# taz.de -- Hausbesuch Günter Dittes ist Schuhmacher im südbadischen Weil am … | |
Bild: Handwerk als Lebensphilosophie: Günter Dittes repariert auch am letzten … | |
Text und Fotos von Stefan Pangritz | |
Am Jahresende zu Besuch bei Günter Dittes (79) in Weil am Rhein. Die | |
südbadische Grenzstadt liegt in der Metropolregion Basel zwischen dem Rhein | |
und den Ausläufern des Schwarzwaldes. Nach Weinbau und Landwirtschaft | |
entwickelte sich die Stadt vor allem durch die Ansiedlung der | |
Textilindustrie und durch den Rangierbahnhof Basel-Weil, der den Ort zum | |
Verkehrsknotenpunkt macht. | |
Draußen: Im alten Stadtkern von Weil am Rhein sind die Giebelhäuser | |
süddeutsch eng aneinander gebaut, mit kleinen Fenstern und hölzernen | |
zweiflügligen Fensterläden davor. Durch einen schmalen Durchgang zwischen | |
einer Brandmauer und einer Scheune geht es in einen dunklen Hof, der durch | |
das gelbe S eines Schumacher-Schildes beleuchtet wird – Dittes | |
Schuhmacherei. Wer den Weg nicht kennt, findet nicht hierher. | |
Drin: Beim Eintreten schlägt einem die Wärme eines alten, mit Holz | |
beheizten Herdes und der Geruch nach Gummi, Leim und Leder entgegen. Zwei | |
alte Damen sind da und Günter Dittes mit zerfurchtem Gesicht, geröteter | |
Nase und dicker Brille über den altersmüden Augen. Seine Schürze ist | |
leimverschmiert. Hinter ihm ein Regal mit reparierten Schuhen, dazu die | |
alte Registrierkasse von 1960, diverses Schustermaterial, Leder- und | |
Gummireste, halb fertig reparierte Galoschen, Schleif- und Poliermaschinen | |
und Schubfächer, wo Schuhsohlen, Garnrollen und Lederfarben lagern. Die | |
alte Adler-Nähmaschine von 1900, die noch von Hand und Fuß angetrieben | |
wird, ist des Schuhmachers Liebling. Das Radio spielt Schlagermusik vom | |
Bodensee-Radio Seefunk. Es ist die Werkstatt von Günter Dittes, dem | |
vielleicht ältesten tätigen Schumacher Deutschlands, der dieses Jahr 80 | |
wird. | |
Der vorletzte Tag: Ein junges Paar aus der Schweiz kommt herein, um Schuhe | |
abzuholen, jetzt ist die Werkstatt voll, Abschiedsworte werden ausprobiert. | |
Am nächsten Tag ist Silvester, sein letzter Tag. Die eine alte Dame, | |
gebückt, weit über achtzig, erzählt die Geschichte des Hauses, in dem schon | |
ihre Eltern und Großeltern wohnten, damals, als Weil noch ein Dorf war. Die | |
andere weißhaarige Dame ist die zwei Jahre jüngere Schwester des | |
Schuhmachers. Das Thema ist eindeutig, ein trauriges: Eine Ära geht zu | |
Ende. Günter gehe jetzt auf Kreuzfahrt, hatte er ihr gegenüber gewitzelt, | |
was natürlich nicht stimmt, denn in Wirklichkeit musste er kürzlich das | |
eigene Haus und die Werkstatt, in der wir stehen, verkaufen, um seinen | |
Lebensunterhalt zu sichern, weil die Rente zu niedrig ausfallen wird. | |
Günter Dittes: Der Großvater und dessen Großvater waren Sattler. Als Günter | |
drei Jahre alt ist, gründet der Vater 1939 seinen eigenen Betrieb und führt | |
die Werkstatt an verschiedenen Orten in Weil am Rhein, bis er 1953 als | |
Schumachermeister mit seiner Familie hierherzieht und auch seine Werkstatt | |
da einrichtet. Zunächst arbeitet Günter mit fünfzehn Jahren in einer | |
Lampenschirmfabrik in Basel. 1957, als die Familie eine weitere Werkstatt | |
in der Stadt übernimmt und zudem ein kleines Schuhgeschäft eröffnet, | |
beginnt Günter die Lehre bei seinem Vater, wird Schuhmacher, macht den | |
Gesellenbrief. Handwerk ist seine Lebensphilosophie: „Schuster, bleib bei | |
deinen Leisten.“ | |
Kein goldener Boden: Mit dem Aufkommen von industriell gefertigten Schuhen | |
und Schuhdiscountern wird es für die Familie Anfang der siebziger Jahre | |
schwieriger. Das kleine Geschäft in der Stadt muss geschlossen werden. | |
1975, nach dem Tod des Vaters, übernimmt Günter die Werkstatt. Seither | |
gießt er jeden Morgen Lösungsmittel in den Leimtopf, sitzt auf seinem | |
niedrigen Schemel, näht, klebt, feilt, hobelt, schneidet und macht aus | |
abgetragenem Schuhwerk wieder brauchbare Schuhe. | |
Der letzte Tag: Es ist Silvester, einige alte Kunden und Kundinnen stehen | |
im Laden und man spricht über den Ruhestand. Es waren nicht nur Freude an | |
der Arbeit und sein Wille, die Tradition hochzuhalten, sondern auch die | |
Sorge vor einer zu kleinen Rente, die Günter Dittes zwang, bis jetzt zu | |
arbeiten. Irgendwann kamen immer weniger Kunden, und auch die Kräfte ließen | |
nach, beides zusammen gab den Ausschlag, einen Endpunkt zu setzen. Keine | |
Kreuzfahrt, sondern noch ein paar Jahre gute Luft, ohne Lösungsmittel | |
einzuatmen, das ist jetzt der Herzenswunsch von Günter Dittes. | |
Der Herzfehler: Mit 35 wurde bei Dittes ein schwerer Herzfehler | |
festgestellt. Damals im Spital in Basel leistete man gute Arbeit; mit | |
Operationen am offenen Herzen hatte man gerade erst begonnen. Danach stand | |
für den Schumacher fest: Ein Mann, der so schwach ist wie er, kann keine | |
Familie gründen. Es folgte ein langes Berufsleben, mit selbstbestimmter | |
Arbeit, in der eigenen Werkstatt, angefangen in einer Zeit, als Wegwerfen | |
noch nicht so selbstverständlich war, sondern Reparieren und instand | |
setzen – heute nennt man das nachhaltiges Wirtschaften. Doch es wurde | |
schwieriger. „Wer möchte für eine Reparatur bezahlen, wenn die Schuhe so | |
billig produziert und noch billiger verkauft werden“, fragt er, der sonst | |
nicht viel spricht. Teure Sohlen auf billigem Plastikuntergrund machen | |
wenig Sinn. Die Gutbetuchten mit ihren teuren Maßschuhen verirren sich | |
nicht in eine kleine abseitige Schusterwerkstatt. | |
Was bleibt? Was bleibt, ist ein Stück Bitterkeit, veranschaulicht an einer | |
Anekdote, die skurril und traurig zugleich ist: Ein alter Herr brachte | |
seine abgetretenen Hausschuhe aus Cordsamt, ob man da nicht noch etwas | |
machen könne. Der Kunde kam dann wochenlang nicht, um die reparierten | |
Schuhe abzuholen, bis Günter Dittes die Adresse selbst aufsuchte. Der alte | |
Herr war inzwischen gestorben, seine Witwe indes wollte nichts von der | |
Begleichung der Rechnung wissen, „sie brauche die Hausschuhe nicht, das sei | |
nicht ihr Problem“, erzählt Dittes. | |
Das Fazit des Schuhmachers: „Die Leute haben eben keine Moral mehr.“ Ist | |
das jetzt das bittere Resümee des langen Arbeitslebens? Nein, er sei sehr | |
zufrieden und das Prunkstück, die alte Adler-Nähmaschine, komme nicht weg, | |
die nehme er mit nach oben, in die gute Stube. „Es gibt immer etwas zu | |
nähen“, etwas, das zusammengehalten werden müsse, meint er. | |
Und wie findet er die Kanzlerin? „Die sagt doch immer nur: Kommet, kommet, | |
kommet, und dabei kenne er eine alte Dame mit Blutkrebs, die müsse trotz | |
schwerer Krankheit immer noch arbeiten, andere müssten, wenn vielleicht | |
auch selbstverschuldet, unter einer Brücke schlafen.“ Dittes redet sich in | |
Rage: „Ich bin nicht für die Linken, aber was unlängst die Wagenknecht | |
sagte, gefällt mir: Die deutsche Regierung verkauft so viele Waffen, und | |
jetzt kommt der Bumerang zurück.“ | |
Sie wollen auch besucht werden? Schicken Sie eine Mail an: | |
[email protected] | |
9 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Stefan Pangritz | |
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