# taz.de -- Entwicklung Medizinische Drohnen, 3-D-Drucker, Wearables. Diese Erf… | |
Bild: Sumitra, in einem Slum in Delhi 2009: War nicht soo ein Erfolg, der 100-D… | |
von Holly Young und Jan-Niklas Kniewel | |
Stellen Sie sich ein kleines, abgelegenes Dorf vor. Etwa in der | |
Zentralafrikanischen Republik. Die Kindersterblichkeit ist eine der | |
höchsten weltweit. Malaria die häufigste Todesursache unter den Jüngsten. | |
Ärzte erreichen die Siedlung nicht, weil der Bürgerkrieg noch immer wütet. | |
Die einzige Straße wird von Kämpfern blockiert. | |
Trotzdem wissen Mediziner in der Hauptstadt: Zahlreiche Kinder drohen zu | |
sterben. Das verraten ihnen Daten, die kleine, mit Sensoren ausgestattete | |
Arm- oder Halsbänder übermitteln, die von den Kindern getragen werden. Die | |
von der Weltgesundheitsorganisation ermöglichte Massenproduktion hat den | |
Stückpreis auf zwei Dollar pro Stück reduziert. In Friedenszeiten hat man | |
die Bänder verteilt. Zuvor wussten die Ärzte nicht einmal, dass viele der | |
Kinder überhaupt existieren. Ein großer Teil der Neugeborenen in den am | |
wenigsten entwickelten Ländern bleibt unidentifiziert. Entsprechend | |
kompliziert ist ihre Versorgung. Die automatische Übertragung der Daten | |
funktioniert problemlos, weil Hunderte Minisatelliten weltweit die | |
Verbindung sicherstellen. Die Ärzte beladen eine kleine Transportdrohne mit | |
den notwendigen Medikamenten und steuern sie über einen Laptop ins Dorf. | |
Was sich wie Science-Fiction anhört, ist keine. Alle genannten Techniken | |
wurden bereits entwickelt, befinden sich teils schon in der Testphase. | |
Ärzte ohne Grenzen nutzte für einen Praxistests Drohnen mit einem Kilogramm | |
Nutzlast und einer maximalen Reichweite von 20 Kilometern. | |
Sensoren, 3-D-Drucker oder Wearables – tragbare Elektronik, die Apple Watch | |
als bekanntestes Beispiel – könnten die Entwicklungsbranche verändern. Wer | |
sie nur für Spielereien hält und glaubt, die Zielgruppe für diese Technik | |
seien nur westliche Nerds aus Mittel- und Oberschicht, der irrt. In der | |
Entwicklungshilfe hat sich ein wachsender Glaube an die Hochtechnologie | |
breitgemacht. Der jüngste jährliche Rundbrief der | |
Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung prophezeit, dass die wesentlichen | |
Durchbrüche in der Armutsbekämpfung in den nächsten 15 Jahre durch | |
technische Innovationen erzielt würden. | |
Die Euphorie ist groß. Entsprechend steigt auch die Summe der in | |
Technologie-Projekte investierten Gelder. Was erhoffen sich die Personen | |
davon, die dahinterstecken? Die Expansion von Internet und Mobiltelefonen | |
hat unsere Gesellschaft seit dem Jahr 2000 unwiederbringlich verändert. | |
Auch die „Ziele nachhaltiger Entwicklung“ (Sustainable Development Goals, | |
kurz SDG), die im September 2015 die Millenniums-Entwicklungsziele | |
ersetzten, hat der Technikoptimismus geprägt. | |
Den illustrieren etwa die „Wearables for Good Challenge“, lanciert vom | |
UN-Kinderhilfswerk Unicef, wonach tragbare Sensoren „die nächste mobile | |
Revolution“ sein könnten. Unterstützt wird die Veranstaltung auch von ARM, | |
einem britischen Technikanbieter, dessen Prozessoren die meisten | |
Smartphones treiben. ARM investiert an vielen Stellen in der | |
Entwicklungsbranche. Ian Drew ist einer der Hauptverantwortlichen des | |
Unternehmens für Marketing und Geschäftsfeldentwicklung. Was er sich von | |
der Technik erwartet? „Es geht um Effizienz, das steht an erster Stelle. | |
Das macht die Datenerhebung einfacher. Mehr Daten wiederum machen die | |
Programme effektiver. Und das ermöglicht einen weitaus größeren | |
Wirkungsbereich“, sagt Drew. „Besitzt jemand ein Smartphone mit einigen | |
Schlüsselapplikationen, braucht man nicht immer einen Entwicklungshelfer | |
vor Ort samt Ausstattung.“ | |
Doch warum sollte man große Mengen an Geldern für Highechapparate | |
verwenden, wenn zahlreiche Menschen nicht einmal über Lebensmittel und | |
Impfstoffe verfügen? Erica Kochi ist Mitbegründerin von „Unicef | |
Innovation“, der Abteilung, die auch den Wearables-Wettbewerb angeschoben | |
hat. Kochi widerspricht dieser naheliegenden Kritik: „Technik hilft dabei, | |
etwa die mit der Lieferung von Impfstoffen verbundenen Kosten zu | |
verringern. Auch wenn es anfängliche Investitionen braucht, so spart man | |
doch langfristig, weil man das ganze System effizienter macht.“ | |
Doch es gibt auch Stimmen, die dem Ganzen weitaus skeptischer | |
gegenüberstehen. Einer von ihnen ist Kentaro Toyama vom Massachussetts | |
Institute of Technology, dem MIT in Cambridge. Der Informatiker und | |
Entwicklungsforscher ist kein Gegner der Technik, im Gegenteil. Aber Toyama | |
sieht ein utopisch digitales Dogma vorherrschen, gegen das er sich wendet. | |
Fast ein Jahrzehnt lang hat Toyama an Technologien zur Verbesserung der | |
Verhältnisse in den Entwicklungsländern gearbeitet. Er wurde sich vor allem | |
deren Grenzen bewusst. Seine Kritik hat er in seinem jüngst erschienenen | |
Buch „Geek Heresy“ zusammengefasst. Im Untertitel fordert er, dass man den | |
sozialen Wandel vor dem Kult um die Technologie schützt. | |
„Es gibt diese Tendenz in der internationalen Entwicklung, Fortschritt als | |
etwas zu sehen, bei dem es um technische Entwicklung und deren Verbreitung | |
gehe“, sagt Toyama. „Wir sehen Armut als ein Problem, dass wir lösen | |
müssen. Die natürliche Neigung ist, irgendwo reinzugehen und eine | |
technisierte Lösung anzubieten.“ Fragen rund um die Anwendung würden oft | |
stark vereinfacht, so dass letztlich oft Schwarzweißbilder vorherrschten: | |
Technologie als pauschal positive oder negative Kraft. Toyama hingegen | |
argumentiert, dass Stärken und Schwächen vor allem vom jeweiligen Kontext | |
abhingen. Doch der große Erfolg, der aus dem Silicon Valley herüberstrahle, | |
würde viele in blinde Euphorie verfallen lassen. | |
Weiterhin müsse man sie im richtigen Kontext sehen: Technologie ist kein | |
Allheilmittel und hat keine Eigenschaften, die ihre Effektivität | |
garantieren. Sie verstärke nur die hinter ihr stehenden menschlichen | |
Eigenschaften und Motivationen – ob gut oder schlecht. Die Fetischisierung | |
von Technologie aber könne in letzter Konsequenz dazu führen, dass man sie | |
als Symbol des Fortschritts selbst versteht, statt als Werkzeug für soziale | |
und ökonomische Entwicklung. | |
„Technische Geräte stellen eine tolle Fotogelegenheit dar“, spottet Toyama. | |
„Ein guter Anteil der Personen, die diese Techniken vorantreiben, wollen in | |
nur einem Bild zeigen, dass sie vermeintlich einem Haufen Leute geholfen | |
haben.“ | |
Und: So neu ist das alles nicht. Die Geschichte derartiger Lösungsansätze | |
ist auch eine zahlreicher Fehlschläge. „Der Reiz der glänzenden technischen | |
Spielerei ist groß“, warnt auch Erica Kochi von Unicef. Ein berühmtes | |
Beispiel für ein solch fehlgeschlagenes Projekt ist „One Laptop per Child“. | |
Dieses Projekt sei das Paradebeispiel für Technikversagen in der | |
Entwicklungszusammenarbeit, erörtert Wayan Vota von der | |
Nichtregierungsorganisation FHI 360, die sich der Suche nach lokalen | |
Lösungen für soziale Problematiken verschrieben hat. Vota war bis 2011 | |
sechs Jahre lang in das „One Laptop per Child“-Projekt involviert. Sie | |
wollten Millionen von Kindern in den Entwicklungsländern jeweils einen | |
Laptop im Wert von 100 Dollar zu Verfügung stellen. Doch das Konzept erwies | |
sich als völlig ungeeignet. Nach der Produktion und Verteilung von 2,5 | |
Millionen Laptops führte die Interamerikanischen Entwicklungsbank 2012 eine | |
Studie an 319 peruanischen Schulen durch: Es waren keine positive Wirkung | |
auf Rechen- oder Leseleistungen erzielt worden. Ebenso in Uganda. | |
„Die Lektion ist“, sagt Vota, „wenn du dich auf deine eigenen Annahmen | |
stützt und den Kontext nicht verstehst, dann erhalten deine vorrangigen | |
Nutzer vielleicht gar keinen Zugang zu der Technik oder benutzen sie kaum.“ | |
Wayan Vota erklärt, dass das gute alte Radio, wenngleich nicht so sexy für | |
die Medien, doch noch immer eine der wirkungsvollsten Techniken im | |
Entwicklungssektor sei. In Regionen mit hohen Analphabetenzahlen ist es | |
etwa eines der besten Instrumente, um Bildung, Informationen und Aufklärung | |
zu verbreiten. | |
Besonders beunruhigend sei die zunehmende Geschwindigkeit, mit der neue | |
Entwicklungen in den reichen Ländern des globalen Nordens als potenzielle | |
Retter der Entwicklungsländer betrachtet würden, sagt der | |
Computerwissenschaftler Toyama. Wearables etwa seien noch nicht einmal in | |
den Industrieländern verbreitet und in der breiten Masse akzeptiert. „Wir | |
sind also an einem Punkt, an dem wir die Entwicklungsländer nahezu als | |
Experimentierfeld benutzen.“ | |
Dennoch scheint sich ein Erfolgsrezept herauszuschälen, um die | |
Spitzentechnik in Entwicklungsprogrammen zu nutzen, ohne die alten Fehler | |
zu wiederholen. Die Wichtigkeit, die Bedürfnisse und den kulturellen | |
Kontext des Endnutzers ins Zentrum der Konzeption zu stellen, ist nun | |
weitgehend anerkannt. Eine App in einem Büro in London oder San Francisco | |
zu designen und einfach in den Entwicklungsländern zur Anwendung bringen zu | |
wollen, führt unausweichlich zu Massen ungenutzter, verstaubender Technik. | |
Näher am Geschehen ist da zum Beispiel WeFarm, ein Start-up-Unternehmen, | |
das es Farmern in Entwicklungsländern ermöglicht, Zugang zu elementaren | |
Informationen über Düngemittel, Saatgut, Tier- oder Pflanzenkrankheiten zu | |
erhalten. Das Konzept ist einfach: WeFarm ermöglicht es den Farmern, | |
einander gegenseitig zu helfen. Dazu muss man nur seine Frage per | |
kostenfreier SMS an die lokale Nummer des Unternehmens senden, dieses | |
leitet die Frage an ausgewählte andere Bauern weiter, und binnen kurzer | |
Zeit erhält der Fragesteller Antworten. Über 43.000 Nutzer hat WeFarm nach | |
Eigenangaben bisher in Kenia, Tansania und Peru. | |
Das Start-up will auch Geld verdienen: WeFarm bietet Unternehmen neben den | |
Daten auch gesponserte Tipps und Werbung an, die via SMS verschickt werden. | |
Das Hilfswerk Unicef selbst hat ein Regelwerk etabliert, das beispielsweise | |
Nachhaltigkeit und das Verständnis lokaler Zusammenhänge zum Kern der | |
Konstruktionen machen soll. Diese Regeln braucht es auch, um mit den neuen | |
Herausforderungen fertig zu werden, die mit neuen Wegen entstehen. Das | |
Problem des Datenschutzes und -eigentums etwa. | |
Ein anderes Problem ist die Expansion des privaten Sektors in Bereichen wie | |
der Lieferung von Hilfsgütern und Produkten in sich entwickelnde Märkten. | |
„Eines der Ziele der ‚Wearables Challenge‘ ist es, dass sie darüber | |
nachdenken, welchen Effekt Wearables und Sensortechnik außerhalb ihres | |
unmittelbaren Marktes erzielen könnten“, erklärt Kochi. | |
Diesbezüglich ist Kentaro Toyama besonders kritisch: „Unter meinen Kollegen | |
reden wir von diesen Programmen oft als neokolonialistisch. Sie sind nur | |
eine weitere Möglichkeit für den Westen, arme Länder auszubeuten. Im Namen | |
des Guten.“ | |
Dennoch stehen für Kochi die Fortschritte im Vordergrund, die dank der | |
Technologie unbestreitbar auf dem Feld der Entwicklung gemacht wurden: „Die | |
Technologie hat unsere Möglichkeiten stark erweitert, etwa was die | |
Umsetzung der SDGs betrifft. Wir können viel gezielter und mehr aufs | |
Individuum gerichtet arbeiten, anstatt nur mit Durchschnittswerten. Und | |
jetzt wirklich die Unterversorgtesten und Marginalisiertesten anvisieren.“ | |
Jene in unserem kleinen fiktiven Dorf zum Beispiel. Diese werden jedoch dem | |
Kindesalter längst entwachsen sein, bis entsprechende Lösungen wirklich | |
ausgereift sind und ineinandergreifen. | |
Holly Young ist Redakteurin des Londoner Guardian. Sie schreibt über | |
Entwicklungspolitik und war Hospitantin bei der taz.am wochenende | |
Jan-Niklas Kniewel ist derzeit bei der taz.am wochenende und berichtet | |
sonst als freier Journalist aus dem Nahen Osten | |
16 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Holly Young | |
Jan-Niklas Kniewel | |
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