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# taz.de -- Der Flüchtling als Testfall für die Politik: Schlüsselfigur der …
Kolumne
von Aram Lintzel Bestellen und versenden
Von Jean-Paul Sartre bis John Rawls wurde die Formel variiert, nach der
sich die Gerechtigkeit einer Gesellschaft daran zeige, wie sie mit den
Schwächsten umgeht. Das Problem ist oft nur, dass sich nicht zweifelsfrei
angeben lässt, wer diese „Schwächsten“ sind. Sind es geringverdienende
Alleinerziehende, migrantische Jugendliche ohne Schulabschluss oder alte
Menschen ohne menschenwürdige Rente? Meist überkreuzen sich die
Diskriminierungsformen – in der Wissenschaft spricht man von
„Intersektionalität“ – und die Differenzierungen liefern bekanntlich
Schenkelklopfstoff für die PC-Verächter und Mattuseks dieser Welt. Was?
„Gehandicapte, alleinstehende, obdachlose, arbeitslose, schwarze
Transgender-Mutter“? Har har har, die spinnen, die Linken.
Die Ungewissheiten scheinen seit der sogenannten Flüchtlingskrise einer
befreienden Klarheit gewichen zu sein. Denn die kritische Gretchenfrage
nach den Schwächsten, mit denen man sich solidarisieren soll, lässt sich
intuitiv richtig beantworten. Man braucht sich nur das symptomatische
Lageso in Berlin anzuschauen und klar ist: Im Zweifel für die Flüchtlinge!
Sie haben mehr verloren als alle anderen. Hannah Arendt schrieb in ihrem
legendären Text „We Refugees“ aus dem Jahr 1943: „Wir haben unser Zuhause
und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf
verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von
Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die
Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den
ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ Viele Geflüchtete in
Notunterkünften dürften sich in dieser Selbstbeschreibung wiederfinden.
Der Flüchtling ist die Figur, an der sich eine lebenswerte Gesellschaft
bewähren muss, er ist so etwas wie der Testfall für die Politik an sich. In
dem 1996 auf Italienisch erschienenen Text „Jenseits der Menschenrechte“
knüpft der italienische Philosoph Giorgio Agamben an Arendts Überlegungen
an und erklärt den Flüchtling zu der Schlüsselfigur der Moderne: „Weil der
Flüchtling die alte Dreieinigkeit von Staat, Nation und Territorium aus den
Angeln hebt, ist er – diese scheinbare Randfigur – es vielmehr wert, als
die zentrale Figur unserer politischen Geschichte betrachtet zu werden.“
Der Flüchtling, so Agamben, erfordere „eine Erneuerung der Kategorien, die
nun nicht länger aufzuschieben ist“ Wenn man so will ist die
Abschottungspolitik der EU-Länder genau dies: der Versuch, die Botschaft
des Flüchtlings zu verdrängen, zu leugnen und endlos aufzuschieben. Die
Autonomie der globalen Migration durchlöchert die Nationen, worauf diese
mit prokrastinierenden und hilflosen Abwehrkämpfen reagieren. Früher oder
später aber, so Agamben, zwinge uns der Flüchtling, unser bisheriges
Verständnis des Politischen aufzugeben und „unsere politische Philosophie
ausgehend von dieser einzigen Figur neu aufzubauen“.
Im Flüchtling verdichten sich demnach die zentralen Fragen des Politischen
nach Demokratie, Gerechtigkeit, Ein- und Ausschluss etc. Dennoch irritiert
Agambens Überhöhung des Refugee zu einer geradezu
metaphysisch-messianischen Figur, die uns die Welt mit neuen Augen sehen
lässt. Es bleibt fraglich, ob dieser Über-Flüchtling noch als Individuum
wahrgenommen werden kann. Eine gute und gerechte Gesellschaft ist aber auch
nur die, in der die Subalternen eine hörbare Stimme haben.
Das Beeindruckende der letzten Jahre war, wie die Schwächsten nicht mehr
nur Objekte humanitärer Zuwendung sein wollten und den öffentlichen Raum
besetzten. In seinem soeben erschienenen Buch „Was Linke denken“ weist
Robert Misik darauf hin, dass der Flüchtlingsaktivismus das Ende der alten
linken Fürsprecherpolitik besiegelt habe und freut sich über die „unerhörte
Provokation, als vor zwei Jahren in Berlin, München und Wien eine
Flüchtlingsbewegung entstand, in der die Betroffenen erstmals selbst
agierten und zweitens für sich selbst sprachen“.
Sie wollten sich eben nicht mehr „in die Hände der Polizei und der
humanitären Organisationen“ (Agamben) begeben, sondern die politische Bühne
betreten. Die zunehmenden Rechtsklagen von Flüchtlingen gegen die Zustände
am Lageso sind in diesem Sinne als Kampf um den Status als Subjekt mit
politischen Rechten zu verstehen. Selbst die Schwächsten der Schwachen
wollen keine Opfer sein, denen – wenn überhaupt – ein bloßes Überleben o…
Rechte gewährt wird.
Aram Lintzel ist Referent für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion von
Bündnis 90/Die Grünen und Publizist
10 Nov 2015
## AUTOREN
Aram Lintzel
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