# taz.de -- Relevanz Griechenland, Flüchtlinge, Paris, Köln. In Debatten gibt… | |
> werden Tagesnachrichten in Rom auf einer weiß gegipsten Tafel | |
> angeschlagen. Meist ist es Tratsch rund um das Kaiserhaus | |
Bild: Je unschärfer die Bilder, desto schärfer die Debatte. „Zahlreiche Men… | |
Von Klaus Raab | |
Das Jahr beginnt für die Nutzer der Facebook-Gruppe Nett-Werk Köln mit | |
einer freundlichen Nachricht. „Frohes neues Jahr 2016, Köln!“, schreibt | |
eine Frau, die sich Jennifer nennt, am 1. Januar um 0.16 Uhr. „Zum ersten | |
Mal an Silvester am Rhein, und es ist traumhaft.“ | |
Nett-Werk, der Name ist programmatisch zu verstehen. Man kann hier eine | |
Suchmeldung für einen Hund posten, um Hilfe bei einem Computerproblem | |
bitten oder ein Handy verkaufen. Vor allem aber, so steht es auf der Seite, | |
soll man dabei nett zueinander sein. Das Titelbild zeigt ein Panorama von | |
Köln bei Sonnenuntergang. In einer violetten Wolke im Zentrum des Bildes | |
steht das Wort „Respekt“. | |
Gegen Mittag an Neujahr aber wird das Kölner Nett-Werk von den ersten | |
Mitgliedern umfunktioniert. Vom Ort für Nettigkeiten wird es zum Sammelraum | |
für erste Deutungen dessen, was in der Silvesternacht rund um den Kölner | |
Hauptbahnhof passiert ist. | |
„Guten Morgen liebe Netties ...“ beginnt – den geforderten | |
Höflichkeitsregeln entsprechend – einer der ersten Erfahrungsberichte. „Ich | |
bin entsetzt, was sich da gestern für Horrorszenen im Kölner Hauptbahnhof | |
abgespielt haben.“ Er zählt auf: weinende Frauen nach sexuellen | |
Übergriffen, Schlägereien, „tausende betrunkene junge zumeist Arabisch | |
sprechende Männer, welche die Frauen behandelten, als wären sie ‚Freiwild‘ | |
“. Einen Absatz später dann die Frage: „Ist es das, wofür ich den halben | |
Inhalt meines Kleiderschranks gespendet habe? Ist das das neue Köln? Ist | |
das das neue Deutschland?“ Er wolle weiterhin Menschen helfen, die in Not | |
seien, aber „ich möchte nicht, dass ich selbst Angst haben muss vor | |
denjenigen, denen man eigentlich helfen will.“ | |
## Wenige Kommata, viele Ausrufezeichen | |
Die Administratoren der Seite halten den Beitrag für übertrieben und | |
löschen ihn. Doch es folgen viele weitere. In den sozialen Medien beginnt | |
an diesem Tag eine Debatte, in der es, wenn man es nüchtern formuliert, um | |
die Flüchtlingssituation in Deutschland, die Asylpolitik der | |
Bundesregierung, die Integrationsfähigkeit von Muslimen und das deutsche | |
Sexualstrafrecht geht. Aber es formuliert kaum jemand nüchtern. In den | |
Foren und auf den Pinnwänden wird so schnell getippt, dass viele Kommata | |
fehlen. Dafür gibt es umso mehr Ausrufezeichen. | |
Drei Tage lang steigt kaum ein Journalist auf die Diskussion ein. Danach | |
aber gibt es praktisch nur noch ein Thema in Deutschland. „Nach Köln – | |
Höchste Zeit für eine neue Flüchtlingspolitik?“ ist der Titel des | |
Sonntagabendtalks bei Anne Will. „Haben wir die Augen davor verschlossen, | |
welche Probleme die Einwanderung vor allem muslimisch geprägter junger | |
Männer für unsere Gesellschaft mit sich bringen kann?“, fragt Sandra | |
Maischberger. „Frisierte Polizeiberichte, bevormundete Bürger – darf man | |
bei uns noch alles sagen?“ überschreibt Frank Plasberg seine „Hart aber | |
fair“-Sendung. Und das ist nur das Fernsehen. | |
Die Mediendebatte zischt, als hätte jemand ein Ventil aufgeschraubt und den | |
Verschluss weggeworfen. Warum aber ist etwas, was am ersten, zweiten und | |
dritten Januar die meisten Nichtkölner Journalisten kaum bemerkten, vom | |
vierten an so ein großes Thema, dass es selbst einen Terroranschlag mit | |
zehn deutschen Toten bald wieder auf die zweiten und dritten Plätze der | |
Nachrichtenseiten verdrängt? Wie entsteht Relevanz im Jahr 2016? | |
Die Frage stellt sich neu, seitdem der digitale Wandel und die Allgegenwart | |
des Smartphones die Strukturen der Öffentlichkeit mehr und mehr | |
verschieben. Die Antwort ist eine Geschichte davon, wie die Währungen | |
Klickzahl, Facebook-Kommentar und Like auf dem Debattenmarkt erst | |
schleichend, dann immer deutlicher an Wert gewinnen. Und wie sie heute | |
beeinflussen, worüber wir sprechen. | |
Philipp Daub ist Synchron-sprecher, er kann auf 42 verschiedene Arten „Ich | |
liebe dich“ sagen – erschöpft, leidenschaftlich, flehend. Wenn er über das | |
redet, was am 1. Januar in seiner Facebook-Gruppe passiert ist, klingt er | |
am Telefon resigniert. Philipp Daub hat mal bei Viva moderiert, in der | |
Sendung „Big Brother“ gibt er mit verfremdeter Stimme den Hausbewohnern | |
Anweisungen. Er ist der Gründer der Gruppe „Nett-Werk Köln“. | |
Mehr als 143.000 Menschen haben die Beiträge abonniert, die dort gepostet | |
werden. Daub sagt, er verstehe die Seite als Nachbarschaftshilfe-Gruppe. | |
Die Leute seien im Netz zugleich wahnsinnig empathisch, würden aber auch | |
wahnsinnig schnell anfangen, jemanden zu steinigen. Einfach mal nett sein, | |
das ist seine Gegenmaßnahme. | |
Nachdem die Administratoren der Seite am 1. Januar den Forumsbeitrag über | |
die Silvesternacht gelöscht haben, wird er tausendfach über Facebook | |
verbreitet und auch im Nett-Werk erneut gepostet. Er und ungezählte andere. | |
„80 Prozent waren einfach nur Wutausbrüche und Pöbeleien nach dem Motto: | |
‚Rauswerfen, das ganze Pack‘ “, sagt Philipp Daub. „Die Deutung, dass es | |
sich bei den Tätern um Asylbewerber oder Flüchtlinge handelt, stand sofort | |
im Fokus. Das war sofort das Gros der Kommentare, es gab da eine | |
hochaggressive Eigendynamik.“ Nach fünf Tagen schließt Daub das Nett-Werk | |
vorübergehend. Die Behauptung, dass Flüchtlinge an der sexuellen Gewalt und | |
den Taschendiebstählen beteiligt gewesen seien, geht – nicht nur, aber auch | |
von hier aus – viral, wie es in der Sprache der sozialen Medien heißt: Sie | |
verbreitet sich wie ein Virus. | |
Auch lokale und regionale Medien wie der Kölner Stadt-Anzeiger, der Express | |
und der WDR berichten vom 1. Januar an über die Taten der Kölner | |
Silvesternacht, allerdings mit anderem Zungenschlag. Der Express etwa, eine | |
lokale Boulevardzeitung, schreibt am 2. Januar, einem Polizeisprecher | |
zufolge handle es sich bei den Tätern definitiv nicht um Flüchtlinge. Das | |
stellt sich später als keineswegs definitiv heraus. Aber eben erst später. | |
Gesicherte Erkenntnisse über die Täter gibt es bis heute wenige. Die | |
Polizei hat 30 Tatverdächtige ermittelt, 25 stammen aus Marokko und | |
Algerien, 15 haben einen Asylantrag gestellt. Aber es gibt praktisch keine | |
Erkenntnisse, als die überregionalen Medien auf die Taten der | |
Silvesternacht einsteigen. Sie sind spät dran, wie vielfach kritisiert | |
wird. Viele von ihnen waren über Neujahr und das anschließende Wochenende | |
personell schlecht besetzt und liefen im Notstrommodus. Aber abgesehen | |
davon gibt es für Journalisten, die nicht in Köln vor Ort waren, keine | |
verlässlichen Quellen dafür, dass sich dort etwas zugetragen hat, was in | |
alle Ecken des Landes getragen werden müsste. | |
Journalisten beobachten einander bei der Arbeit. Das ist nichts Schlechtes, | |
die Geschäftsführer von Rewe schauen sich auch bei Aldi um. Es ist eine Art | |
letzte Rückversicherung: Solange die Konkurrenz nichts schreibt, kann das | |
eigene Versäumnis so massiv nicht sein. Wenn die anderen aber groß | |
einsteigen, sollte man auch selber dringend mal nachdenken. Die Dynamik | |
also, die später dafür sorgt, dass die Mediendebatte nicht abreißt, sorgt | |
zu diesem Zeitpunkt erst einmal dafür, dass sie nicht so richtig in Gang | |
kommt. | |
## In sozialen Medien ist relevant, was viele teilen | |
Die Deutsche Presse-Agentur, kurz dpa, berichtet erst am 2. Januar, nachdem | |
die Polizei mitteilt, knapp 30 Frauen seien von Männern umzingelt, | |
angefasst und zum Teil bestohlen worden. Die dpa ist ein Motor der | |
Nachrichtenmedien. | |
Zweieinhalb Wochen später sitzt Antje Homburger, stellvertretende | |
Chefredakteurin der dpa, im Berliner Büro vor einer Collage von Fotos | |
großer Ereignisse. Steffi Graf stemmt den Wimbledon-Pokal. Joschka Fischer | |
wird in Turnschuhen vereidigt. Homburger sagt: „Am 2. Januar war für uns | |
noch nicht erkennbar, dass es hier um mehr als regionale | |
Kriminalitätsberichterstattung geht.“ Zu diesem Zeitpunkt habe es vor allem | |
nach Antanzdelikten ausgesehen, „wie sie in den Wochen vor Silvester immer | |
wieder von Polizeistellen in verschiedenen Orten mitgeteilt worden waren“. | |
Die Kunden der dpa sind Journalisten. Was die Agentur veröffentlicht, | |
erscheint bald auf dem Bildschirm der Redakteure. Ein Thema, das Agenturen | |
nicht aufgreifen, hat es schwerer. Die dpa hatte im Grunde schon früher | |
eine Funktion, wie sie heute von sozialen Medien übernommen wird: Sie ist | |
ein Schaufenster in die Welt. Was sie berichtet, ist, zumindest potenziell, | |
ein Thema. | |
Der Unterschied zu den sozialen Medien ist: Die dpa liefert Nachrichten; es | |
gibt journalistische Filterinstrumente. Lässt sich eine Information | |
verifizieren? Wer sind die Quellen? | |
Die sozialen Medien liefern Größenordnungen – Zahlen, wie viele Menschen | |
sich für ein Video, einen Tweet, einen Artikel interessieren. Und sie | |
liefern Narrative. Relevant ist dort das, was viele teilen. Wenn ein paar | |
tausend Leute mehr über den „Tatort“ twittern als über den „Polizeiruf�… | |
stärkt das die Erzählung, dass der „Tatort“ der wichtigste Krimi sei. Und | |
wenn dort eine laute Gruppe die Absetzung von Angela Merkel verlangt, kann | |
das für den einen oder anderen Journalisten, der auf diesen Moment wartet, | |
heißen: Da dreht sich etwas. | |
Als schließlich praktisch alle überregionalen Medien, auch die taz, am 4. | |
Januar auf die Taten der Silvesternacht einsteigen, sind die Fakten noch | |
nicht klar. Aber das Narrativ ist grob abgesteckt. | |
In den sozialen Medien kursieren zu diesem Zeitpunkt tausende von Postings | |
und abertausende Kommentare, die Millionen Menschen erreichen. Nicht nur | |
Unsinn, natürlich nicht, aber neben drastischen Zeugenberichten über die | |
Taten sexueller Gewalt findet man auch und vor allem schnell hergestellte | |
Zusammenhänge. | |
Ein Mann, der das Kölner Nett-Werk am Neujahrstag als einer der Ersten mit | |
wütenden Beiträgen versah und anschließend von den Administratoren gesperrt | |
wurde, teilt auf seiner eigenen Facebook-Seite in den folgenden Tagen einen | |
ganzen Schwung an weiteren Postings. Eines zeigt die Deutschlandfahne und | |
den Wortlaut: „Wir sind das Volk. Das ist unsere Fahne. Und dieses Volk | |
sagt: Es reicht!! Wenn DU auch der Meinung bist, dann teile Deine Fahne.“ | |
In einem weiteren heißt es: „Nein ich bin kein Nazi und nein ich kann | |
nichts dafür das der Typ mit dem Oberlippenbart damals unser geiles Land in | |
den Dreck gezogen hat!!! Aber wenn sich Menschen mit offensichtlichem | |
Migrationshintergrund nicht benehmen und anpassen können.“ Und so weiter. | |
Er empfiehlt die Seite „1.000.000 Likes für den Rücktritt Angela Merkels“. | |
Mehr als 140.000 Menschen teilen das Video eines Augenzeugen, der in der | |
Silvesternacht als Türsteher in einem Hotel am Kölner Dom arbeitete. Er | |
sagt: „Die Menschen, die wir vor drei Monaten noch mit Teddybären und | |
Wasserflaschen in München am Hauptbahnhof empfangen haben, haben angefangen | |
auf den Dom zu schießen.“ | |
## Aufgusswasser für Instantthesen | |
Was die Öffentlichkeit weiß und worüber geredet wird, sind aber zwei | |
verschiedene Dinge. Bekannt ist, dass in der Kölner Polizei mittlerweile | |
von einem neuen Ausmaß der Gewalt die Rede ist. Und man weiß, dass die | |
Täter von Zeugen als nordafrikanisch und arabisch aussehend beschrieben | |
worden sind. Doch gibt es ein Bandenproblem? Ein Flüchtlingsproblem? | |
Handelt es sich bei den Männern um Franzosen, Marokkaner, Syrer, Deutsche? | |
Sind sie vor vier Wochen nach Deutschland gekommen oder vor acht Jahren? | |
Sind einige von ihnen womöglich einfach dunkelhaarig? Das alles weiß man | |
nicht. | |
Aber der Analyserahmen wird in Hashtags abgesteckt: #kölnhbf. #flüchtlinge. | |
Von 1.000 überwiegend gewaltbereiten Männern schreibt die Emma, darunter | |
seien „Flüchtlinge von gestern bzw. Migranten und ihre Söhne“. Der Cicero | |
kommentiert, nicht einmal linksideologische Willkommensmedien könnten unter | |
den Teppich kehren, was passiert sei. Ein bis zu 1.000 Personen großer Mob, | |
aus dem heraus Täter aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum | |
Straftaten begangen hätten, sei der Beweis, dass Merkels Flüchtlingspolitik | |
ignorant sei. Die Redaktion von stern.de twittert: „1.000 Männer haben am | |
Kölner Hbf in der Silvesternacht Frauen sexuell belästigt“ – und macht | |
damit alle 1.000 Anwesenden zu Tätern. | |
In diesem Strom machen viele Onlinemedien einen guten Job, es gibt | |
herausragende Kolumnen und instruktive Artikel. Aber viele Kommentatoren | |
schreiben nicht über Köln – sie nutzen nur die Folie, um zu schreiben, was | |
sie schon längst sagen wollten. Das Geschehen wird zum Aufgusswasser für | |
vorhandene Instant-Thesen. | |
Da manch einer ohnehin behauptet, die Medien vertuschen was, und die | |
Facebook-Pinnwände im Gegensatz zu den Nachrichtenseiten schon gut gefüllt | |
sind, muss es nun umso schneller gehen mit den Deutungen. | |
Früher, als nichts besser, aber manches anders war, wurde einmal pro Tag | |
gedruckt. Nun gibt es alle paar Stunden einen neuen Aufmacher auf den | |
Onlineportalen. Mehr Platz, der irgendwie gefüllt werden muss. Unter mehr | |
Zeitdruck. Und vor allem: mit dem genauen Wissen darum, was die Userinnen | |
und User lesen. Und was nicht. | |
In einer Vorlesung über das Fernsehen kritisierte der französische | |
Soziologe Pierre Bourdieu 1996, „dass das Fernsehen die Artikulation von | |
Gedanken nicht gerade begünstigt“. Es erteile stets nur Denkern das Wort, | |
die als reaktionsschnell gelten, solchen also, „die schneller schießen als | |
ihr Schatten“. Was sie nur deshalb könnten, weil „sie in ‚Gemeinplätzen… | |
denken“, in banalen, konventionellen Vorstellungen, die jeder verstehe. | |
Bourdieu führt das auf die Existenz der Fernsehquote zurück, die letztlich | |
ein kommerzielles Instrument sei: Man teste damit den Verkaufserfolg, und | |
was sich gut verkaufe, davon gebe es dann mehr. „Der Austausch von | |
Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen Inhalt als eben den der | |
Kommunikation“, schreibt Bourdieu. Was nichts anderes heißt, als dass dabei | |
ein ziemliches Gelaber herauskommt. | |
Es ist ein Blick, der nicht die einzelne Sendung meint, sondern das Treiben | |
in der Schneekugel von außerhalb betrachtet. Aus dieser Perspektive kann | |
man auch sagen: Was für die Auswirkungen der Quotenmessung auf das | |
Fernsehprogramm gilt, gilt heute auch für die Auswirkungen der | |
Reichweitenmessung der Onlineportale. Viele Likes, Shares und Klicks sorgen | |
für noch mehr Texte zum Thema, die wiederum Likes, Shares und Klicks | |
produzieren. | |
Die Frage ist: Wie bilden sich diese dominierenden Narrative heraus, die | |
den Diskurs einer Gesellschaft bestimmen? | |
Der Journalist Wolfgang Michal hat vor Kurzem den Begriff der | |
„journalistischen Los-Wochos-Strategie“ geprägt. Los Wochos – das ist die | |
Themenwochenstrategie, mit der McDonalds mehr Burger verkaufen will. Eine | |
Woche lang wird alles mit Jalapeno-Soße übergossen und als Tex-Mex | |
verkauft, bis in der nächsten Woche das nächste Motto kommt. | |
„Was man auch einschaltet, wo man auch hinschaut“, schreibt Wolfgang | |
Michal: „Flüchtlingskrise. Davor, nicht minder dominierend, die Euro-Krise, | |
davor NSA total, davor Ostukraine, davor Germanwings, davor Charlie Hebdo.„ | |
Und nun eben Köln. | |
Solche großen, alles andere überlagernden Debatten erfüllen eine Funktion, | |
die früher große Unterhaltungsshows wie „Wetten, dass..?“ hatten – sie … | |
die Lagerfeuerthemen, bei denen man glaubt mitreden können zu müssen. Das | |
hat gute Seiten: So entsteht Orientierung, gemeinsame Werte können | |
ausgehandelt werden. Andererseits: Medien, die verstärkt über das | |
berichten, was ihre Rezipientinnen und Rezipienten hören wollen, für die | |
also ein wichtiges Entscheidungskriterium bei der Themenfindung ist, ob ein | |
Thema ankommt, die nannte man früher mal Boulevardmedien. | |
Es gibt in den Wochen der Köln-Debatte einen Terroranschlag in Istanbul. In | |
Polen demonstrieren Zehntausende gegen das neue Mediengesetz der Regierung. | |
Doch das restliche Weltgeschehen kommt und geht. Was sich hält, ist die | |
Silvesternacht und die hektischen Versuche, damit umzugehen. | |
Anne-Christin Hoffmann ist Kommunikationswissenschaftlerin in Passau, sie | |
forscht über die Wechselwirkung zwischen Massenmedien und | |
zwischenmenschlicher Kommunikation bei Großereignissen. Hoffmann sagt, sie | |
wundere sich vor allem darüber, dass über dem Anschlag in Istanbul trotz | |
der deutschen Toten kaum eine Diskussion folgte. Vielleicht, sagt sie, sei | |
die Türkei zu weit weg, und von den Ereignissen in Köln gehe stärker das | |
Gefühl aus, in der eigenen Lebenswelt beeinflusst zu werden. „Je | |
betroffener der Einzelne ist, desto relevanter schätzt er die Ereignisse | |
ein.“ | |
Es ist eine emotionale Ebene, die die Köln-Debatte so groß macht. Und die | |
auch zu einem vergleichsweise neuen Phänomen führt: Medienmacher treiben | |
nicht nur, sie sind auch von den sozialen Medien getrieben. | |
Wechselseitiges Agenda-Setting ist ein Begriff, der in den letzten Jahren | |
in der Medienwirkungsforschung wichtiger wird. Massenmedien haben Einfluss | |
darauf, worüber Menschen nachdenken. Aber mittlerweile ist es auch | |
umgekehrt. Das habe Vorteile, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin | |
Anne-Christin Hoffmann. Journalisten, die einst sogenannte Gatekeeper | |
waren, Torwächter, die praktisch exklusiv bestimmten, welche Themen von | |
einer breiten Öffentlichkeit verhandelt werden, werden dadurch stärker zu | |
Dienstleistern der Öffentlichkeit. Gefährlich werde es, sagt Hoffmann, wenn | |
die Erregung groß sei und durch den Blick in die Social Media ein | |
verzerrtes, einseitiges Bild entstehe. Dann können Journalisten auch | |
Stimulatoren öffentlicher Erregung werden. | |
## Tools messen: Welches Schlagwort bringt Klicks? | |
Dafür, wie sich soziale und journalistische Medien wechselseitig | |
beeinflussen, ist Focus Online ein gutes Beispiel. Der Mediendienst | |
10.000flies, der misst, wie viele Likes, Shares und Kommentare die Beiträge | |
deutscher Medien in den sozialen Netzwerken erhalten, listet die Redaktion | |
für 2015 auf dem zweiten Platz. Was Focus Online veröffentlicht, wird | |
besonders häufig weitergetragen und kommentiert, nur die Inhalte von Bild | |
Online sind dem Ranking zufolge noch erfolgreicher. | |
Focus Online ist, was die Köln-Berichterstattung betrifft, am 1. Januar die | |
schnelle Ausnahme unter den deutschlandweit genutzten Medien. In den | |
Redaktionsräumen in München arbeiten am Neujahrstag zehn Personen – also | |
vergleichsweise viele für einen Feiertag. Wegen der Terrorwarnungen für die | |
Silvesternacht an Münchner Bahnhöfen hat die Redaktion die Zahl kurzfristig | |
verdoppelt, für den Fall der Fälle. Um 17.11 Uhr zitiert Focus Online einen | |
Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers und meldet: „Frauen am Kölner | |
Hauptbahnhof sexuell belästigt“. Und registriert, dass der Text gut läuft. | |
Viele Menschen klicken auf den Text. | |
Fragt man Chefredakteur Daniel Steil am Telefon, worin für ihn schon an | |
Neujahr die Relevanz des Themas Silvester in Köln bestand, die die | |
Konkurrenz noch nicht gesehen hat, sagt er: „Wir haben in den sozialen | |
Netzwerken gesehen, dass am Thema zu dem Zeitpunkt ein großes Interesse | |
entstand.“ Das sei ein Faktor bei der Entscheidung gewesen, das Thema von | |
Anfang an groß zu machen: „Wir richten uns sehr stark am Nutzerinteresse | |
aus.“ Im Grunde ist der Satz eine Onlineversion des Werbeslogans des | |
Magazins Focus, das schon vor Jahren „immer an die Leser“ denken wollte. | |
Alle großen Onlineredaktionen schauen sich bei der Suche nach Themen bei | |
Twitter, Facebook und Google um. Wenn ein Video durch die Decke geht, wenn | |
ein Fernsehkrimi viele Reaktionen bei Twitter hervorruft oder wenn die | |
Kölner Oberbürgermeisterin sagt, eine Armlänge Abstand zu Fremden könne nie | |
schaden, und User mit einem Hashtag darauf einsteigen, dann beschäftigen | |
sich auch Journalisten damit. | |
Es gibt in Onlineredaktionen Tools, um zu analysieren, wie viele Menschen | |
bei Facebook oder Twitter auf einen Beitrag klicken, wie viele über die | |
Homepage kommen und wie viele über Suchmaschinen. Redakteure können live | |
mitverfolgen, wie hoch das Interesse an einem Artikel ist, der mit dem | |
Schlagwort „Köln“ überschrieben ist – und wie stark es sich verändert,… | |
man denselben Text mit dem Schlagwort „Flüchtlingskrise“ versieht. Man wei… | |
vorher, welche Themen mit welcher Aufbereitung viele Userinnen und User zum | |
Klicken reizen und welche nicht. | |
Und dass das Thema Flüchtlingskrise gut funktioniert, wissen Journalisten. | |
Beim Social-Media-Auswertungsdienst 10.000flies sind unter den zehn | |
meistgeteilten, meistgelikten und meistkommentierten Themen der vergangenen | |
vier Wochen neun, die direkt mit der Flüchtlingsdebatte zu tun haben, | |
sieben davon mit der Silvesternacht von Köln. Im Zweifel spricht das dann | |
für noch mehr Köln. | |
Wäre das Land ein Wrestling-Ring, dies wäre nun der Royal Rumble: Zwei | |
Catcher fangen an, alle 90 Sekunden kommt ein weiterer hinzu, und wer | |
zuletzt noch steht, hat gewonnen. Alle scheinen verwickelt und betroffen – | |
Kölnerinnen und Kölner, Frauen und Männer, Musliminnen und Muslime und der | |
Islam als solcher, der komplette arabische Raum, ganz Nordafrika ebenfalls, | |
Flüchtlinge, die Lügenpresse, die Gesetze, Asylbewerberinnen und | |
Asylbewerber, die Böllerindustrie, Politikerinnen und Politiker, die | |
Polizei insgesamt und damit der schlanke Staat, Feministinnen und | |
Feministen, Antifeministinnen und Antifeministen. | |
Und zusammengehalten werden die Debattenstränge von einer Frage, die seit | |
Monaten immer wieder in verschiedenen Medien gestellt wird: Wann ist die | |
deutsche Willkommenskultur am Ende? Kippt die Stimmung? | |
„Auf der Kippe: Wie die Silvesternacht Deutschland verändert“, titelt der | |
Spiegel. „Die Stimmung beginnt sich zu drehen“, schreibt die Welt am | |
Sonntag. „Schaffen wir das wirklich? Oder schaffen die uns?“, steht im | |
Stern. „Ist Merkel noch die Richtige?“, fragt Bild am Sonntag. | |
Meinungsumfragen tun ihr Übriges: Das ZDF-„Politbaro-meter“ findet heraus, | |
dass im Januar „erstmals“ eine Mehrheit von 60 Prozent der Meinung sei, | |
dass Deutschland „die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen, nicht | |
verkraften kann“. | |
Selbst US-Medien erkennen die dramaturgische Qualität. Erst wird Angela | |
Merkel „Person of the Year“. Nun fliegt ihr alles um die Ohren. Die New | |
York Timesberichtet auf der Titelseite. | |
Dahinter steht das praktische Wissen, dass die wirklich guten Geschichten | |
einfach sind: Die Dinge müssen entweder Weltklasse sein oder miserabel. | |
Deutschland ist am Arsch oder ganz vorne dran. Sind Sie für oder gegen | |
Merkel? Für den Islam oder dagegen? Kann Deutschland die Krise bewältigen, | |
ja oder nein? Erörtern Sie am Beispiel von Männern, deren Herkunft und | |
Staatsbürgerschaft Sie nicht kennen: Sind Flüchtlinge gut oder doch nicht? | |
Was erstaunlich ist dabei: Das Internet bringt keineswegs, wie lange von | |
Verteidigern der Printmedien befürchtet wurde, ausschließlich | |
Pamela-Anderson-Fotostrecken und Promiglossen hervor. Was dort stattfindet, | |
ist tatsächlich: Berichterstattung über aktuelle Politik. | |
Nur wird in diesem Fall das US-Wahlsystem auf die deutschen Debatten | |
übertragen: The winner takes it all. 51 Prozent Zustimmung, und Angela | |
Merkel ist Super-Angie. 51 Prozent Ablehnung, und sie hat abgewirtschaftet. | |
Es ist ein Schwarz-Weiß-Journalismus, der Dramaturgien folgt, die man auch | |
aus der Fiktion kennt. | |
Und die binäre Diskussion beginnt, auf die Wirklichkeit abzufärben. Im | |
Rheinberger Stadtteil Orsoy, in dem ein Flüchtlingsheim steht, wird wegen | |
Sicherheitsbedenken vorsorglich der Rosenmontagszug abgesagt. In Bornheim | |
bei Bonn wird Flüchtlingen vorübergehend der Zutritt ins Schwimmbad | |
verwehrt. | |
Es gibt den Moment in diesen Wochen, da sitzt man mit einer halbvollen | |
Tasse Kaffee vor seinem Computerbildschirm und fragt sich: Worüber reden | |
wir hier eigentlich? | |
„Nach Köln bin ich schier verzweifelt“, sagt Frederik Fischer. Mit seinem | |
Laptop sitzt er in einem Café im Berliner Bezirk Wedding. Fischer ist der | |
Chefredakteur eines jungen Start-ups, Piqd, das aus dem Bestreben heraus | |
gegründet wurde, Relevanz anders zu definieren als über messbaren | |
Reichweitenerfolg. Piqd versteht sich als Gegenentwurf zu den | |
reichweitenoptimierten Algorithmen sozialer Netzwerke. Fachleute suchen die | |
besten Beiträge aus ihren Themenbereichen und empfehlen sie. Und die | |
schickt Piqd dann den Abonnenten zum Beispiel als täglichen Newsletter per | |
E-Mail. Es gibt Themenbereiche wie Osteuropa, Münchner Stadtleben, | |
Politische Ökonomie oder Flucht und Vertreibung. | |
Wie gut Texte geklickt werden, sei dabei kein Kriterium für die Aufnahme in | |
den Piqd-Newsletter, und dass sie gut lesbar sind, sei nicht ausreichend, | |
sagt Fischer. Es gehe um die Expertise. „Virale Inhalte zeichnen sich durch | |
das Überemotionale aus“, sagt er. Relevant aber sei für ihn ein Inhalt | |
dann, wenn er tatsächlich Erkenntnisgewinn bringt. | |
Es sei, das ist ihm wichtig, nicht so, dass die Qualität der Debatten in | |
Deutschland unterirdisch sei. Aber die Infrastruktur der digitalen | |
Öffentlichkeit sei von Leuten gebaut, „die ideengeschichtlich aus einer | |
ganz anderen Ecke als Journalisten kommen“. Sie definieren, grob gesagt, | |
Relevanz über den Vertrieb. | |
Was geteilt wird, ist relevant. Algorithmen konstituieren dadurch | |
Öffentlichkeit, sagt er, aber bei allem, was man algorithmisch löse, stelle | |
man Eintönigkeit fest. „Mich“, sagt er, „hätte es nicht gestört, wenn … | |
bei Piqd keinen einzigen Text über Silvester in Köln gegeben hätte, solange | |
die Faktenlage unklar ist.“ | |
Da kommt ihm ein Gedanke, Frederik Fischer klappt den Laptop auf und öffnet | |
in seinem Browser eine Seite der BBC, die an eine News-Sendung vom 18. | |
April 1930 erinnert. | |
An diesem Karfreitag lief dort Klaviermusik. Vorweg die Worte: „There is no | |
news“. Die Redaktion hat entschieden, dass es nichts Berichtenswertes gebe. | |
Wenn man heute versucht, die Sendung von Deutschland aus zu hören, kommt | |
der Hinweis: „This content doesn’t seem to be working.“ Dieser Inhalt | |
funktioniert nicht. | |
Klaus Raab, 37, ist Redakteur der taz.am wochenende. Sein letzter Text | |
bekam 175 Kommentare | |
23 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus Raab | |
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