# taz.de -- Was zu beweisen war | |
> # Menschen, die eine Vergewaltigung erlebt haben, twittern, warum sie | |
> nicht darüber sprechen konnten – und ernten Spott und Drohungen. Ganz | |
> toll, Internet | |
Bild: Das aktuelle Twitter-Hashtag heißt #WhyIsaidnothing – warum ich nichts… | |
von Margarete Stokowski | |
Das Internet hat mal wieder gezeigt, was es kann: hilfreich, schnell und | |
scheiße sein, und zwar alles gleichzeitig. Los ging es mit Clickbait von | |
Springer: Am Samstag brachte Welt Online einen Text über die Kunst- und | |
Kulturhistorikerin Camille Paglia, die erklärte, es gäbe eine „geschwätzige | |
Propaganda“ über Vergewaltigung. Frauen würden sich von einer | |
„überpolitisierten, opferzentrierten Rhetorik“ verführen lassen: „Rape | |
Culture“ sei ein „lächerlicher Begriff“. Welt Online machte aus dem | |
englischen Interview einen Text mit dem Titel „Das Schreckensmärchen von | |
der Vergewaltigungskultur“. | |
Viele Frauen, die auf Fragebögen angekreuzt hätten, sexualisierte Gewalt | |
erlebt zu haben, hätten diese nie angezeigt, schrieb Welt Online und | |
fragte: „Vielleicht geht es in vielen Fällen gar nicht um Vergewaltigungen, | |
sondern um Sex im Zustande des Vollrausches und nachträgliche Reue?“ Das | |
ist ein Denkfehler, den genau die machen, die keine Ahnung von | |
sexualisierter Gewalt haben. | |
Wenn jemand sexualisierte Gewalt erlebt hat und darüber nicht spricht oder | |
sie nicht anzeigt, heißt es eben nicht, dass die Tat nicht stattgefunden | |
hat. Es kann viele Gründe haben, warum Menschen schweigen. Unter dem | |
Hashtag #whyisaidnothing begann Marlies Hübner, „@outerspace_girl“, zu | |
erzählen, warum sie über ihre Erfahrungen nicht sprechen konnte: Weil ihr | |
gesagt wurde, „du wolltest es doch auch“. Weil die körperlichen Schäden | |
„nicht genug“ waren. Weil sie gelernt hatte, sich zu schämen. | |
Schnell fanden sich weitere Frauen und Männer, die über ihre Erfahrungen | |
berichteten. Der Hashtag verbreitete sich so schnell, dass er in der Nacht | |
von Samstag auf Sonntag zum zweitmeistbenutzten Schlagwort in Deutschland | |
wurde. | |
„Weil ich mir nach dem vierten oder fünften Nein albern vorkam, aber auch | |
keine hysterische Szene machen wollte“, schrieb eine Frau. Einige | |
berichteten von ihrer Angst, nur noch als Opfer gesehen zu werden oder als | |
Mann nicht als Opfer anerkannt zu werden. Andere erzählten, sie hätten zum | |
Zeitpunkt der Tat schlicht nicht verstanden, was passierte, weil sie zu | |
jung waren oder es nicht wahrhaben wollten. | |
Doch schon nach wenigen Stunden wurde der Hashtag mehrheitlich von Menschen | |
benutzt, die sich über ihn lustig machten. Sie twitterten Witze über | |
Vergewaltigung oder Bilder von gefesselten Frauen und beschimpften und | |
bedrohten diejenigen, die den Hashtag ernsthaft benutzten. Misha Anouk, | |
„@misharrrgh“, legte deswegen eine Sammlung von ernstgemeinten Tweets an, | |
ohne die Trolle. Er wusste selbst von einer guten Bekannten, dass sie dank | |
des Hashtags das erste Mal über ihre Erfahrung mit sexueller Gewalt | |
gesprochen hatte. | |
Die Trolle, die sich über „rape culture“ lustig machten, haben damit | |
gezeigt, wie treffend der Begriff eben leider ist: Das Wort „rape culture“ | |
bedeutet, dass unsere Kultur so beschaffen ist, dass sie sexualisierte | |
Gewalt häufig bagatellisiert, verdeckt und ermöglicht. Viele Menschen | |
schämen sich ohnehin, dass ihnen „so etwas“ passiert ist, oder sind sich | |
nicht sicher, ob das Erlebte „schlimm genug“ war, um als Übergriff zu | |
gelten. | |
Einer der häufigsten Vorwürfe gegen Menschen, die über sexualisierte Gewalt | |
sprechen, ist, dass sie nur Aufmerksamkeit wollen. Der traurige Witz ist, | |
dass über sexualisierte Gewalt zu sprechen zwar Aufmerksamkeit bringt, aber | |
keine gute. Betroffene werden immer mit denselben Vorurteilen konfrontiert | |
und nicht ernst genommen. | |
Dabei ist die bloße Existenz von Tweets zum Thema sexualisierte Gewalt | |
natürlich nur ein kleiner Schritt. Ähnlich wie bei anderen Aktionen wie | |
#aufschrei (zu Alltagssexismus), #notjustsad (zu Depressionen), #schauhin | |
(zu Alltagsrassismus) oder #CampusRassismus (zu Rassismus an der Uni) | |
generiert sich hier Glaubwürdigkeit immer noch nicht über die einzelne | |
Person, sondern über die Masse der immer wieder ähnlichen Erlebnisse. Oft | |
wird marginalisierten Gruppen erst geglaubt, wenn die Menge an Aussagen | |
überwältigend ist – genau dafür ist Twitter ein gutes Instrument. Auch wenn | |
die Reaktionen, die eine solche Aktion hervorruft, immer noch krass sind. | |
„Der größte Vorteil und der größte Nachteil am Internet: Jeder darf rein�… | |
twitterte Marlies Hübner am Sonntag. | |
22 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Margarete Stokowski | |
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