# taz.de -- zwischen den rillen: Hier wird noch gelitten | |
Autre Ne Veut: „Age of Transparency (Sony Music) | |
Wenn Arthur Ashin mit der Gewalt seiner unverwechselbar heiseren Stimme | |
befiehlt, sich das eigene Herz aus der Brust zu reißen, gehorcht man | |
besser. Ein Jazz-Saxofon entleert sich hier, im Titeltrack seines dritten | |
Albums, in die Stille, während ein sakraler Chor zu Höchstem und der New | |
Yorker zur Selbstkrönung als R&B-Drama-King anhebt – und zwar derart | |
überschwänglich, verzweifelnd und hemmungslos, dass man sich für die Absage | |
ans reale Herzausreißen beinahe schämt. Bei Autre Ne Veut wird noch selbst | |
gelitten. Ashin landet Volltreffer auf dem emotionalen Solarplexus, wenn | |
er seufzt, stöhnt oder mit gemartertem Kreischen die Luft vibrieren lässt. | |
„Wir leben in einer Ära, in der sich jeder vor der Welt entblößt, um | |
möglichst viel Feedback zu erhalten“, erklärt der bekennende Twitter-Junkie | |
das Konzept hinter „Age of Transparency“. „Wir sind wie Fledermäuse, die | |
sich über Echos orientieren und nach Bedeutung und Verständnis suchen.“ | |
Der 33-jährige US-Amerikaner, Mastermind hinter dem Projekt Autre Ne Veut | |
(„Ich will niemand anderen“) singt neuerdings also nicht mehr von Sex, | |
Breakups und Post-Breakup-Sex, sondern vom Zwischenmenschlichen im | |
Zeitalter sozialer Medien. Erstmals zeichnet Ashin auf „The Age of | |
Transparency“ für die Produktion allein verantwortlich. Griffen ihm für | |
„Anxiety“ 2013 noch sein alter Campus-Mitbewohner Daniel Lopatin (Oneohtrix | |
Point Never) und der queere Rapper Mykki Blanco unter die Arme, nahm sich | |
Autre Ne Veut nun ein Jahr Zeit für seine eigenen Vorstellungen. Dafür | |
bestellte Ashin ein Jazz-Trio ins Studio und nahm die Tracks zunächst in | |
Form von Instrumentals auf. | |
Ein Plan seit Kindheitstagen, in denen sich der selbsternannte | |
Kontrollfreak durch die Plattensammlung seiner Großeltern wühlte und | |
Ornette Coleman und Alice Coltrane entdeckte. Im Geiste der | |
Chopped-&-Screwed-Technik des HipHop schnappte sich Ashin anschließend die | |
Jazz-Grundlage der jeweiligen Stücke und übersetzte sie in elektrifizierten | |
R&B, indem er Rhythmus, Tempo und Songstruktur radikal manipulierte. So | |
tänzeln Synthbässe am Break-Abgrund entlang, in dem die Streicher-Samples | |
schon liegen. Anderswo wird die Nadel ruckartig vom Vinyl gerissen und drei | |
Takte weiter dissonant aufgesetzt. Ashins gemeinsame Zeit mit Oneohtrix | |
Point Never, den er damals, wie er selbst bekannte, um seine Ambient-Musik | |
beneidete, dürfte am Screwing nicht ganz unschuldig sein. | |
## Beziehungsweltuntergang | |
Inzwischen hat Autre Ne Veut gelernt, das selbstgemachte Chaos zu | |
strukturieren. Trotz der Vielzahl seiner Einflüsse (Reggae, Motown, | |
Dirty-Dancing-Soundtrack, Michael Jackson, En Vogue und Breeders) versinkt | |
er nicht im Beliebigen. Die neun Stücke sind in herrliches Pathos getränkt | |
und gerade durch ihre Ungleichförmigkeit extrem spannend. Ergo hetzt „Age | |
of Transparency“ zwar ständig zum nächsten Beziehungsweltuntergang, doch | |
liegt Ashins große Kunst woanders: Der New Yorker Künstler, der auf dem | |
Vorgänger die eigene Depression sowie eine Psychoanalyse aufarbeitete, | |
wirkt bei aller Melodramatik und Sprunghaftigkeit immer aufrichtig. | |
Das gilt auch in Bezug auf seinen eigentümlich intensiven Gesang, in den er | |
alle Kraft wirft. „Ich habe nun mal nur diese Stimme. Andere können sehr | |
viel schöner singen, dafür aber kein Gefühl ausdrücken.“ Recht hat er. | |
Egal ob er einen aufwühlenden Gospel-Chor anführt oder ins qualvolle | |
Falsett fällt: Kathartisch-souliger R&B bleibt oberstes Gebot. „Switch | |
Hitter“ ist amphetamingeladener Sex, „Never Wanted“ die stadionfüllende | |
Synthie-Arpeggio-Variante nach Oneohtrix-Point-Never-Art. Auch Xiu Xius | |
Jamie Stewart scheint ein Bruder im Geiste; beide Musiker geben wenig auf | |
die Schranke zwischen Künstler und Privatmensch und gehen mitunter an | |
(nicht nur) akustische Schmerzgrenzen. Wer Autre Ne Veut live sehen durfte, | |
hat davon eine Ahnung bekommen. Genauso unmittelbar und schmerzhaft wie | |
Arthur Ashins Selbstzerfleischung, wenn er sich auf dem Boden wälzt und ins | |
Mikrofon ächzt, können seine Platten sein. | |
Matthias Manthe | |
4 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Matthias Manthe | |
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