# taz.de -- Im Anwohnerpark | |
MANJA PRÄKELS | |
## Teil 6: Oma Heinrich lüftet die Gardine | |
Die Straße war nicht sehr alt und auch nicht neu. Sie verlief von Ost nach | |
West oder von West nach Ost – je nachdem, ob man sich ihr vom Park mit | |
seinen hoch in den Berliner Himmel ragenden Neubaublöcken oder vom Friedhof | |
her näherte, dessen wilder Baumwuchs das Carré mit Sauerstoff und | |
schwitzenden Joggern versorgte. Wohl existierten einige historische | |
Abhandlungen, zur Geschichte des Viertels, Romane, die das Leben seiner | |
Bewohner vor, zwischen und nach den Weltkriegen beschrieben, sogar die | |
kurze Zeit der Deutschen Demokratischen Republik kam darin vor, doch nichts | |
von alldem interessierte die beiden Männer, die sich über die Mülltonnen am | |
Supermarkt hermachten. Zielsicher sortierten sie Essbares aus, beförderten | |
sogar Pfandflaschen ans Licht. Die Tage waren noch oktoberwarm, aber nachts | |
fielen die Temperaturen bereits unter null Grad Celsius. Es war wieder so | |
weit. Hildegard blickte sorgenvoll zur alten Kaufhalle hinüber. Ihr Herz | |
tat weh. Der Zahn auch. Gleichzeitig freute sie sich über das Wiedersehen. | |
Immerhin, die Männer hatten den letzten Winter überstanden! Den Großteil | |
des Jahres halfen die beiden vor den Toren der Stadt als Landarbeiter aus. | |
Sie hatten der Wirtin schon mal bei einer Havarie geholfen. Auf Polnisch | |
klingen Flüche wie Musik, dachte sie, während sie ihre Kneipe aufschloss. | |
Oma Heinrich lüftete ihre Küchengardinen wie jeden Tag nach der | |
Morgenzigarette, indem sie die Fensterläden weit aufstieß und den robusten | |
Stoff – eine Erwerbung aus dem legendären Centrum-Warenhaus – nach draußen | |
schluppte und zur Straße baumeln ließ. | |
Bienchen leckte sich zwischen den Beinen. Die grunzenden Geräusche, die der | |
betagten Pudeldame dabei entfleuchten, störten Frauchen nicht im | |
Geringsten. Alles war gut, solange sich Biene an die goldene Regel hielt: | |
Nicht in die Wohnung kacken! | |
Oma Heinrich, deren vollen Namen niemand zwischen Friedhof, Park, Kaufhalle | |
und blaulicht kannte, hustete beherzt aus dem Fenster hinaus. Der Blick auf | |
die andere Straßenseite ließ sie innehalten: Da saßen doch tatsächlich | |
diese Ökos wieder vorm Laden, wo es doch schon Oktober war und viel zu kalt | |
dafür! Die bekämen später alle Nierenprobleme – recht so! Frau Heinrich, | |
geborene Roth, in Kindertagen im ganzen Kiez nur Lotte genannt, konnte die | |
Leute da drüben nicht leiden. Das war der Westen, konnte gar nicht anders | |
sein, denn wo sonst würden sie auf die Idee kommen, sich im Herbstwind vor | |
die Tür zu setzen und Tee aus Schalen zu schlürfen. Charlotte Heinrich | |
hatte genug gesehen. Sie ließ die Fenster offen stehen, damit der Rauch | |
abziehen konnte, stellte das Geschirr in die Spüle, streichelte ihrer | |
treuen Gefährtin über die Frisur und griff nach der Leine. „Hopp hopp.“ | |
Bienchen wedelte mit dem ganzen Hintern. | |
Leise rieselte der Packungsinhalt in die Tasse. Die feinen Körnchen der | |
Heilerde versackten im Kaffee, ohne seine Farbe zu beeinträchtigen. Seit | |
ein paar Jahren war die Gastritis Annes ständiger Begleiter, genau | |
genommen, seit sie den Laden eröffnet hatte. Gerade dieses Haus, hatte sie | |
ein Freund damals gewarnt, der die Straße und deren Bewohner noch aus der | |
Schulzeit kannte, sei denkbar ungeeignet für eine solche Mission. Hatte er | |
wirklich Mission gesagt? | |
Anne erinnerte sich noch gut an sein Gelächter, als sie ihm erwiderte: „Ich | |
bin eben eine Pionierin!“ | |
„Na, dann: Immer bereit!“ | |
Einstmals war dies der Sitz eines legendären Schusters gewesen. An die | |
Details der Geschichte konnte sie sich blöderweise nicht mehr erinnern. Sie | |
wusste nur, dass sich unter dieser Adresse nun ihr Bioladen hielt, länger | |
und erfolgreicher, als es ihr irgendjemand zugetraut hatte. Viele | |
Ladengeschäfte waren mit den Jahren ringsum entstanden, kamen und gingen. | |
Ihr Domizil aber blieb. Und nichts daran war ihr einfach erschienen, oder | |
selbstverständlich. Aber das war es, was die Leute glaubten. Oder? | |
„Verkaufen? Spinnst du?“ | |
„Sagt der Buschfunk.“ | |
„Quatsch.“ | |
„Aber von alleene kommt so wat ja nich...“ | |
„Mensch Fritze, jetz hör uff. Du weeßt doch, daß mir der Laden jarnich | |
jehört.“ | |
„Na in Teilen schon ...“ | |
Hildegard hatte keine Lust, zu streiten. Der Backenzahn tat immer noch weh. | |
Auf dem Weg zur Arbeit war ihr die Kette vom Rad gesprungen, mitten auf der | |
Kreuzung. Dann die Polen im Müllcontainer zur Begrüßung, und jetzt auch | |
noch der Kneipentratsch von gestern Nacht. Wenn der Schatz in ihrer | |
Hosentasche nicht wäre... Der Lieferant kam gerade zur rechten Zeit. | |
„Wartense, ick mach dit Hoftor uff.“ | |
Polternd rollte der Fahrer die Fässer durch die Einfahrt. Fritze war sauer, | |
doch er konnte nichts tun. Also schlich er, auf seinen Stock gestützt, zur | |
Tür. Im Freien angelangt, trat er erst mal Oma Heinrich auf die Füße. | |
Bienchens Leine hätte ihn beinah zu Sturz gebracht. Charlotte meckerte ihr | |
Oma-Heinrich-Meckern, so laut und schrill und ungerecht, dass Anne sich | |
bemüßigt fühlte, dem Stammgast von nebenan zur Seite zu springen: „Das war | |
doch keine Absicht.“ Oma Heinrich warf Anne nur einen funkensprühenden | |
Blick der Verachtung zu. Im Vorbeigehen zischte sie ihr etwas ins Ohr, das | |
Anne nicht verstand, ihr aber einen Schauer über den Rücken jagte. | |
„Alles jut bei dir?“ | |
Fritze war ein bisschen peinlich, dass ihm ausgerechnet die Ökotante | |
beigestanden hatte. Bislang war es ihm gelungen, deren Kosmos weitestgehend | |
zu ignorieren. Das fiele ihm fortan schwerer. Aber wirklich wunderlich | |
erschien ihm an diesem Nachmittag sein Hildchen. Nicht nur, dass er die | |
patente Freundin selten so schweigsam und mürrisch erlebt hatte. Nie im | |
Leben war sie ihm ängstlich erschienen. Nun aber stand Hildegard bleich im | |
Türrahmen und wirkte, als habe sie einen Geist gesehen. Warum, zum Himmel, | |
erschrak sie so vor dieser dämlichen Alten? | |
15 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Manja Präkels | |
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