# taz.de -- „Wir haben das nicht ernst genommen“ | |
> 1969 verübte eine linksmilitante Gruppe einen Anschlag auf das Jüdische | |
> Gemeindehaus in Berlin. Eine Einzeltat? Oder gab es bei den 68ern „linken | |
> Antisemitismus“? Und warum wird alles so schleppend aufgearbeitet? Ein | |
> Gespräch mit Tilman Fichter, Bruder des Attentäters und damals SDS-Kader | |
INTERVIEW PHILIPP GESSLERUND STEFAN REINECKE | |
taz: Herr Fichter, Sie haben Ihrem Bruder Albert, der 1969 eine Bombe ins | |
Jüdische Gemeindezentrum in Berlin gelegt hatte, seinerzeit zur Flucht | |
verholfen … | |
Tilman Fichter: … ja, zweimal, weil er nicht begriffen hatte, dass er | |
verfolgt wurde. | |
Warum haben Sie ihm geholfen? | |
Weil er in einer Wohngemeinschaft mit Dieter Kunzelmann lebte und ich | |
Kunzelmann für einen schwierigen und unerfreulichen Zeitgenossen hielt, der | |
keinen positiven Einfluss auf meinen Bruder hatte. | |
Was meinen Sie mit „schwieriger und unerfreulicher Zeitgenosse“? | |
Wir hatten Kunzelmann 1967 aus dem SDS herausgeschmissen samt seiner | |
Kommune I, weil er auf Flugblättern immer die Gegenposition zum SDS | |
formuliert hatte – mit der Begründung: Sie seien Antiautoritäre und würden | |
sich an keine Beschlüsse halten, obwohl es Beschlüsse von | |
Vollversammlungen, also relativ demokratische Beschlüsse waren. Das hing | |
auch mit seinen Aktionen zusammen. Er hat beispielsweise auf dem | |
Kurfürstendamm Pappmaché-Figuren von Walter Ulbricht und dem | |
US-Vizepräsident Hubert Humphrey verbrannt. Das hat kein Mensch verstanden. | |
Das war wirr. Aber er empfand sich ja in erster Linie als Künstler, nicht | |
als politischer Mensch. | |
Wo lebte Kunzelmann 1969? | |
In einer getarnten Wohnung der Tupamaros West-Berlin, die aber jeder in der | |
Szene kannte. Es war die Zeit, in der sich die außerparlamentarische | |
Opposition aufspaltete: Christian Semler gründete die KPD/AO, Joscha | |
Schmierer, der unter Rot-Grün in der Planungsabteilung des Auswärtigen Amts | |
gearbeitet hat, gründete den KBW, den Kommunistischen Bund | |
Westdeutschlands, in Heidelberg. Die Trotzkisten gründeten ihre | |
Kleinstparteien. | |
Warum fanden Sie es für Ihren Bruder gefährlich, mit Kunzelmann in einer WG | |
zu wohnen? | |
Es stellte sich ja schnell heraus, dass Kunzelmann ein Antisemit ist. | |
Wann stellte sich das für Sie heraus? | |
Im November 1969 mit seinem ersten offenen Brief, den wir in unserer | |
linksradikalen Zeitschrift 883 dokumentiert haben, den „Brief aus Amman“. | |
Damals habe ich diesen Brief noch schöngeredet und gesagt, das sei linker | |
Antisemitismus. Wenn ich mir das heute anschaue, dann muss ich sagen: Er | |
ist ein Antisemit. Der zentrale Begriff war bei Kunzelmann: „Kampf“ – nic… | |
etwa „Emanzipation“. Er schrieb: „Palästina ist für die BRD das, was f�… | |
die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen. Warum? Der | |
Judenknax.“ Er argumentiert also: Weil sich die Linke mit den Ursachen von | |
Auschwitz auseinander setzt, begreift sie nicht, dass der wirkliche Feind | |
in Israel sitzt und man sich mit den Palästinensern solidarisieren muss. | |
Das war ein völliger Bruch in der sehr komplizierten Debatte der | |
westdeutschen Linken, die einerseits die israelische Politik kritisierten, | |
andererseits sich aber immer darüber im Klaren waren, dass die Situation in | |
Palästina nach 1937/38 davon geprägt war, dass die Zionisten | |
hunderttausende europäischer Juden versucht haben aufzunehmen. Da gab es | |
weder weiß noch schwarz. Diese differenzierte Analyse hat Kunzelmann immer | |
abgelehnt. Damit hat er mit der analytischen Tradition des SDS gebrochen | |
und versucht, Teile der westdeutschen Linken in einen Partisanenkampf gegen | |
die Juden in Deutschland zu führen. | |
Ihr Bruder Albert Fichter berichtet, Kunzelmann habe die ganze Zeit von den | |
„Scheißjuden“ geredet – auch ihnen gegenüber? | |
Mir gegenüber nicht. | |
Daniel Cohn-Bendit soll er mit den Worten angegriffen haben: „Du bist | |
nichts anderes als ein kleines Judenschwein.“ | |
Das kann ich mir vorstellen. Ich weiß nur, dass Kunzelmanns Texte von | |
damals, wenn man sie heute analysiert, nicht linker Antisemitismus sind, | |
sondern Antisemitismus. | |
Warum haben das damals offenbar nur wenige Linke verstanden? | |
Die Leute waren teilweise sprachlos! Die waren überhaupt nicht darauf | |
vorbereitet. Das wäre so, als würde heute eine Gruppe von jungen Männern in | |
der taz aufstehen und behaupten: Die Unterdrückung der Frauen ist | |
fortschrittlich. Da würdet ihr Wochen brauchen, um zu begreifen, was da bei | |
euch in der Redaktion vorgeht – und so war es bei uns auch. Wir haben das | |
am Anfang gar nicht geglaubt, was der da erzählt hat. Dass ich als einer | |
der Ersten gesagt habe, das ist linker Antisemitismus, damit habe ich mir | |
keine Freunde gemacht. | |
Wie war 1969 die Reaktion der linksradikalen Szene auf den versuchten | |
Anschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum? Kunzelmann hat, wie Wolfgang | |
Kraushaar zutreffend zeigt, mit dieser Tat versucht, seine | |
Meinungsführerschaft bei den Militanten zurückzuerobern … | |
… ja, und damit ist er völlig gescheitert. In Kunzelmanns Tagebuch, das | |
jetzt das Reemtsma-Institut hat, steht – darüber wird er sich ärgern, weil | |
es wegen seiner eigenen Eitelkeit dorthin gelangte – drin: Er sei tief | |
verzweifelt, weil die deutsche Linke nicht bereit sei, seine Kampagne | |
zusammen mit der PLO gegen die Juden zu unterstützen. Kunzelmann hat nie | |
unterschieden zwischen den Juden in der Diaspora und dem Staat Israel. | |
Damit war er auch bei den Linksradikalen völlig isoliert. | |
Die Tatsache, dass man Juden in Deutschland als Israelis behandelte, und | |
auch das Datum, der 9. November lassen doch keinen Zweifel, dass es sich um | |
eine eindeutig antisemitische Tat handelte. Die linksradikale Szene ist | |
Kunzelmann keineswegs gefolgt – aber sie hat diesen kristallklaren | |
Antisemitismus kaum erkannt. Warum nicht? | |
Es ist ganz erstaunlich: Damals ist diese Bombenattrappe nicht besonders | |
ernst genommen worden. Meiner Erinnerung nach war ich einer der ganz | |
wenigen, der mit einem Artikel „Was ist Antisemitismus?“ in der 883 darauf | |
reagiert hat. Es war lange Zeit kein Thema in der Linken. Ich sage es mal | |
ein wenig zynisch: Die Freunde der DDR im Extra-Dienst haben wie immer | |
gesagt: Es waren die Rechten. Das war deren Patenterklärung für alles, was | |
irgendwie ein bisschen komplizierter war. Und in dieser Angelegenheit hat | |
offensichtlich die antiautoritäre Linke sich mit dieser Argumentation | |
zufrieden gegeben. | |
Und warum das Datum, der 9. November, der Jahrestag des Pogroms von 1938? | |
Mein Bruder schreibt ja in seiner „Beichte“ im Kraushaar-Buch, dass er | |
damals gar nicht wusste, was der 9. November historisch bedeutete. Er war | |
wohl so unter LSD-Einfluss – da hat er das gar nicht zur Kenntnis genommen. | |
In dieser Kommune ist nicht analytisch und historisch reflektiert | |
miteinander geredet worden, sondern der Kampf war der Lebensinhalt. Wenn | |
man das heute liest, denkt man, dass es ja schon einmal, in den | |
30er-Jahren, eine Bewegung in Deutschland gab, für die der Kampf auch das | |
Zentrum des Denkens war. | |
Die Bombe kam vom Berliner Verfassungsschutz. Wussten Sie das damals? | |
Ja, mir war klar, dass die Bombe aus dem Bestand des | |
Verfassungsschutzagenten Peter Urbach stammte. Kunzelmann hat sich | |
ausstatten lassen mit defekten Bomben aus den Beständen des | |
Verfassungsschutzes. Außerdem handelte es sich um eine Bombenattrappe. | |
War die Bombe im Jüdischen Gemeindezentrum eine Attrappe? Es war doch eher | |
eine Bombe, die nicht explodiert ist? | |
Das nenne ich eine Attrappe: Sie konnte nicht explodieren. | |
Aber nur wegen technischen Versagens. | |
Alle Bomben von Urbach hatten diesen technischen Defekt. Es waren Bomben, | |
die nicht explodieren konnten. Eine Attrappe ist ja auch später im | |
Eisschrank von Kunzelmann gefunden worden. Der Verfassungsschutz hat | |
unverantwortlicher Weise versucht, diese Dinger in die Studentenbewegung | |
hineinzuschmuggeln. Aber immerhin waren die Führungsoffiziere von Urbach | |
sich darüber im Klaren, dass sie keine scharfen Bomben einschleusen wollten | |
– anders als ein paar Monate später, als über Peter Urbach die erste | |
Generation der RAF mit scharfen Waffen ausgestattet wurde. | |
Ist das nachgewiesen? | |
Ja. Aber bis heute ist nicht aufgedeckt, wer hinter dem Versuch stand, die | |
Studentenbewegung zu bewaffnen. Peter Urbach lebt ja heute in den USA, | |
abgeschirmt und unter falschem Namen. Der könnte es zumindest partiell | |
aufklären. Aber der Versuch ist nie gemacht worden. | |
Uns ist trotzdem noch unklar: Warum hat die Linke damals das Skandalöse | |
dieser Tat nicht begriffen? | |
Wir waren damals in einer zweifachen Herausforderung: einerseits der | |
Abwehrkampf gegen den US-Krieg in Vietnam. Es gab fast tagtäglich | |
Demonstrationen – das kann man sich heute kaum vorstellen. Es war eine | |
ständige Mobilisierung. Andererseits hatte sich die Außerparlamentarische | |
Opposition gerade gespalten. Ich bin in der Fehleinschätzung, dass man | |
diese Neue Linke noch zusammenhalten kann, in die Redaktion von 883 | |
eingetreten. Das war völlig idealistisch – und diesen Versuch habe ich im | |
Frühjahr 1970 abgebrochen, als ich merkte, dass ich da zum nützlichen | |
Idioten dieser Stadt-Tupamaros wurde. Der Mann, dem informell 883 gehörte, | |
war Dirk Schneider, der später als Einflussagent der Stasi im | |
Grünen-Parteivorstand enttarnt wurde. | |
Die ständige Mobilisierung war also ein Grund für die Nichtwahrnehmung | |
dieses antisemitischen Anschlags. Aber warum dauerte es noch fast | |
Jahrzehnte, bis das in der Linken diskutiert wurde? | |
Es war tabu. | |
Was war tabu? | |
Dass es so etwas wie Antisemitismus in der Linken gibt. Die Linke, weil sie | |
Opfer war, weil sie zusammen mit den Juden in den KZ gelitten hat, hat es | |
nie für möglich gehalten, dass in ihren Reihen dieses Problem auch | |
existiert. Ich wurde damals sehr kritisiert, auch von Genossinnen und | |
Genossen, die ich noch heute sehr schätze. Die sagten: „Tilman, du musst | |
das nicht so in den Vordergrund stellen. Wir müssen sehen, dass wir das | |
unter uns ausmachen.“ Dass ich damit an die Öffentlichkeit, an die linke | |
Öffentlichkeit gegangen bin, hatte zur Folge, dass gesagt wurde, ich sei | |
ein Grenzgänger, ich würde die innerlinke Solidarität brechen und ein Fass | |
aufmachen, das wir unter uns klären müssen. Es ist nur nie geklärt worden. | |
Das war das Problem. | |
Aber warum hat der SDS, der vor 1967 proisraelisch, ja teilweise | |
philosemitisch war, mit so viel Ausblendung auf diese antisemitische | |
Verirrung reagiert? | |
Nein, die Frage unterstellt etwas Falsches. Der SDS hatte immer sehr gute | |
Kontakte zu linkszionistischen Gruppen, schon lange vor 1969. Der SDS | |
fühlte sich als Unterstützergruppe für die Linkszionisten in Israel, die | |
gegen die israelische Besatzungspolitik seit 1967 waren. Bei einem | |
wichtigen SDS-Kongress 1967 haben Heidelberger Genossen eine Resolution | |
vorgelegt, dass der SDS alle Kontakte nach Israel abbricht. Ich war dabei! | |
Da hat Rudi Dutschke interveniert und gedroht, wenn das abgestimmt werde, | |
wenn die Maoisten da eine Mehrheit mobilisieren, dann würden die Berliner | |
ausziehen. Er sollte nicht zur Abstimmung kommen. Rudi war da ganz | |
eindeutig. Er war mit linkszionistischen Kreisen befreundet und hatte keine | |
antisemitischen Positionen. Dieser Antrag ist nicht abgestimmt worden. Die | |
Sache wurde vertagt. Dann kam der Anschlag auf Rudi. Danach fehlte uns der | |
reflektierteste Freund der israelischen Linken. Solange der SDS noch | |
funktionierte, hat er verhindert, dass die westdeutsche Linke auf einen | |
klar antiisraelischen Kurs gegangen ist. | |
Einige dieser SDS-nahen Akteure von damals – Günther Maschke, Reinhold | |
Oberlercher, Horst Mahler und Bernd Rabehl – sind heute mehr oder weniger | |
manifest Antisemiten. | |
Oder völkisch zumindest. | |
Liegt, wenn man sich diese Biografien anschaut, nicht der Befund nahe, dass | |
es in der Bewegung einen lange verleugneten antisemitischen Unterstrom gab? | |
Ob das bei Mahler und den anderen schon immer angelegt war, weiß ich nicht, | |
dafür kannte ich sie zu wenig. Es sind fünf Leute von etwa 3.000, dem | |
harten Kern des SDS. Es ist erschreckend, dass es Biografien wie die von | |
Mahler in der Neuen Linken überhaupt gibt. Aber wir reden hier über eine | |
winzig kleine Minderheit in der damaligen Studentenbewegung, das muss man | |
im Auge behalten. | |
Hat der SDS damals Fehler gemacht? | |
Die Frage ist berechtigt. Ich würde sagen, es war ein Fehler, dass Rudi | |
1967 nicht darauf gedrungen hat, die Besatzungspolitik der Israelis und den | |
wachsenden Antisemitismus in Teilen der Studentenschaft auf der | |
Delegiertenkonferenz inhaltlich zu diskutieren. Stattdessen haben wir das | |
Problem mit taktischen Winkelzügen von der Tagesordnung weggedrückt. Wir | |
haben dieses Thema eines heimlichen Antisemitismus in der deutschen Linken | |
überhaupt nicht ernst genommen. Darin liegt ein Versagen. | |
Die 68er-Bewegung ist unter anderem entstanden, weil man das Schweigen in | |
den Familien über die Taten der Väter ablehnte. Dann passiert 1969 eine | |
antisemitische Tat aus den eigenen Reihen, oder genauer: von den Rändern | |
der zerfallenden Bewegung – und man ist offenbar so beschäftigt mit der | |
Revolution oder Vietnam, dass man diese Tat übersieht? | |
Ja. | |
Der Selbstwiderspruch bleibt. Wir müssen uns von der Idee trennen, dass die | |
zweite Generation nach dem Holocaust, die Kinder der Täter, einfach das | |
Erbe ihrer Eltern mit einer Distanzierungsgeste hätten abschütteln können. | |
Es gab ein unbewusstes Delegationsverhältnis zwischen Eltern und Kindern – | |
der ewige Vergleich Israels mit den Nazis war ja vielleicht auch ein | |
unbewusster Versuch, die Schuld der Eltern zu relativieren … | |
Vielleicht war das bei manchen so. | |
Manche Sozialpsychologen lesen sogar die Straßenschlachten 1968 als Versuch | |
der Kinder, die Gewalterfahrung der Eltern nachzuinszenieren? Ist da was | |
dran? | |
Ich finde, diese Spekulationen führen nicht weiter. Damit kehrt man die | |
Fakten um. Meine Erfahrung war: Die deutsche Gesellschaft war nach 1945 | |
voller Gewalt. Die Gewalt ging nicht von uns aus. Die SDS-Studenten, die | |
zum Beispiel im Januar 1952 in Freiburg gegen die neuen Filme Veit Harlans, | |
der im Nationalsozialismus den Hetzfilm „Jud Süß“ gemacht hatte, | |
demonstrierten, sind übel zusammengeschlagen worden. Ein weiteres Beispiel: | |
Am 2. Juni 1967 gingen wir noch mit Schlips und Kragen als ordentliche | |
Studenten zur Anti-Schah-Demo, wo wir von der Polizei gejagt wurden. Es ist | |
ein Wunder, dass es da nicht drei oder vier Tote gab und nur einer von uns, | |
Benno Ohnesorg, erschossen wurde. Da war Gewalt in der Gesellschaft. Die | |
war in der Berliner Polizei und Bevölkerung. Das war damals noch geradezu | |
eine Hassgesellschaft. Als wir gegen die US-Vietnam-Politik demonstrierten, | |
hatten wir 80 Prozent der Bevölkerung gegen uns. Das können Sie sich gar | |
nicht mehr vorstellen! Das war ein Spießrutenlauf für uns Studenten. | |
Haben Sie angesichts dieser Gewalt damals, wie viele, damit geliebäugelt, | |
in den Untergrund zu gehen? | |
Nein. Ich war etwa zehn Jahre älter, hatte Abitur auf dem zweiten | |
Bildungsweg gemacht, war schon zur See gefahren. Mein Lebensmotto war: | |
Rebellion ist gerechtfertigt, aber wir werden verlieren. Man kann in einer | |
Minderheitenposition nicht die Aufklärung gegen eine Mehrheit durchsetzen. | |
Das war das Thema meines ständigen freundschaftlichen Streitgesprächs mit | |
Rudi Dutschke. Denn darüber konnte ich eigentlich nur mit ihm reden. Rudi | |
hat meine Position verstanden, aber hielt sie für falsch. Die Mehrheit der | |
Gesellschaft wollte Mitte der 60er-Jahre nicht über das Tabu des | |
Völkermordes nachdenken. Allerdings hat die Studentenbewegung kulturell | |
viel mehr Erfolg gehabt, als ich es damals für möglich gehalten habe. | |
Sie selber wollten also nie in den Untergrund? | |
Nein, ich habe immer gegen die Selbst-Illegalisierung angeschrieben – | |
ebenso gegen die RAF und die Mordthese nach dem Tod ihrer ersten Generation | |
in Stuttgart-Stammheim. Der Selbstreflexionsprozess in der Linken hat lange | |
auf sich warten lassen. Die deutschen Linke war lange so mit dem Rücken an | |
der Wand, dass sie nicht über sich selbst nachdenken konnte. | |
Das gilt auch für das Verhältnis der Linken zu Kunzelmann. Eigentlich hätte | |
nach 1969 ja klar sein müssen, dass er ein Antisemit war. Trotzdem war er | |
in den 80ern Abgeordneter für die Alternative Liste (AL) im Berliner | |
Landesparlament. Warum glaubte die AL, dass sie mit Kunzelmannn Wahlen | |
gewinnen kann? | |
Weil die AL das Thema nicht ernst genommen hat. Als ich 1984 erneut über | |
Linke und Antisemitismus zu diskutieren versuchte, ist es folgenlos | |
geblieben. Jetzt versucht es Kraushaar wieder – und ich fürchte, es wird | |
wieder folgenlos bleiben. Ich habe Kunzelmann mit anderen aus dem SDS | |
ausgeschlossen. Aber ich muss gestehen, ich habe ihn nie wirklich ernst | |
genommen. Ich habe ihn wirklich immer für einen gefährlichen Clown | |
gehalten. Und das ist bei vielen Linken noch heute so. Man sollte deshalb | |
in der Linken endlich aufhören, das Problem schönzureden. Man sollte | |
Antisemitismus Antisemitismus nennen. Aber ich glaube nicht, dass es uns | |
gelingen wird, dies zu einem zentralen Thema des Selbsterkenntnisprozesses | |
zu machen. | |
Warum war Kunzelmann so populär? | |
Ich glaube eigentlich nicht, dass er so populär war. Ich fand ihn | |
schmuddelig. Er war ja körperlich ein Wrack wegen der vielen Drogen. Erst | |
im Gefängnis hat er sich wieder etwas gefangen. Und ich gebe den Ball | |
zurück: Die Presse fand ihn immer interessant und hat ihr Spiel mit ihm | |
getrieben. Er war für die Presse viel attraktiver als der ernsthaft | |
diskutierende SDS. Kunzelmann sagte: „Ich reibe euch jetzt Scheiße ins | |
Gesicht.“ Es waren derbe Späße, etwa in der Tradition von Luther. Aber er | |
war eben auch derbe antisemitisch. Er hat immer die Bild-Zeitung gelesen | |
und geschimpft, die Linke begreife gar nicht, dass sie die beste Zeitung | |
sei: „Die schreiben immer positiv über mich.“ Das war das Einzige, was ihn | |
interessierte. Wir dagegen haben die Bild-Zeitung als Gefahr erlebt. Als | |
Hetzblatt. | |
Haben Sie Ihren Bruder wegen seiner Tat eigentlich zur Rede gestellt? | |
Als mein Bruder mir 2001 zu Weihnachten gestanden hat, dass er die Bombe | |
ins Gemeindezentrum hineingetragen hat, hatte ich ein langes Kampfgespräch | |
mit ihm. | |
Ihr Bruder erinnert sich aber, dass Sie schon in den 80er-Jahren wussten, | |
dass er der Bombenleger war … | |
Ja, aber das ist falsch. Das war erst 2001 kurz nach dem Tod unserer | |
Mutter. Er erklärte mir auch, warum er es mir erst dann erzählte. Er wollte | |
nämlich auf keinen Fall, dass dies unsere Mutter erfährt. Meine Mutter war | |
im NS-Staat immer sehr engagiert gegen die Nazis gewesen. Sie zählte sich | |
zu den Freunden des Staates Israels. Da hatte mein Bruder ein gewisses | |
Schamgefühl. Ich habe ihm gesagt: „Abi, das ist nicht antizionistisch, das | |
ist antisemitisch, was du da gemacht hast.“ Er gab zu, dass es zwar eine | |
völlig falsche, aber wohl doch eher eine antizionistische Aktion gewesen | |
sei. Ich habe ihm erklärt: „Wenn du gegen die Juden in der Diaspora eine | |
Aktion machst, um sie in Haft zu nehmen für die Besatzungspolitik des | |
Staates Israel, dann machst du genau das, was die Neonazis auch tun, | |
nämlich die Juden in der Diaspora gleichzusetzen mit den Israelis.“ Es hat | |
lange gebraucht, bis er das akzeptiert hat. Wir waren drei Tage später bei | |
einem gemeinsamen Freund aus der Jugendbewegung, den er seit 30 Jahren | |
nicht mehr gesehen hatte. Dem stellte er die Frage, ob er auch glaube, dass | |
seine Aktion damals antisemitisch sei – und dieser alte Freund hat nur | |
geantwortet: „Natürlich ist das antisemitisch.“ Heute hat mein Bruder | |
begriffen, dass es antisemitisch war, das hat bei ihm eine Weile gedauert. | |
Was meinen Sie mit Jugendbewegung? | |
Es waren die nicht religiös gebundenen Pfadfinder. Dies gehört übrigens | |
auch zu den historisch noch nicht aufgearbeiteten Themen von 1968. Es gab | |
damals sehr viele Mitglieder des Berliner SDS, die aus der bündischen | |
Jugend oder der Pfadfinderei kamen. Darüber wurde aber nie geredet. | |
Sie haben Ihrem Bruder 1969 geholfen, nach Schweden zu fliehen. Hätten Sie | |
das auch getan, wenn Sie damals gewusst hätten, dass er die nicht | |
funktionstüchtige Bombe am 9. November gelegt hat? | |
Nein, wenn ich gewusst hätte, dass er eine Bombenattrappe ins Jüdische | |
Gemeindehaus gelegt hat, hätte ich ihm nicht geholfen. Dann hätte ich ihn | |
auf der Straße stehen lassen. Er hätte dann sehen müssen, wie er überlebt. | |
Das habe ich ihm auch später gesagt. Ich hätte ihm nicht der Polizei | |
übergeben, das macht man mit dem Bruder nicht. Aber ich hätte ihm nicht | |
geholfen. Das wäre eine bittere Sache für ihn geworden – und für mich auch. | |
Welches Verhältnis haben Sie heute zu Ihrem Bruder? Fühlen Sie sich von ihm | |
hintergangen? | |
Nein, es ist völlig entspannt. Wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, dass ich | |
das so lange nicht gewusst habe. So konnte ich ihm helfen. Schließlich ist | |
er mein Bruder. | |
Und warum schreibt Ihr Bruder, dass Sie schon seit den 80er-Jahren von | |
seiner Tat wussten? | |
Ich habe auch gedacht, ich hätte es vorher gewusst – aber wir haben noch | |
einmal lange darüber nachgedacht und kamen zu dem Ergebnis: Ich habe es | |
nicht gewusst. Ich wusste nur, dass er bei den Tupamaros West-Berlin war. | |
Und er war ja fälschlicherweise auch auf einem der ersten | |
RAF-Fahndungsplakate. Und erst vor wenigen Wochen hat er mir etwas anderes | |
erzählt: Die Bombe, die nicht explodieren konnte, was eingehüllt in einen | |
Mantel von Tommy Weisbecker – und der kam aus einer jüdischen Familie. Sein | |
Vater war – so weit ich weiß – als Kommunist und Jude im KZ Buchenwald | |
gewesen. Und der Kunzelmann, der Drecksack, sollte endlich erklären, wie er | |
auf die Idee gekommen ist, die Bombe in den Mantel von Weisbecker | |
einzuwickeln. Tommys Vater war Zahnarzt. Tommy hat den Tresor seines Vaters | |
auf Anweisung der Tupamaros aufgebrochen, um daraus Zahngold zu klauen. Das | |
ist alles ziemlich furchtbar. Denn schließlich hatten die Nazis ihren | |
jüdischen Opfern das Zahngold aus den Kiefern herausgebrochen. Was hat der | |
Kunzelmann für eine Psyche? Schon 1984 hätte er einen Prozess gegen mich | |
anstrengen können. Aber er tut es nicht. Er weiß genau, warum er es nicht | |
tut. | |
Anmerkung der Redaktion: Verena Weisbecker, Schwester von Tommy Weisbecker, | |
bestreitet die Ausführungen und Schlußfolgerungen Fichters in wesentlichen | |
Fällen. So war ihr Vater kein Zahnarzt und in dem Tresor war auch kein | |
Zahngold. Dieses sind freie Assoziationen Fichters, für die es keine | |
faktische Stützung gebe. | |
25 Oct 2005 | |
## AUTOREN | |
PHILIPP GESSLER / STEFAN REINECKE | |
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