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# taz.de -- Panische Angst vor dem Bohrer
> Behandlung Über sechs Millionen Deutsche trauen sich nicht zum Zahnarzt.
> Mats Mehrstedt hat sich auf Angstpatienten spezialisiert – beim ersten
> Termin bohrt er nicht, sondern hört zu. Psychologie komme im
> Zahnmedizinstudium zu kurz
Bild: Bohrt im Hawaiihemd: Zahnarzt Mats Mehrstedt will seinen Patienten die An…
von Morten Luchtmann
Die Wände sind holzvertäfelt, neben alten, roten Sofas steht ein
Couchtisch, auf dem Mickey Maus-Comics liegen. In der zahnärztlichen
Angst-Ambulanz von Mats Mehrstedt in Hamburg gibt es keine Neonleuchten an
den Decken. Das Licht ist warm. Wer es bis hier her, auf seine
Beratungscouch geschafft hat, hat den schwersten Schritt schon hinter sich
– denn der Zahnarzt hat sich auf Angstpatienten spezialisiert, die
teilweise viele Jahre nicht in Behandlung waren.
„Manchmal haben Menschen jahrelang meine Telefonnummer in der Tasche, bevor
sie sich trauen anzurufen,“ sagt Mehrstedt. Der 64-jährige Schwede trägt
eine ausgewaschene blaue Jeans und einen unscheinbaren Pulli, oft aber auch
ein rot-weißes Hawaiihemd – seine Arbeitskleidung. Er ruht mit seiner
feinen Brille mit runden Gläsern und mit gefalteten Händen in seinem
Sessel, ganz entspannt. Seine beruhigende Ausstrahlung hilft ihm beim
Umgang mit Patienten.
Schon seit 1979 behandelt Mehrstedt in seiner Hamburger Praxis
ausschließlich Menschen, die an Zahnbehandlungsangst leiden. In Deutschland
sind davon nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und
Kieferheilkunde über sechs Millionen Menschen so stark betroffen, dass sie
den Zahnarzt meiden.
Als der Mediziner Mitte der 70er in Göteborg studierte, waren Kurse in
zahnmedizinischer Psychologie Pflicht. Das fehle in Deutschland, sagt er.
„Viele Zahnärzte verstehen die Ängste ihrer Patienten nicht, weil sie ihnen
nicht genug zuhören.“
Deswegen sitzt er beim ersten Treffen mit den Patienten hier am Couchtisch
und hört ihnen zu. „Wir müssen den Patienten dann erklären, dass es mögli…
ist, ohne Schmerzen Zähne zu behandeln,“ sagt Mehrstedt: Die Patienten
sollten bei der Behandlung mitbestimmen und jederzeit Stopp sagen können,
sagt er. Menschen, die Panik vor dem Bohrer hätten, sei als Kind beim
Zahnarzt häufig wehgetan worden, manche seien sogar gegen ihren Willen
festgehalten worden: „Das sind traumatische Erlebnisse.“
Sabine Becker* ist noch nie gerne zum Zahnarzt gegangen – seit der Geburt
ihres Kindes vor zwölf Jahren hat sie es ganz bleiben lassen. „Das Stechen
im Gaumen durch die Betäubungsspritze tut mir schon weh, wenn ich daran
denke“, sagt die 51-Jährige. Sie habe Angst, dass ihr während der
Behandlung große Schmerzen zugefügt würden: „Vor allem habe ich Angst vor
Spritzen.“
Während der Schwangerschaft hatte Becker Entzündungen im Unterleib und
bekam täglich Infusionen. „Diese Zeit war eine einzige Tortur für mich,“
zugunsten des Kindes habe sie alle Behandlungen über sich ergehen lassen.
Die Angst vor Spritzen wurde riesig. Mittlerweile geht Becker wieder einmal
im Jahr zu Krebsvorsorge und Blutuntersuchung – aber nur, weil sich das
nicht aufschieben lasse. Zum Zahnarzt hat sie sich noch nicht wieder
gewagt: „Ich habe über 30 Jahre alte Kronen im Mund, die dringend
ausgewechselt werden müssen“, sagt sie. Ein Zahnarzt wie Mehrstedt könnte
der gelernten mathematische Assistentin helfen.
Doch auch in Mehrstedts Behandlungszimmer lässt sich seine Profession nicht
länger verstecken. Es riecht nach Reinigungsmitteln. Es gibt das typische
kleine Waschbecken und die blauen Plastikbecher zum Mund ausspülen und eine
Grüne Behandlungsliege. Seine silbernen Instrumente liegen auf einem
Tablett
Trotzdem versucht Mehrstedt alles zu vermeiden, was an traumatische
Erlebnisse erinnern könnte. Um das Gefühl von Hilflosigkeit vorzubeugen,
lässt der Schwede seine Patienten sitzen, während er ihnen in den Mund
schaut. Oft stecken sich Patienten Ohrstöpsel mit ihrer Lieblingsmusik ein.
Mehrstedt beginnt die Behandlung mit Kleinigkeiten. Er bohrt nicht sofort
am größten Loch, um seinen Patienten zu zeigen, dass es möglich ist Zähne
ohne Schmerzen zu behandeln: „Angst ist etwas, das man lernt, genau wie den
Umgang mit ihr.“
Vollnarkosen bietet der Mediziner nur im Extremfall an: „Dadurch weichen
Patienten ihrem Problem aus. So bekommt man die Angst nicht in den Griff.“
Nur in Fällen, in denen mehrere Zähne auf einmal raus müssen oder der
psychische Zustand des Patienten es nicht anders zulasse, ist die
Vollnarkose das letzte Mittel. Mehrstedt beobachte jedoch, dass manche
Patienten, die auf Vollnarkose bestehen, ihre Zähne danach wieder
vernachlässigen.
„Ich bekomme durch meine Arbeit eine Misere aufgezeigt, die in unserer
Wohlstandsgesellschaft oft nicht gesehen wird,“ sagt der 64-Jährige. Für
zeitaufwendige Angstpatienten sei das deutsche Gesundheitssystem nicht
ausgelegt: „Es ist wichtig, den Menschen nicht als Nummer zu sehen.“
Zahnärzte ginge es zu oft nur um die Zähne, aber die Gefühle und Gedanken
der Patienten seien ebenso wichtig: „Es spielt eine Rolle, ob der Zahnarzt
denkt: Es muss schnell gehen oder es darf nicht wehtun.“
Früher hätten Zahnärzte bei Kindern und Erwachsenen nicht oft genug
Betäubungsspritze eingesetzt und so traumatische Erinnerungen gefördert.
„Dabei sind Betäubungsmittel eine der besten Erfindungen des 20.
Jahrhunderts“, sagt Mehrstedt. „Damit sollte man nicht zu geizig sein.“
Viele Menschen, die zu ihm kommen, haben sehr schlechte Zähne, weil sie
lange jeden Zahnarzt gemieden haben. Das könne zu schlimmen sozialen und
psychischen Folgen führen: Betroffene lächeln weniger, trauen sich nicht
mehr Leute anzusprechen oder meiden Gesellschaft komplett. „Das kann soweit
führen, dass man den Job verliert oder dass die Ehe kaputt geht,“ sagt
Mehrstedt – im schlimmsten Fall könne das zum Suizid führen.
Becker hatte bisher keine großen Probleme, obwohl ihr schon seit zwölf
Jahren niemand mehr in den Mund geschaut hat. „Mit meinen Zähnen habe ich
relativ viel Glück.“ Sie habe aber von einem netten Zahnarzt in ihrer Nähe
gehört. Im nächsten Jahr will sie sich einen Termin holen – endlich.
*Name geändert
19 Dec 2015
## AUTOREN
Morten Luchtmann
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