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# taz.de -- Relevanz Griechenland, Flüchtlinge, Paris, Köln. In Debatten gibt…
> werden Tagesnachrichten in Rom auf einer weiß gegipsten Tafel
> angeschlagen. Meist ist es Tratsch rund um das Kaiserhaus
Bild: Je unschärfer die Bilder, desto schärfer die Debatte. „Zahlreiche Men…
Von Klaus Raab
Das Jahr beginnt für die Nutzer der Facebook-Gruppe Nett-Werk Köln mit
einer freundlichen Nachricht. „Frohes neues Jahr 2016, Köln!“, schreibt
eine Frau, die sich Jennifer nennt, am 1. Januar um 0.16 Uhr. „Zum ersten
Mal an Silvester am Rhein, und es ist traumhaft.“
Nett-Werk, der Name ist programmatisch zu verstehen. Man kann hier eine
Suchmeldung für einen Hund posten, um Hilfe bei einem Computerproblem
bitten oder ein Handy verkaufen. Vor allem aber, so steht es auf der Seite,
soll man dabei nett zueinander sein. Das Titelbild zeigt ein Panorama von
Köln bei Sonnenuntergang. In einer violetten Wolke im Zentrum des Bildes
steht das Wort „Respekt“.
Gegen Mittag an Neujahr aber wird das Kölner Nett-Werk von den ersten
Mitgliedern umfunktioniert. Vom Ort für Nettigkeiten wird es zum Sammelraum
für erste Deutungen dessen, was in der Silvesternacht rund um den Kölner
Hauptbahnhof passiert ist.
„Guten Morgen liebe Netties ...“ beginnt – den geforderten
Höflichkeitsregeln entsprechend – einer der ersten Erfahrungsberichte. „Ich
bin entsetzt, was sich da gestern für Horrorszenen im Kölner Hauptbahnhof
abgespielt haben.“ Er zählt auf: weinende Frauen nach sexuellen
Übergriffen, Schlägereien, „tausende betrunkene junge zumeist Arabisch
sprechende Männer, welche die Frauen behandelten, als wären sie ‚Freiwild‘
“. Einen Absatz später dann die Frage: „Ist es das, wofür ich den halben
Inhalt meines Kleiderschranks gespendet habe? Ist das das neue Köln? Ist
das das neue Deutschland?“ Er wolle weiterhin Menschen helfen, die in Not
seien, aber „ich möchte nicht, dass ich selbst Angst haben muss vor
denjenigen, denen man eigentlich helfen will.“
## Wenige Kommata, viele Ausrufezeichen
Die Administratoren der Seite halten den Beitrag für übertrieben und
löschen ihn. Doch es folgen viele weitere. In den sozialen Medien beginnt
an diesem Tag eine Debatte, in der es, wenn man es nüchtern formuliert, um
die Flüchtlingssituation in Deutschland, die Asylpolitik der
Bundesregierung, die Integrationsfähigkeit von Muslimen und das deutsche
Sexualstrafrecht geht. Aber es formuliert kaum jemand nüchtern. In den
Foren und auf den Pinnwänden wird so schnell getippt, dass viele Kommata
fehlen. Dafür gibt es umso mehr Ausrufezeichen.
Drei Tage lang steigt kaum ein Journalist auf die Diskussion ein. Danach
aber gibt es praktisch nur noch ein Thema in Deutschland. „Nach Köln –
Höchste Zeit für eine neue Flüchtlingspolitik?“ ist der Titel des
Sonntagabendtalks bei Anne Will. „Haben wir die Augen davor verschlossen,
welche Probleme die Einwanderung vor allem muslimisch geprägter junger
Männer für unsere Gesellschaft mit sich bringen kann?“, fragt Sandra
Maischberger. „Frisierte Polizeiberichte, bevormundete Bürger – darf man
bei uns noch alles sagen?“ überschreibt Frank Plasberg seine „Hart aber
fair“-Sendung. Und das ist nur das Fernsehen.
Die Mediendebatte zischt, als hätte jemand ein Ventil aufgeschraubt und den
Verschluss weggeworfen. Warum aber ist etwas, was am ersten, zweiten und
dritten Januar die meisten Nichtkölner Journalisten kaum bemerkten, vom
vierten an so ein großes Thema, dass es selbst einen Terroranschlag mit
zehn deutschen Toten bald wieder auf die zweiten und dritten Plätze der
Nachrichtenseiten verdrängt? Wie entsteht Relevanz im Jahr 2016?
Die Frage stellt sich neu, seitdem der digitale Wandel und die Allgegenwart
des Smartphones die Strukturen der Öffentlichkeit mehr und mehr
verschieben. Die Antwort ist eine Geschichte davon, wie die Währungen
Klickzahl, Facebook-Kommentar und Like auf dem Debattenmarkt erst
schleichend, dann immer deutlicher an Wert gewinnen. Und wie sie heute
beeinflussen, worüber wir sprechen.
Philipp Daub ist Synchron-sprecher, er kann auf 42 verschiedene Arten „Ich
liebe dich“ sagen – erschöpft, leidenschaftlich, flehend. Wenn er über das
redet, was am 1. Januar in seiner Facebook-Gruppe passiert ist, klingt er
am Telefon resigniert. Philipp Daub hat mal bei Viva moderiert, in der
Sendung „Big Brother“ gibt er mit verfremdeter Stimme den Hausbewohnern
Anweisungen. Er ist der Gründer der Gruppe „Nett-Werk Köln“.
Mehr als 143.000 Menschen haben die Beiträge abonniert, die dort gepostet
werden. Daub sagt, er verstehe die Seite als Nachbarschaftshilfe-Gruppe.
Die Leute seien im Netz zugleich wahnsinnig empathisch, würden aber auch
wahnsinnig schnell anfangen, jemanden zu steinigen. Einfach mal nett sein,
das ist seine Gegenmaßnahme.
Nachdem die Administratoren der Seite am 1. Januar den Forumsbeitrag über
die Silvesternacht gelöscht haben, wird er tausendfach über Facebook
verbreitet und auch im Nett-Werk erneut gepostet. Er und ungezählte andere.
„80 Prozent waren einfach nur Wutausbrüche und Pöbeleien nach dem Motto:
‚Rauswerfen, das ganze Pack‘ “, sagt Philipp Daub. „Die Deutung, dass es
sich bei den Tätern um Asylbewerber oder Flüchtlinge handelt, stand sofort
im Fokus. Das war sofort das Gros der Kommentare, es gab da eine
hochaggressive Eigendynamik.“ Nach fünf Tagen schließt Daub das Nett-Werk
vorübergehend. Die Behauptung, dass Flüchtlinge an der sexuellen Gewalt und
den Taschendiebstählen beteiligt gewesen seien, geht – nicht nur, aber auch
von hier aus – viral, wie es in der Sprache der sozialen Medien heißt: Sie
verbreitet sich wie ein Virus.
Auch lokale und regionale Medien wie der Kölner Stadt-Anzeiger, der Express
und der WDR berichten vom 1. Januar an über die Taten der Kölner
Silvesternacht, allerdings mit anderem Zungenschlag. Der Express etwa, eine
lokale Boulevardzeitung, schreibt am 2. Januar, einem Polizeisprecher
zufolge handle es sich bei den Tätern definitiv nicht um Flüchtlinge. Das
stellt sich später als keineswegs definitiv heraus. Aber eben erst später.
Gesicherte Erkenntnisse über die Täter gibt es bis heute wenige. Die
Polizei hat 30 Tatverdächtige ermittelt, 25 stammen aus Marokko und
Algerien, 15 haben einen Asylantrag gestellt. Aber es gibt praktisch keine
Erkenntnisse, als die überregionalen Medien auf die Taten der
Silvesternacht einsteigen. Sie sind spät dran, wie vielfach kritisiert
wird. Viele von ihnen waren über Neujahr und das anschließende Wochenende
personell schlecht besetzt und liefen im Notstrommodus. Aber abgesehen
davon gibt es für Journalisten, die nicht in Köln vor Ort waren, keine
verlässlichen Quellen dafür, dass sich dort etwas zugetragen hat, was in
alle Ecken des Landes getragen werden müsste.
Journalisten beobachten einander bei der Arbeit. Das ist nichts Schlechtes,
die Geschäftsführer von Rewe schauen sich auch bei Aldi um. Es ist eine Art
letzte Rückversicherung: Solange die Konkurrenz nichts schreibt, kann das
eigene Versäumnis so massiv nicht sein. Wenn die anderen aber groß
einsteigen, sollte man auch selber dringend mal nachdenken. Die Dynamik
also, die später dafür sorgt, dass die Mediendebatte nicht abreißt, sorgt
zu diesem Zeitpunkt erst einmal dafür, dass sie nicht so richtig in Gang
kommt.
## In sozialen Medien ist relevant, was viele teilen
Die Deutsche Presse-Agentur, kurz dpa, berichtet erst am 2. Januar, nachdem
die Polizei mitteilt, knapp 30 Frauen seien von Männern umzingelt,
angefasst und zum Teil bestohlen worden. Die dpa ist ein Motor der
Nachrichtenmedien.
Zweieinhalb Wochen später sitzt Antje Homburger, stellvertretende
Chefredakteurin der dpa, im Berliner Büro vor einer Collage von Fotos
großer Ereignisse. Steffi Graf stemmt den Wimbledon-Pokal. Joschka Fischer
wird in Turnschuhen vereidigt. Homburger sagt: „Am 2. Januar war für uns
noch nicht erkennbar, dass es hier um mehr als regionale
Kriminalitätsberichterstattung geht.“ Zu diesem Zeitpunkt habe es vor allem
nach Antanzdelikten ausgesehen, „wie sie in den Wochen vor Silvester immer
wieder von Polizeistellen in verschiedenen Orten mitgeteilt worden waren“.
Die Kunden der dpa sind Journalisten. Was die Agentur veröffentlicht,
erscheint bald auf dem Bildschirm der Redakteure. Ein Thema, das Agenturen
nicht aufgreifen, hat es schwerer. Die dpa hatte im Grunde schon früher
eine Funktion, wie sie heute von sozialen Medien übernommen wird: Sie ist
ein Schaufenster in die Welt. Was sie berichtet, ist, zumindest potenziell,
ein Thema.
Der Unterschied zu den sozialen Medien ist: Die dpa liefert Nachrichten; es
gibt journalistische Filterinstrumente. Lässt sich eine Information
verifizieren? Wer sind die Quellen?
Die sozialen Medien liefern Größenordnungen – Zahlen, wie viele Menschen
sich für ein Video, einen Tweet, einen Artikel interessieren. Und sie
liefern Narrative. Relevant ist dort das, was viele teilen. Wenn ein paar
tausend Leute mehr über den „Tatort“ twittern als über den „Polizeiruf�…
stärkt das die Erzählung, dass der „Tatort“ der wichtigste Krimi sei. Und
wenn dort eine laute Gruppe die Absetzung von Angela Merkel verlangt, kann
das für den einen oder anderen Journalisten, der auf diesen Moment wartet,
heißen: Da dreht sich etwas.
Als schließlich praktisch alle überregionalen Medien, auch die taz, am 4.
Januar auf die Taten der Silvesternacht einsteigen, sind die Fakten noch
nicht klar. Aber das Narrativ ist grob abgesteckt.
In den sozialen Medien kursieren zu diesem Zeitpunkt tausende von Postings
und abertausende Kommentare, die Millionen Menschen erreichen. Nicht nur
Unsinn, natürlich nicht, aber neben drastischen Zeugenberichten über die
Taten sexueller Gewalt findet man auch und vor allem schnell hergestellte
Zusammenhänge.
Ein Mann, der das Kölner Nett-Werk am Neujahrstag als einer der Ersten mit
wütenden Beiträgen versah und anschließend von den Administratoren gesperrt
wurde, teilt auf seiner eigenen Facebook-Seite in den folgenden Tagen einen
ganzen Schwung an weiteren Postings. Eines zeigt die Deutschlandfahne und
den Wortlaut: „Wir sind das Volk. Das ist unsere Fahne. Und dieses Volk
sagt: Es reicht!! Wenn DU auch der Meinung bist, dann teile Deine Fahne.“
In einem weiteren heißt es: „Nein ich bin kein Nazi und nein ich kann
nichts dafür das der Typ mit dem Oberlippenbart damals unser geiles Land in
den Dreck gezogen hat!!! Aber wenn sich Menschen mit offensichtlichem
Migrationshintergrund nicht benehmen und anpassen können.“ Und so weiter.
Er empfiehlt die Seite „1.000.000 Likes für den Rücktritt Angela Merkels“.
Mehr als 140.000 Menschen teilen das Video eines Augenzeugen, der in der
Silvesternacht als Türsteher in einem Hotel am Kölner Dom arbeitete. Er
sagt: „Die Menschen, die wir vor drei Monaten noch mit Teddybären und
Wasserflaschen in München am Hauptbahnhof empfangen haben, haben angefangen
auf den Dom zu schießen.“
## Aufgusswasser für Instantthesen
Was die Öffentlichkeit weiß und worüber geredet wird, sind aber zwei
verschiedene Dinge. Bekannt ist, dass in der Kölner Polizei mittlerweile
von einem neuen Ausmaß der Gewalt die Rede ist. Und man weiß, dass die
Täter von Zeugen als nordafrikanisch und arabisch aussehend beschrieben
worden sind. Doch gibt es ein Bandenproblem? Ein Flüchtlingsproblem?
Handelt es sich bei den Männern um Franzosen, Marokkaner, Syrer, Deutsche?
Sind sie vor vier Wochen nach Deutschland gekommen oder vor acht Jahren?
Sind einige von ihnen womöglich einfach dunkelhaarig? Das alles weiß man
nicht.
Aber der Analyserahmen wird in Hashtags abgesteckt: #kölnhbf. #flüchtlinge.
Von 1.000 überwiegend gewaltbereiten Männern schreibt die Emma, darunter
seien „Flüchtlinge von gestern bzw. Migranten und ihre Söhne“. Der Cicero
kommentiert, nicht einmal linksideologische Willkommensmedien könnten unter
den Teppich kehren, was passiert sei. Ein bis zu 1.000 Personen großer Mob,
aus dem heraus Täter aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum
Straftaten begangen hätten, sei der Beweis, dass Merkels Flüchtlingspolitik
ignorant sei. Die Redaktion von stern.de twittert: „1.000 Männer haben am
Kölner Hbf in der Silvesternacht Frauen sexuell belästigt“ – und macht
damit alle 1.000 Anwesenden zu Tätern.
In diesem Strom machen viele Onlinemedien einen guten Job, es gibt
herausragende Kolumnen und instruktive Artikel. Aber viele Kommentatoren
schreiben nicht über Köln – sie nutzen nur die Folie, um zu schreiben, was
sie schon längst sagen wollten. Das Geschehen wird zum Aufgusswasser für
vorhandene Instant-Thesen.
Da manch einer ohnehin behauptet, die Medien vertuschen was, und die
Facebook-Pinnwände im Gegensatz zu den Nachrichtenseiten schon gut gefüllt
sind, muss es nun umso schneller gehen mit den Deutungen.
Früher, als nichts besser, aber manches anders war, wurde einmal pro Tag
gedruckt. Nun gibt es alle paar Stunden einen neuen Aufmacher auf den
Onlineportalen. Mehr Platz, der irgendwie gefüllt werden muss. Unter mehr
Zeitdruck. Und vor allem: mit dem genauen Wissen darum, was die Userinnen
und User lesen. Und was nicht.
In einer Vorlesung über das Fernsehen kritisierte der französische
Soziologe Pierre Bourdieu 1996, „dass das Fernsehen die Artikulation von
Gedanken nicht gerade begünstigt“. Es erteile stets nur Denkern das Wort,
die als reaktionsschnell gelten, solchen also, „die schneller schießen als
ihr Schatten“. Was sie nur deshalb könnten, weil „sie in ‚Gemeinplätzen…
denken“, in banalen, konventionellen Vorstellungen, die jeder verstehe.
Bourdieu führt das auf die Existenz der Fernsehquote zurück, die letztlich
ein kommerzielles Instrument sei: Man teste damit den Verkaufserfolg, und
was sich gut verkaufe, davon gebe es dann mehr. „Der Austausch von
Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen Inhalt als eben den der
Kommunikation“, schreibt Bourdieu. Was nichts anderes heißt, als dass dabei
ein ziemliches Gelaber herauskommt.
Es ist ein Blick, der nicht die einzelne Sendung meint, sondern das Treiben
in der Schneekugel von außerhalb betrachtet. Aus dieser Perspektive kann
man auch sagen: Was für die Auswirkungen der Quotenmessung auf das
Fernsehprogramm gilt, gilt heute auch für die Auswirkungen der
Reichweitenmessung der Onlineportale. Viele Likes, Shares und Klicks sorgen
für noch mehr Texte zum Thema, die wiederum Likes, Shares und Klicks
produzieren.
Die Frage ist: Wie bilden sich diese dominierenden Narrative heraus, die
den Diskurs einer Gesellschaft bestimmen?
Der Journalist Wolfgang Michal hat vor Kurzem den Begriff der
„journalistischen Los-Wochos-Strategie“ geprägt. Los Wochos – das ist die
Themenwochenstrategie, mit der McDonalds mehr Burger verkaufen will. Eine
Woche lang wird alles mit Jalapeno-Soße übergossen und als Tex-Mex
verkauft, bis in der nächsten Woche das nächste Motto kommt.
„Was man auch einschaltet, wo man auch hinschaut“, schreibt Wolfgang
Michal: „Flüchtlingskrise. Davor, nicht minder dominierend, die Euro-Krise,
davor NSA total, davor Ostukraine, davor Germanwings, davor Charlie Hebdo.„
Und nun eben Köln.
Solche großen, alles andere überlagernden Debatten erfüllen eine Funktion,
die früher große Unterhaltungsshows wie „Wetten, dass..?“ hatten – sie …
die Lagerfeuerthemen, bei denen man glaubt mitreden können zu müssen. Das
hat gute Seiten: So entsteht Orientierung, gemeinsame Werte können
ausgehandelt werden. Andererseits: Medien, die verstärkt über das
berichten, was ihre Rezipientinnen und Rezipienten hören wollen, für die
also ein wichtiges Entscheidungskriterium bei der Themenfindung ist, ob ein
Thema ankommt, die nannte man früher mal Boulevardmedien.
Es gibt in den Wochen der Köln-Debatte einen Terroranschlag in Istanbul. In
Polen demonstrieren Zehntausende gegen das neue Mediengesetz der Regierung.
Doch das restliche Weltgeschehen kommt und geht. Was sich hält, ist die
Silvesternacht und die hektischen Versuche, damit umzugehen.
Anne-Christin Hoffmann ist Kommunikationswissenschaftlerin in Passau, sie
forscht über die Wechselwirkung zwischen Massenmedien und
zwischenmenschlicher Kommunikation bei Großereignissen. Hoffmann sagt, sie
wundere sich vor allem darüber, dass über dem Anschlag in Istanbul trotz
der deutschen Toten kaum eine Diskussion folgte. Vielleicht, sagt sie, sei
die Türkei zu weit weg, und von den Ereignissen in Köln gehe stärker das
Gefühl aus, in der eigenen Lebenswelt beeinflusst zu werden. „Je
betroffener der Einzelne ist, desto relevanter schätzt er die Ereignisse
ein.“
Es ist eine emotionale Ebene, die die Köln-Debatte so groß macht. Und die
auch zu einem vergleichsweise neuen Phänomen führt: Medienmacher treiben
nicht nur, sie sind auch von den sozialen Medien getrieben.
Wechselseitiges Agenda-Setting ist ein Begriff, der in den letzten Jahren
in der Medienwirkungsforschung wichtiger wird. Massenmedien haben Einfluss
darauf, worüber Menschen nachdenken. Aber mittlerweile ist es auch
umgekehrt. Das habe Vorteile, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin
Anne-Christin Hoffmann. Journalisten, die einst sogenannte Gatekeeper
waren, Torwächter, die praktisch exklusiv bestimmten, welche Themen von
einer breiten Öffentlichkeit verhandelt werden, werden dadurch stärker zu
Dienstleistern der Öffentlichkeit. Gefährlich werde es, sagt Hoffmann, wenn
die Erregung groß sei und durch den Blick in die Social Media ein
verzerrtes, einseitiges Bild entstehe. Dann können Journalisten auch
Stimulatoren öffentlicher Erregung werden.
## Tools messen: Welches Schlagwort bringt Klicks?
Dafür, wie sich soziale und journalistische Medien wechselseitig
beeinflussen, ist Focus Online ein gutes Beispiel. Der Mediendienst
10.000flies, der misst, wie viele Likes, Shares und Kommentare die Beiträge
deutscher Medien in den sozialen Netzwerken erhalten, listet die Redaktion
für 2015 auf dem zweiten Platz. Was Focus Online veröffentlicht, wird
besonders häufig weitergetragen und kommentiert, nur die Inhalte von Bild
Online sind dem Ranking zufolge noch erfolgreicher.
Focus Online ist, was die Köln-Berichterstattung betrifft, am 1. Januar die
schnelle Ausnahme unter den deutschlandweit genutzten Medien. In den
Redaktionsräumen in München arbeiten am Neujahrstag zehn Personen – also
vergleichsweise viele für einen Feiertag. Wegen der Terrorwarnungen für die
Silvesternacht an Münchner Bahnhöfen hat die Redaktion die Zahl kurzfristig
verdoppelt, für den Fall der Fälle. Um 17.11 Uhr zitiert Focus Online einen
Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers und meldet: „Frauen am Kölner
Hauptbahnhof sexuell belästigt“. Und registriert, dass der Text gut läuft.
Viele Menschen klicken auf den Text.
Fragt man Chefredakteur Daniel Steil am Telefon, worin für ihn schon an
Neujahr die Relevanz des Themas Silvester in Köln bestand, die die
Konkurrenz noch nicht gesehen hat, sagt er: „Wir haben in den sozialen
Netzwerken gesehen, dass am Thema zu dem Zeitpunkt ein großes Interesse
entstand.“ Das sei ein Faktor bei der Entscheidung gewesen, das Thema von
Anfang an groß zu machen: „Wir richten uns sehr stark am Nutzerinteresse
aus.“ Im Grunde ist der Satz eine Onlineversion des Werbeslogans des
Magazins Focus, das schon vor Jahren „immer an die Leser“ denken wollte.
Alle großen Onlineredaktionen schauen sich bei der Suche nach Themen bei
Twitter, Facebook und Google um. Wenn ein Video durch die Decke geht, wenn
ein Fernsehkrimi viele Reaktionen bei Twitter hervorruft oder wenn die
Kölner Oberbürgermeisterin sagt, eine Armlänge Abstand zu Fremden könne nie
schaden, und User mit einem Hashtag darauf einsteigen, dann beschäftigen
sich auch Journalisten damit.
Es gibt in Onlineredaktionen Tools, um zu analysieren, wie viele Menschen
bei Facebook oder Twitter auf einen Beitrag klicken, wie viele über die
Homepage kommen und wie viele über Suchmaschinen. Redakteure können live
mitverfolgen, wie hoch das Interesse an einem Artikel ist, der mit dem
Schlagwort „Köln“ überschrieben ist – und wie stark es sich verändert,…
man denselben Text mit dem Schlagwort „Flüchtlingskrise“ versieht. Man wei…
vorher, welche Themen mit welcher Aufbereitung viele Userinnen und User zum
Klicken reizen und welche nicht.
Und dass das Thema Flüchtlingskrise gut funktioniert, wissen Journalisten.
Beim Social-Media-Auswertungsdienst 10.000flies sind unter den zehn
meistgeteilten, meistgelikten und meistkommentierten Themen der vergangenen
vier Wochen neun, die direkt mit der Flüchtlingsdebatte zu tun haben,
sieben davon mit der Silvesternacht von Köln. Im Zweifel spricht das dann
für noch mehr Köln.
Wäre das Land ein Wrestling-Ring, dies wäre nun der Royal Rumble: Zwei
Catcher fangen an, alle 90 Sekunden kommt ein weiterer hinzu, und wer
zuletzt noch steht, hat gewonnen. Alle scheinen verwickelt und betroffen –
Kölnerinnen und Kölner, Frauen und Männer, Musliminnen und Muslime und der
Islam als solcher, der komplette arabische Raum, ganz Nordafrika ebenfalls,
Flüchtlinge, die Lügenpresse, die Gesetze, Asylbewerberinnen und
Asylbewerber, die Böllerindustrie, Politikerinnen und Politiker, die
Polizei insgesamt und damit der schlanke Staat, Feministinnen und
Feministen, Antifeministinnen und Antifeministen.
Und zusammengehalten werden die Debattenstränge von einer Frage, die seit
Monaten immer wieder in verschiedenen Medien gestellt wird: Wann ist die
deutsche Willkommenskultur am Ende? Kippt die Stimmung?
„Auf der Kippe: Wie die Silvesternacht Deutschland verändert“, titelt der
Spiegel. „Die Stimmung beginnt sich zu drehen“, schreibt die Welt am
Sonntag. „Schaffen wir das wirklich? Oder schaffen die uns?“, steht im
Stern. „Ist Merkel noch die Richtige?“, fragt Bild am Sonntag.
Meinungsumfragen tun ihr Übriges: Das ZDF-„Politbaro-meter“ findet heraus,
dass im Januar „erstmals“ eine Mehrheit von 60 Prozent der Meinung sei,
dass Deutschland „die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen, nicht
verkraften kann“.
Selbst US-Medien erkennen die dramaturgische Qualität. Erst wird Angela
Merkel „Person of the Year“. Nun fliegt ihr alles um die Ohren. Die New
York Timesberichtet auf der Titelseite.
Dahinter steht das praktische Wissen, dass die wirklich guten Geschichten
einfach sind: Die Dinge müssen entweder Weltklasse sein oder miserabel.
Deutschland ist am Arsch oder ganz vorne dran. Sind Sie für oder gegen
Merkel? Für den Islam oder dagegen? Kann Deutschland die Krise bewältigen,
ja oder nein? Erörtern Sie am Beispiel von Männern, deren Herkunft und
Staatsbürgerschaft Sie nicht kennen: Sind Flüchtlinge gut oder doch nicht?
Was erstaunlich ist dabei: Das Internet bringt keineswegs, wie lange von
Verteidigern der Printmedien befürchtet wurde, ausschließlich
Pamela-Anderson-Fotostrecken und Promiglossen hervor. Was dort stattfindet,
ist tatsächlich: Berichterstattung über aktuelle Politik.
Nur wird in diesem Fall das US-Wahlsystem auf die deutschen Debatten
übertragen: The winner takes it all. 51 Prozent Zustimmung, und Angela
Merkel ist Super-Angie. 51 Prozent Ablehnung, und sie hat abgewirtschaftet.
Es ist ein Schwarz-Weiß-Journalismus, der Dramaturgien folgt, die man auch
aus der Fiktion kennt.
Und die binäre Diskussion beginnt, auf die Wirklichkeit abzufärben. Im
Rheinberger Stadtteil Orsoy, in dem ein Flüchtlingsheim steht, wird wegen
Sicherheitsbedenken vorsorglich der Rosenmontagszug abgesagt. In Bornheim
bei Bonn wird Flüchtlingen vorübergehend der Zutritt ins Schwimmbad
verwehrt.
Es gibt den Moment in diesen Wochen, da sitzt man mit einer halbvollen
Tasse Kaffee vor seinem Computerbildschirm und fragt sich: Worüber reden
wir hier eigentlich?
„Nach Köln bin ich schier verzweifelt“, sagt Frederik Fischer. Mit seinem
Laptop sitzt er in einem Café im Berliner Bezirk Wedding. Fischer ist der
Chefredakteur eines jungen Start-ups, Piqd, das aus dem Bestreben heraus
gegründet wurde, Relevanz anders zu definieren als über messbaren
Reichweitenerfolg. Piqd versteht sich als Gegenentwurf zu den
reichweitenoptimierten Algorithmen sozialer Netzwerke. Fachleute suchen die
besten Beiträge aus ihren Themenbereichen und empfehlen sie. Und die
schickt Piqd dann den Abonnenten zum Beispiel als täglichen Newsletter per
E-Mail. Es gibt Themenbereiche wie Osteuropa, Münchner Stadtleben,
Politische Ökonomie oder Flucht und Vertreibung.
Wie gut Texte geklickt werden, sei dabei kein Kriterium für die Aufnahme in
den Piqd-Newsletter, und dass sie gut lesbar sind, sei nicht ausreichend,
sagt Fischer. Es gehe um die Expertise. „Virale Inhalte zeichnen sich durch
das Überemotionale aus“, sagt er. Relevant aber sei für ihn ein Inhalt
dann, wenn er tatsächlich Erkenntnisgewinn bringt.
Es sei, das ist ihm wichtig, nicht so, dass die Qualität der Debatten in
Deutschland unterirdisch sei. Aber die Infrastruktur der digitalen
Öffentlichkeit sei von Leuten gebaut, „die ideengeschichtlich aus einer
ganz anderen Ecke als Journalisten kommen“. Sie definieren, grob gesagt,
Relevanz über den Vertrieb.
Was geteilt wird, ist relevant. Algorithmen konstituieren dadurch
Öffentlichkeit, sagt er, aber bei allem, was man algorithmisch löse, stelle
man Eintönigkeit fest. „Mich“, sagt er, „hätte es nicht gestört, wenn …
bei Piqd keinen einzigen Text über Silvester in Köln gegeben hätte, solange
die Faktenlage unklar ist.“
Da kommt ihm ein Gedanke, Frederik Fischer klappt den Laptop auf und öffnet
in seinem Browser eine Seite der BBC, die an eine News-Sendung vom 18.
April 1930 erinnert.
An diesem Karfreitag lief dort Klaviermusik. Vorweg die Worte: „There is no
news“. Die Redaktion hat entschieden, dass es nichts Berichtenswertes gebe.
Wenn man heute versucht, die Sendung von Deutschland aus zu hören, kommt
der Hinweis: „This content doesn’t seem to be working.“ Dieser Inhalt
funktioniert nicht.
Klaus Raab, 37, ist Redakteur der taz.am wochenende. Sein letzter Text
bekam 175 Kommentare
23 Jan 2016
## AUTOREN
Klaus Raab
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