# taz.de -- Eigenmarke Wartenummern sind das beste System, glaubt der Ingenieur… | |
Bild: Wartende Flüchtlinge sind allgegenwärtig. Zeigen sie einen Ansturm oder… | |
von Maria Rossbauer | |
Im Grunde, sagt Manfred Erlewein, geht es um Gerechtigkeit. Es gibt kein | |
Vordrängeln, kein Ermogeln eines besseren Platzes. Wer später hier ist, | |
kommt auch danach dran, egal ob er mehr Geld habe oder lauter schreien | |
könne. | |
Darum sei es auch so ruhig hier, in der Beratungsstelle der Deutschen | |
Rentenversicherung in Berlin-Wilmersdorf, einer der vielen Orte des Wartens | |
in Deutschland, an dem Erleweins System installiert ist: die | |
ARAS-Aufrufanlage. | |
Bei der Deutschen Rentenversicherung stellt man sich zunächst in eine kurze | |
Schlange, erzählt sein Anliegen und bekommt daraufhin eine Wartemarke für | |
die entsprechende Abteilung in die Hand gedrückt. Mein Zettel trägt die | |
Nummer 2021. „Beratung ohne Termin“, steht darauf. Die Frau am Tresen hatte | |
gesagt, etwa eineinhalb Stunden Wartezeit, prima Länge für ein Interview. | |
## Warteschlangentheorieist hohe Mathematik | |
Mit der Ruhe hat Erlewein Recht. Menschen schleichen hier leise über den | |
roten Teppich des riesigen Großraumbüros, setzen sich gemächlich in eine | |
der runden, grauen Sofaecken neben ein grünes Bürobäumchen. Sie legen ihre | |
Handtaschen oder ihre Papiere auf einen der runden Holztische und schauen | |
abwechselnd auf das kleine weiße Zettelchen, das sie bekommen haben, und | |
auf den Bildschirm vor ihnen, der anzeigt, wie viele Nummern noch vor ihnen | |
dran sind. Es gibt WLAN und Wasserspender. Luxus-Warten. | |
Die Wartenden sind geduldig und still. Es gibt kein „Ich war aber vor ihnen | |
hier“, keine misstrauischen Blicke, kein hastiges Aufspringen, um nicht | |
überholt zu werden. Sie fügen sich brav in das System, im Vertrauen darauf, | |
dass alles fair zugeht. Ein wenig sind sie wie Schafe, die sich vom | |
Hütehund in die richtige Ecke treiben lassen. | |
Es wirkt, als wäre das hier der Traum von Erlewein: Die gerechtest mögliche | |
Variante. Aber das täuscht. | |
Manfred Erlewein hat dieses System entwickelt. Nicht erfunden, sagt er, | |
vereinzelt gab es solche Unternehmen schon vorher, auch in Deutschland, vor | |
allem aber in Skandinavien. Und vor dem Computerzeitalter hätten die | |
Menschen auch schon Zahlen auf kleine Rollen gedruckt, in Blechkisten | |
gesteckt, zum Abreißen, und der Reihe nach aufgespießt. | |
Techniken für das Warten gibt es vermutlich, seit es Menschen gibt. Doch | |
man kann wohl sagen: Erlewein hat uns das lästigste Warten, das in den | |
Behörden, ein wenig angenehmer gemacht. „Das hat damals gut eingeschlagen“, | |
sagt er stolz. Damals ist 1986, als Erlewein mit den Wartemarken begann. | |
Aus Zufall. | |
Mathematiker beschäftigen sich seit fast hundert Jahren mit dem | |
systematisierten Warten. In der Warteschlangentheorie werden wartende | |
Menschen zu Zahlen und Buchstaben in komplizierten Formeln. Am Ende soll | |
ein noch effizienteres System herauskommen, das die Ankunfts- und | |
Bedienrate optimiert, die Wartezeit so gering wie möglich hält. | |
Da, wo das Warten nervt, gibt es bei den regelliebenden Deutschen Systeme – | |
nicht immer effektiv und fair. Nachts wartet man oft sinnlos an einer roten | |
Ampel, obwohl Kreisverkehre heute als sicherer und besser für den | |
Verkehrsfluss gelten. Wer auf der Liste für ein neues Organ steht, ist sich | |
nicht sicher, ob er wirklich zu Recht noch wartet. Denn wer wann ein Organ | |
bekommt, entscheiden Menschen. Menschen machen Fehler. Oder betrügen. | |
Erlewein ist ein gemütlicher Typ. Er trägt ein schwarz-weiß gestreiftes | |
Hemd, schwarze Jeans. Sein Gesicht ist glatt rasiert, seine kurzen, braunen | |
Haare stehen hoch, die Augen wirken zufrieden. Er sieht eher aus wie 45, | |
ist aber schon 62 Jahre alt. | |
Seit fast 30 Jahren gibt es seine Warteanlagen. Ein Kollege wollte den | |
Auftrag nicht, Erlewein schlug zu. Seine Firma hat fünf Mitarbeiter, die | |
den Vertrieb regeln, eine andere in Kooperation, erzählt er, übernimmt das | |
Technische. | |
Mehr als 4.000 seiner Aufrufanlagen stehen heute überall in der Welt, die | |
meisten davon in Behörden oder in den deutschen Botschaften. | |
Manchmal drückt man dort bei einem silbernen Kasten auf einen Knopf, um die | |
Wartemarke zu bekommen, mal auf einen Touchscreen. Über ein internes | |
Netzwerk sind die Geräte verbunden mit einem Computersystem, das die | |
Besucher der Reihe nach ordnet. Die klassische alte Anzeigetafel oder ein | |
moderner Bildschirm, durch den manchmal auch Nachrichtenticker oder kleine | |
Filmchen blinken, zeigen dann, wer als Nächstes wo hingehen soll. | |
Inzwischen gibt es solche Systeme in Deutschland in Supermärkten, | |
Bahn-Reisezentren, in Möbelhäusern, Krankenhäusern, bei Frisören und sogar | |
bei McDonald’s. Im Behördenland Deutschland lässt sich mit dem Warten viel | |
Geld verdienen. | |
## Wartenummern sind eindeutscher Exportschlager | |
Bing! Bing! Auf dem Bildschirm vor uns blinkt die Nummer 1119 auf, in | |
gelber Farbe. Eine ältere Frau steht auf, nimmt langsam ihre Jacke in die | |
Hand und schaut sich um, hinter welchem weißen halbhohen Büroschrank der | |
Bearbeiter mit der Nummer 38 wohl sitzt. Dann setzt sie sich in Bewegung. | |
„Es gibt keine bessere Möglichkeit zu warten, als das mit den Nummern“, | |
sagt Erlewein und fügt schmunzelnd hinzu: „Das ist natürlich auch mein Job, | |
das so zu sehen.“ Aber er hätte tatsächlich noch nichts Besseres gesehen. | |
Schlangestehen sei ja noch verhältnismäßig frei von Ärger. „Aber in einer | |
Schlange hängt man fest. Steht man da mit einem Kind und das muss aufs Klo, | |
muss man beim zurückkommen wieder seinen Platz einfordern. Und das | |
stresst.“ | |
Mit einer Wartenummer könne man im Idealfall noch einen Kaffee trinken | |
gehen und wiederkommen. Es sei also nicht nur gerecht, sondern verschaffe | |
einem auch das Gefühl, über seine Zeit selbst bestimmen zu können. | |
Inzwischen gebe es sogar Systeme, mit denen man auf seinem Smartphone den | |
Anzeigebildschirm verfolgen könnte. Noch praktischer. | |
Klingt gut, doch auch am Nummernsystem gibt es Kritik. Der Schwarzmarkt mit | |
Wartenummern an Berliner Einwohnermeldeämtern erinnerte daran, dass es | |
möglich ist, jedes System zu korrumpieren. | |
Gerade hat seine Firma die ARAS-Anlage auch in den Irak verkauft. Dort | |
werden 350 neue Passämter aufgebaut, in jedem wird es Erleweins Wartemarken | |
geben. Hochtechnisierte Ämter sollen das werden, sagt er, mit hohen | |
Sicherheitsstandards. Die Iraker, mit denen er bisher gesprochen hätte, | |
wollten Ordnung und Sicherheit, um Korruption zu verhindern. Was eignet | |
sich da besser als ein deutsches System. | |
Warten ist das Geschäft von Manfred Erlewein. Er hat es perfektioniert. | |
Aber er mag es nicht. Überhaupt nicht. Organisiert jemand die Wartezeit von | |
Menschen schlecht, empfindet er es als unverschämt. Wie bei manchen Ärzten, | |
bei denen man trotz Termin zwei Stunden warten muss. Furchtbar. | |
Für Erlewein ist Warten sinnlose Zeitverschwendung. Grundsätzlich. | |
Vielleicht ist er darum so dahinter, das Warten so zu systematisieren, um | |
das leidige Übel zumindest so gering wie möglich zu halten. | |
## Warten ist einFehler im System | |
Doch eben das, was Erlewein systematisiertes Warten nennt, funktioniere | |
leider nicht überall. Denn es gibt auch dieses Warten, das ein Teil des | |
Prozesses ist, des Events. | |
Am MoMA in New York etwa gehört Warten genauso zum Kult um das Museum wie | |
das Schlangestehen vor dem Berliner Berghain. Im Nachtclub wird das Warten | |
zelebriert. Komme ich hinein oder nicht? Der Türsteher entscheidet nach | |
gefallen, es geht nicht um Gerechtigkeit. Sonst würde man sich nicht so | |
freuen, hat man es reingeschafft. Nummern würden den Zauber nehmen. | |
Warten gilt also nicht immer nur als lästig. Manchen steigert es die | |
Verkaufszahlen, anderen die Vorfreude. Es gibt sogar Menschen, die sagen: | |
Nur wer hin und wieder warten muss, kommt überhaupt auf gute Gedanken. Nur | |
er findet Muße. Es gibt Bücher, die vom Glück des Nichtstuns berichten und | |
Gläubige, die gemeinsam auf ein besseres Leben im Jenseits warten und diese | |
Geschichten über Menschen, die in Warteschlangen ihre große Liebe finden. | |
Das mag alles sein. Doch wenn man ehrlich ist, ist Warten nichts anderes | |
als ein Fehler im System. Das Luxus-Warten mit WLAN, die vermeintliche | |
Fairness der Wartemarken, die Romantisierung lenkt die Menschen nur von | |
diesem, dem eigentlichen Problem ab. | |
„Das Phänomen des Wartens“, schrieb der Soziologe Werner Bergmann, | |
„[…]lässt sich als komplementäre und umgekehrt-proportionale Erscheinung | |
zur Zeitknappheit ebenfalls als ein Resultat mangelnder zeitlicher | |
Synchronisation zwischen Systemen verstehen.“ Heißt übersetzt: Nur wenn die | |
Zahl der Bearbeiter nicht zur Zahl der Kunden passt, entsteht Wartezeit. In | |
einem perfekten System wäre das Warten gar nicht notwendig. | |
Wären Behörden und Büros also besser organisiert, gäbe es mehr Mitarbeiter | |
und mehr Möglichkeiten, Dinge selbstständig online zu erledigen, bräuchte | |
es überhaupt keine Wartemarken, keine Warteräume mit bequemen Sofas, WLAN, | |
berieselnder Musik und netten, kleinen Videos. | |
Bing! Bing! Plötzlich erscheint meine Nummer auf dem Bildschirm. Nach nur | |
38 Minuten! Und jetzt? „Gehen Sie ruhig, ich warte“, sagt Erlewein. | |
Verdattert laufe ich zum Platz 44, erkundige mich über meine | |
voraussichtliche Rente und wie ich sie erhöhen könnte. Die Frau geht zum | |
Drucker, um die Aufstellung auf Papier zu holen und ich überlege kurz, ob | |
die Rente selbst eigentlich den Beginn oder das Ende allen Wartens | |
einläutet. | |
„Ich geh noch nicht so bald in Rente“, sagt Erlewein lächelnd, als ich | |
etwas zuversichtlicher und mit einem Stapel Infomaterial zu ihm | |
zurückkomme. Seine Kinder seien noch jung, bis die durch das Studium wären, | |
müsse er noch das Geld dafür verdienen. | |
Erlewein zieht seine Lesebrille aus der Tasche, öffnet seine Firmenmappe | |
und deutet auf ein Blatt mit Tabellen und Grafen. Am Ende des Tages werfe | |
sein System auch die Statistik des Wartens aus. So können Mitarbeiter am | |
Computer nachlesen, wie viel Marken für welche Abteilung ausgegeben wurden, | |
wie lange die mittlere Wartezeit war, wie lange jeder einzelne Besucher | |
gewartet hat, zu welcher Uhrzeit die meisten Marken ausgegeben werden. | |
Anhand derer könnte man dann die Online-Terminvergabe anpassen oder die | |
Pausenzeiten der Mitarbeiter, um aus dem vorhandenen System noch etwas | |
weniger Wartezeit herauszupressen. Es gibt noch viel zu tun für Erlewein. | |
Wäre es aber gut, die Wartezeit abzuschaffen? Sollten wir sie begrüßen, die | |
kurzen Unterbrechungen im Alltag? „Nee“, sagt er. „Muße finde ich woande… | |
Im Urlaub zum Beispiel, in einem Café am Strand.“ Da sitzt er dann, | |
stundenlang, und beobachtet Menschen, was die so machen. Er hat genauso | |
wenig zu tun, wie die Wartenden hier in der Beratungsstelle der Deutschen | |
Rentenversicherung. Doch er sitzt dort völlig freiwillig. Weil er es so | |
will. | |
Und das macht den Unterschied. | |
19 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Maria Rossbauer | |
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