig.“ | |
| Na, je nachdem …“ | |
| Die Jungs kicherten. Das Auto brummte geduldig. Sie standen im Stau. Der | |
| Verkehrslage zum Trotz war Anne erleichtert: Die Söhne hatten aufgehört zu | |
| fremdeln, sich am Morgen in altvertrauter Manier in die Haare bekommen und | |
| am Frühstück herumgemäkelt. Nachdem sie die beiden in der Nähe der Schule | |
| mit Luftküssen verabschiedet hatte, bog Anne in die kleine Straße nördlich | |
| des Alexanderplatzes ein. | |
| Auch hier war alles beim Alten: kein Parkplatz weit und breit. Stattdessen | |
| Umzugsautos und das Lärmen der Baustellen, die die Mietshäuser in mondänes | |
| Eigentum verwandelten. Nura winkte ihr aus dem Laden entgegen. Sie hatte | |
| bereits die Schilder mit den Tagesangeboten ausgepreist. Ein guter Tag. | |
| Ein Hetzer namens Hetze! | |
| Sachsen bleibt Sachsen! | |
| Tote in Damaskus! | |
| Ukraine schickt Krimtatarin zum ESC! | |
| Die Schlagzeilen des Tages hatten ihm den Appetit verdorben. Heiner Müller, | |
| der weder Heiner Müller hieß noch mit dem Werk des Dramatikers vertraut | |
| war, wohl aber mitbekommen hatte, dass sie ihn so nannten, zog an seiner | |
| Zigarre und dachte nach. Seine Mutter, die harte Ostpreußin, hatte sich | |
| seinerzeit ausgerechnet in den Fleischerssohn verguckt, einen untüchtigen | |
| Narkoleptiker - der guten Partie wegen und weil er so ein hübsches | |
| Mannsbild gewesen war. Heiner Müller bezweifelte so etwas wie Urteilskraft | |
| bei Menschen. | |
| Als junger Karl-Marx-Städter war er einmal davon überzeugt gewesen, dass | |
| eine künstliche Intelligenz das Kommando in naher Zukunft übernehmen würde, | |
| also jetzt. Die Idee hatte ihn im Gleichgewicht gehalten. Doch bislang | |
| waren nur ein paar Roboter ins All geflogen, einer konnte gar einen | |
| Großmeister im Schach besiegen, sonst blieb es auf Erden bei Hass und | |
| Idiotie. | |
| Unvermittelt trat eine dürre Gestalt mit Piepsstimmchen und gefrorener Nase | |
| an den Tisch und riss ihn aus seinen Gedanken: „Entschuldigung, hätten Sie | |
| einen Augenblick Zeit für eine kleine Umfrage? Es geht um die | |
| gesundheitsfördernde Wirkung von roten Beeren.“ Heiner Müller beschloss im | |
| Büro abzusagen und bestellte einen ökologisch einwandfreien Frühschoppen. | |
| Seit ihre beste Tresenkraft Lale ausgefallen war, hatte sich Hildegard | |
| vergeblich um Ersatz bemüht. Nun lag sie mit Fieber danieder. Das | |
| blaulichtmusste geschlossen bleiben. Die Freunde der Trunklust blieben ohne | |
| Obdach. Mist! Schniefend und triefend lag die Wirtin im Bett, schaltete | |
| sinnlos durch die Kanäle und tat sich selber leid. Wenigstens war sie der | |
| geplanten Gegenüberstellung entgangen. Noch einmal erinnerte sie sich an | |
| die Nacht der Explosion, als plötzlich Schnee und Asche durch die Straße | |
| geschwebt waren, an Fritzes griff nach ihrer Hand und Sprottenpeters | |
| Wutanfall, als er begriffen hatte, was geschehen war. | |
| Selbst wenn es denen tatsächlich gelungen war, den Brandstifter zu fassen: | |
| Wer steckte denn dahinter? Diese Starsky-und-Hutch-Figuren von neulich | |
| hatte das überhaupt nicht gejuckt. Kein Interesse. Ein Niesanfall | |
| erschütterte Glieder und Gedanken. Hildegard zwang sich, die Augen zu | |
| schließen und an etwas Schönes zu denken. Zum Beispiel das Meer. | |
| Kapuzen und Regenschirme zogen eilig am Laden vorbei. Wind peitschte an die | |
| Scheiben. Die Kunden gaben sich, pitschnass, die Klinke in die Hand. Anne | |
| staunte weiterhin: Der Heiner-Müller-Typ hatte sich noch nie auf ihr | |
| Territorium gewagt, sogar die sommerlichen Sitzgarnituren vor ihrem | |
| Bioladen gemieden und nun besetzte der Mann seit Stunden eines ihrer | |
| kleinen Café-Tischchen, mümmelte an einer erkalteten Zigarre und starrte, | |
| eine ungelesene Zeitung vor sich liegend, Löcher in die Luft. War das | |
| blaulichtheute zu? | |
| Nura hatte schon versucht, ihn durch unverblümtes Tischabwischen zum Gehen | |
| zu bewegen. Doch er war einfach sitzen geblieben, hatte einen Wein nach dem | |
| anderen geordert und weiter Trübsal geblasen. Nun ging Anne in die | |
| Offensive: „Verzeihung, wollen Sie die Rechnung oder darf es noch was | |
| sein?“ Blicklos stand der Gast auf, ließ einen zerknitterten Schein auf den | |
| Tisch fallen und ging. Vor der Tür zündete er sich seine Zigarre an, paffte | |
| genüsslich, und schritt, umkränzt von kleinen Rauchwölkchen, hinfort. | |
| „Blödes Arschloch.“ | |
| „Guuutes Triiienkgeeeld!“ | |
| Das Mädchen Nura puffte ihrer Chefin in die Seite. Ganz offensichtlich war | |
| sie Schlimmeres gewohnt. Es klingelte Sturm an ihrer Tür, doch Hildegard | |
| blieb liegen. Nichts konnte so wichtig sein. Bei laufendem Fernseher war | |
| sie in einen tiefen Schlaf gesunken und doch fühlte sie sich schlechter als | |
| am Morgen. Sie zog das Kissen über den Kopf und hoffte, dass es | |
| vorüberginge. Das Klingeln. Das Kranksein. Der Winter. Währenddessen stand | |
| Charlotte Heinrich, geborene Roth, um Haltung ringend vor dem Eingang des | |
| Wohnhauses. Bienchen knurrte heiser, als eine Horde Jungs mit einem Fußball | |
| vorbeijagte. | |
| „Der ganze Weg umsonst!“ | |
| Meckernd zog Oma Heinrich ihren Pudel heimwärts. | |
| „Und das in unserem Alter!“ | |
| Fritze betrachtete den Schachkumpan, wie einen liebgewonnenen Hundefreund, | |
| der zwar müffelt, doch ein treues Herz besitzt. Er hatte ihn vorm | |
| blaulichtabgefangen und „auf einen Tee“ zu sich nach Hause eingeladen. Nach | |
| wenigen Schlückchen war der einfach umgefallen. Nun lag sein Kumpel | |
| ausgestreckt auf der alten Couch und zuckte mit den Armen. Gleich würde er | |
| abheben. | |
| Der Mann, der nicht Heiner Müller war, flog mit weit aufgespannten Flügeln | |
| hoch über der Stadt. Dort zog er seine Kreise, Rauch entstieg seinen | |
| aufgeblähten Nüstern. Er nutzte den Aufwind, stieß durch die Wolkendecke | |
| und glitt endlich, umgeben von der Sterne Pracht, durch die klaren Lüfte. | |
| Mondlicht beschien sein Schuppenkleid, und Feuer atmend lachte der Drache: | |
| „Auf nach Sachsen!“ | |
| 25 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Manja Präkels | |
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