# taz.de -- KriegDie Hamas versucht, die Tunnel für den Schmuggel wieder aufzu… | |
Bild: Leben im Schutt: Ende August, ein palästinensischer Junge springt am Haf… | |
Von Francesca Borri | |
Sinnlos ihm zu sagen, dass ich keine Muslimin bin. Ich bin nicht mal | |
Palästinenserin. Und überhaupt, dass ich Typhus habe, und laut Koran das | |
Ramadan-Fastenbrechen darf. Es hat keinen Zweck, ihm irgendetwas zu sagen, | |
weil der Hamas-Polizist, der mich seit drei Stunden festhält, weil ich eine | |
Wasserflasche in meiner Tasche habe, weder Uniform noch Abzeichen trägt. | |
Ich weiß nur, dass er zur Hamas gehört, weil ich in Gaza bin. Es hat keinen | |
Sinn, mit ihm zu reden und sich zu erklären: Er redet nicht. Er befiehlt. | |
Am Ende sackt er 100 Dollar ein und vergibt mir meine Sünden. Dies ist die | |
Hamas heute. Die palästinensische Terrororganisation betreibt | |
Checkpoints, nur um dir mit einer Taschenlampe ins Gesicht zu leuchten und | |
sich zu vergewissern, dass der Mann, der dich fährt, dein Vater oder dein | |
Ehemann ist. Sie gehen auf Patrouille, um zu überprüfen, dass du dir | |
keine Zigarette anmachst, kein Bier trinkst, während du im Fernsehen | |
Fußball schaust. | |
Sie haben ein Auge darauf, was du schreibst. | |
## Die Familie, die im zerbombten Haus weiterlebt | |
Ein Jahr nach dem letzten Krieg besteht Gaza aus Hunger und Verzweiflung. | |
Rund 140.000 Häuser wurden zerstört oder beschädigt. Erst 12.000 wurden | |
wieder aufgebaut. Es gibt immer noch 100.000 Vertriebene. Bei diesem Tempo | |
schätzen die Vereinten Nationen, dass es 30 Jahre dauern wird, bis Gaza | |
wieder wie zuvor ist. Dass dann also 70 Prozent der Bevölkerung wieder | |
unter dem Existenzminimum leben. 50 Tage lang bombardierte Israel den | |
Gazastreifen vergangenes Jahr – 141 Quadratmeilen mit etwa 5.000 Menschen, | |
Durchschnittsalter 15 Jahre – mit einer Masse an Sprengstoff, die in ihrer | |
Gesamtheit der Hiroshima-Bombe gleicht. | |
Die Überreste von Shejaiya, das am stärksten bombardierte Gebiet, werden | |
mit Stofflumpen, Blech und Karton zusammengehalten. Jute. Holzplanken. Oder | |
überhaupt nicht. Palästinenser leben weiterhin in diesen durch | |
Artilleriebeschuss zerbrochenen Häusern. Du läufst vorbei, und anstelle von | |
Fenstern und Türen siehst du Tische, Sofas, Kühlschränke: Du sieht das | |
Innere der Wohnungen, Familien mit einem Glas Tee. So leben sie, auf diesen | |
schrägen Böden, auf rissigen Fundamenten, im Schutt verstecken sich | |
Blindgänger und Asbest. Die Decken über ihren Köpfen scheinen jeden Moment | |
zusammenzubrechen. | |
Wie zahllose andere sitzt Abu Nidal auf einem Teppich, ausgerollt auf Sand | |
und Staub. Die Schuhe stehen ordentlich neben der fehlenden Tür. Er schaut | |
aus einem Loch im Zement. Auf ein Kind, das vergebens versucht, aus einem | |
Stück Papier einen Drachen zu basteln. | |
Nach einem Jahr ist er zurückgekehrt. Er hatte hier bis zum Krieg mit | |
seiner Frau und seinen Söhnen gelebt, zehn Menschen. Sie hatten die Ruine | |
verlassen, er zahlte insgesamt 2.000 US-Dollar Miete, um für ein Jahr ein | |
neues Haus zu mieten. Nun ist er pleite, hat keinen Cent mehr. Er lebt von | |
Almosen, „nicht von Hilfszahlungen“, sagt er. „Ich habe mehr Journalisten | |
als NGOs getroffen.“ | |
Seine Söhne sind Mechaniker. Ihre Werkstatt war im Erdgeschoss, jetzt hängt | |
das, was davon übrig geblieben ist, in den Bäumen: ein Schutzblech, zwei | |
Reifen, eine Batterie steckt zwischen Zweigen. Er sitzt hier den ganzen | |
Tag, neben dieser Treppe, die ins Nirgendwo führt. „Sollen die Vereinten | |
Nationen kommen und es ist niemand mehr da?“ | |
Und doch sieht man, spaziert man durch die Trümmer, immer wieder Gebäude, | |
die frisch verputzt und gestrichen sind. Der einzige noch lebendige | |
Wirtschaftssektor hier ist der Schwarzmarkt für Zement. Palästinenser haben | |
Anrecht auf jeweils eine Tonne für 20 Schekel, das sind umgerechnet 5 Euro. | |
Aber das reicht nicht, um alles zu reparieren, und der Zement wird schnell | |
weiterverkauft, im Schnitt für 50 Euro pro Tonne. Es gibt Unterschiede in | |
der Qualität: 1,1 Millionen Tonnen stammen aus Israel, aber die | |
wertvollsten sind die 8.000, die aus Ägypten kamen, weil sie sich gut für | |
den Tunnelbau eignen. | |
Es gibt in Wirklichkeit keine Tunnel mehr. Sie wurden größtenteils von | |
Ägypten zerstört und nicht von Israel. Das geschah noch vor dem Krieg, | |
General al-Sisi, der neue Herrscher Ägyptens ist ein überzeugter Gegner der | |
Islamisten. 90 Prozent der Tunnel sind dicht, und die Hamas ist in | |
Schwierigkeiten: Schmuggel war ihre Haupteinnahmequelle. Wobei: „Schmuggel“ | |
ist das falsche Wort. Diese Wareneinfuhr wurde von einer | |
Aufsichtskommission geregelt, mit einem komplexen System aus Gebühren. | |
## Der Fiat Panda, der fast 20.000 Euro kostet | |
Es gab Hunderte Tunnel, manchmal direkt von der Hamas betrieben, manchmal | |
durch Vertragspartner. Durch jeden wurden pro Monat Waren im Wert von | |
100.000 Euro eingeschmuggelt. 70 Prozent von Gazas Budget nährte sich aus | |
dem Import. Und nun hat die Hamas auch viele ihrer großzügigen Freunde aus | |
dem Golf verloren. Sie konzentrieren sich mittlerweile auf andere | |
Hotspots. Auf Syrien und den Irak. Und die Hamas hat angespannte | |
Beziehungen zum Iran – ihrem Hauptunterstützer – wegen ihrer vorsichtigen | |
Haltung gegenüber Baschar al-Assad. So kratzt sie zusammen, was sie kann, | |
erhebt wieder Steuern. | |
Denn Gaza ist in Wahrheit nur auf Papier abgeriegelt. Es gibt mittlerweile | |
wieder fast alles. Sogar Nutella. Alles kommt aus Israel. Doch das | |
bedeutet, dass nicht nur alles zu hohen Preisen – zu israelischen, nicht | |
türkischen oder indischen Preisen – eingekauft wird. Sondern auch, dass auf | |
alles dreifach Steuer erhoben wird: von Israel, von der palästinensischen | |
Autonomiebehörde und von der Hamas. | |
Theoretisch hat in Gaza seit einem Jahr wieder Ramallah das Sagen. Die | |
Hamas akzeptierte das, weil sie kein Geld mehr hatte, um ihre 40.000 | |
Beamten zu bezahlen. Aber faktisch regiert sie weiterhin. Und es reicht | |
nicht, dass Ramallah nun die Beamten bezahlt. Die Preise steigen. Die Hamas | |
schlägt rund 10 Prozent auf die Nahrungsmittelpreise auf, 25 Prozent auf | |
Autos, 100 Prozent auf Zigaretten. | |
Ein Fiat Panda kostet in Gaza am Ende fast 20.000 Euro. Obwohl die | |
Arbeitslosigkeit bei 43 Prozent liegt und das Durchschnittsgehalt 300 Euro | |
beträgt. | |
Und obwohl zwei Drittel der Palästinenser von humanitärer Hilfe leben. | |
Hier gibt es beides: Jeeps mit getönten Scheiben und Esel. | |
Die wahre Stärke der Hamas war in Wirklichkeit schon immer die Schwäche der | |
Fatah, der Palästinenserpartei. Seit das Westjordanland sich für den Weg | |
über die Vereinten Nationen entschieden hat, für Verhandlungen mit Israel, | |
ist die Hamas mit ihren Raketen zum Markenzeichen des Widerstands geworden. | |
Der Würde. Aber sie hat nichts als Tote und Schutt erreicht. Und drei | |
Kriege später zweifelt niemand mehr daran, dass die Hamas Israels bester | |
Verbündeter ist. Denn sie spielt Israel in die Hände. | |
## Die Hamas, die die Fatah fürchtet – und umgekehrt | |
Ebaa Rezeq ist 31 Jahre alt, sie arbeitet als Feldforscherin für eine | |
führende Menschenrechtsorganisation. „Die Hamas regiert nicht. Sie ist | |
weder islamisch noch irgendetwas anderes. Wenn man beim Weintrinken | |
erwischt wird, landet man für einen Monat im Gefängnis, oder sogar für | |
sechs. Das variiert so, weil es hier keine Scharia gibt, es gilt überhaupt | |
kein Gesetz hier, nur der Wille der Hamas. Es gibt nur eine Bande, die Geld | |
mit der Belagerung macht – gestern mit Tunneln, heute mit Handel. | |
Die Hamas behauptet, pleite zu sein und keinen Pfennig für ihre Beamten zu | |
haben. Oder für den Wiederaufbau. Aber es ist kein Geheimnis: Der einzige | |
Wiederaufbau, der sie interessiert, ist der der Tunnel. Und der ihres | |
Waffenarsenals. Für Israel ist das perfekt. Ein, zwei Jahre, und es wird | |
wieder alles bombardieren. Es wird alles wieder zerstören“, sagt Ebaa | |
Rezeq. „Und alles wird von Neuem beginnen.“ | |
Der letzte Krieg endete mit der gleichen Vereinbarung wie der davor. | |
Denn während die Aufmerksamkeit der Welt sich auf Gaza richtet, scheint | |
Israels Aufmerksamkeit eher anderswo zu liegen. „Israel interessiert sich | |
für das Westjordanland, nicht für den Gazastreifen“, sagt Mustafa Barghuti, | |
einst einer der wichtigsten Unterhändler mit Israel. „Durch die | |
Beseitigung von Gaza wäre es 1,8 Millionen Araber los. Und es könnte das | |
Westjordanland annektieren, ohne seine jüdische Minderheit zu gefährden. In | |
naher Zukunft werden wir, die Palästinenser, Siedler eines israelischen | |
Westjordanlands sein.“ Barghuti vermittelt heute zwischen Hamas und Fatah. | |
Der Legislativrat, das palästinensische Parlament, wurde seit 2007 nicht | |
einberufen. Mahmud Abbas regiert im Grunde allein in seinem | |
Präsidentenpalast. Sein Mandat ist 2010 ausgelaufen. Und alle sind sich | |
einig: Nur Neuwahlen können diesen Stillstand überwinden. Aber jeder hat | |
Angst vor einem neuen Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah, jeder hat Angst | |
vor einer neuen Eskalation. | |
Während dies das einzige Diskussionsthema ist, während die Fatah die | |
militante Hamas zusammentreibt, und die Hamas die militanten Fatahs | |
zusammentreibt, verteilt der ehemalige Sicherheitschef der | |
palästinensischen Autonomiebehörde, Mohammed Dahlan – nun ein Geschäftsmann | |
mit einem geschätzten Vermögen von 120 Millionen Dollar – rollenweise | |
Geldscheine. | |
Wohltätigkeitsorganisationen aus den Golfstaaten, die ihm nahe stehen, | |
schenken frisch verheirateten Paaren 5.000 Dollar. 5.000 Dollar an die | |
Familien von Kriegsopfern. Wer auch immer du bist, was auch immer du | |
brauchst – 5.000 Dollar. | |
„Niemand hier unterstützt die Hamas. Aber auch niemand anderen. Es gibt | |
keinen politischen Aktivismus mehr“, sagt Abu Jazan, der seinen echten | |
Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er war einer der führenden Köpfe der | |
Bewegung des 15. März, die 2011 nach dem Vorbild von Tunesien und Ägypten | |
die Straßen von Palästina füllte, um Demokratie einzufordern. | |
Es war ein seltener Moment der nationalen Einheit, der aber auch die Fatah | |
und die Hamas kurzzeitig versöhnte, im Kampf dagegen. „All unsere Energie | |
ist vom Überlebenskampf ausgetrocknet. Auch, weil jeder Kampf ohne das | |
Westjordanland zum Scheitern verurteilt ist. Das einzige Zeichen von | |
Solidarität, dass während des Kriegs aus dem Westjordanland kam, war eine | |
Spende von Särgen“, sagt der Aktivist Abu Jazan. | |
## Die Generation, die nichts anderes mehr kennt | |
Sie werden dies alles nicht in Zeitungen lesen – noch nicht. Und nicht nur, | |
weil die Hamas Journalisten auf Schritt und Tritt folgt. Uns davon abhält, | |
uns frei zu bewegen, frei zu sprechen. | |
„Ihr schreibt alle über die gleichen Dinge: Parcour, Kinder, die | |
Surfschule. Diejenigen, die ihre Häuser in hellen Farben gestrichen haben, | |
diejenigen, die einen Swimmingpool aus den Trümmern geschnitzt haben. Der | |
beste Kaffee in Gaza. Bullshit. Ihr verkauft diese Idee, dass Existieren | |
gleich Widerstehen ist. Aber das ist es nicht, überhaupt nicht“, sagt Fady | |
Hanona, 28, Dokumentarfilmer. „Eine ganze Generation kennt heute nichts | |
mehr außer Gaza. Kennt nicht mehr als diese vier Straßen. Gewalt, Elend. | |
Kinder sagen: Ich bin fünf Jahre und drei Kriege alt. Wie werden sie Israel | |
und seinen ausgefeilten Mitteln der Herrschaft gegenüberstehen?“, fragt er. | |
„Sie werden ihr ganzes Leben Falafel frittieren, nicht mehr.“ | |
Eine der typischen Geschichten, die wir lieben sollen, ist zum Beispiel die | |
von Tamara Abu Ramadan. Sie ist 19, und lernt mithilfe von Filmen auf | |
YouTube Geige. Sie gilt als die kleine „Paganini“ von Gaza, die der | |
Belagerung trotzt. Aber ihre Geschichte ist keine Geschichte des | |
Widerstands. Sondern eine des Elends. | |
Sie sagt: „Du kommst hier als Reporterin nur einmal hin. Aber nur wir | |
kennen uns, nur wir wissen, wie sehr wir uns verändert haben. Wie wir | |
aufgegeben haben. Wir sehen überhaupt keine Zukunft. Du verbringst deine | |
Nächte in den vier Cafés, die es noch am Strand gibt. Und vielleicht | |
schreibst du, dass in Gaza das Leben vibriert. Aber hier gibt es kein | |
Leben. Wir sind leere Hüllen. Deine Leser mögen keine traurigen | |
Geschichten, aber um deinen Lesern das Abendessen nicht zu vermiesen, | |
hältst du dicht, während wir verhungern. Und du stärkst die Hamas.“ | |
Die Palästinenser wollen fortgehen. Sonst nichts. Alle Palästinenser. Sogar | |
die Hamas-Typen, die dich kontrollieren, wollen einfach nur weg. Sie | |
betteln nach einem Visum für Italien. Und abends, um zu vergessen, holen | |
sie sich eine Tramadol-Pille – ein Schmerzmittel für Hunde, dass wie eine | |
Art Ecstasy wirkt. | |
Und die offiziell verboten ist. Sie würden dich festnehmen. | |
Scharif ist 36 und hat vier Kinder. Er hatte einmal einen kleinen Laden für | |
Autoersatzteile. Aber er wurde immer wieder erpresst, weil er der Fatah | |
nahe steht. Dreimal war er im Gefängnis. Und dreimal hat er versucht, nach | |
Europa zu kommen, mit einem gefälschten Visum. Er wurde erwischt und | |
zurückgeschickt. Dabei ist das größte Hindernis für Palästinenser nicht das | |
Visum. Es ist Ägypten. Der Weg zum Flughafen von Kairo. In diesem Jahr | |
hatte die Grenze zu Rafah insgesamt 12 Tage geöffnet. Es gibt eine | |
Warteliste: zuerst die Kranken – 30 Prozent aller unentbehrlichen | |
Medikamente in Gaza sind ausverkauft. So können nur 3.000 Palästinenser die | |
Grenze überqueren. Aber 15.000 wollen weg. Die Ausreise kostet. 3.000 Euro, | |
und ein Polizist setzt deinen Namen auf die Liste. | |
Ich frage Scharif, was er sich von Europa erträumt. Er sagt: „Einmal | |
duschen.“ | |
Francesca Borri, 35, arbeitete als Menschenrechtsaktivistin in Israel und | |
Palästina. Seit 2012 berichtet sie als freie Journalistin aus | |
Kriegsgebieten | |
31 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Francesca Borri | |
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