# taz.de -- Taucherin am Rand der Stadt | |
> Nach unten Luz María war einst Tänzerin im Tropicana. Seit Jahren lebt | |
> sie von der größten Müllkippe Havannas | |
Von Carlos Manuel Alvarez | |
Luz María war furchtbar hässlich, aber von einer Hässlichkeit, die eher | |
Zärtlichkeit als Abwehr hervorrief. Ein Strich von einer Frau. Ein | |
39-jähriger Strunk, der aussah wie 60 und Dinge erlebt hatte, die in kein | |
Menschenleben passten. | |
Nur die Eckzähne waren ihr geblieben, Teile des rechten Ohrs fehlten. Ihre | |
Knochen traten hervor, als wollten sie sich aus dem Körper befreien. Der | |
eingetrocknete Speichel in ihren Mundwinkeln bildete eine hartnäckige weiße | |
Paste. Wenn sie weinte, liefen keine Tränen. Drängte man sie dazu, etwas | |
aus ihrem früheren Leben zu erzählen, tat sie es, als ginge es gar nicht um | |
sie, sondern um jemand anderes oder als erfinde sie eine Geschichte. | |
Sie war in den Neunzigern aus dem Osten des Landes gekommen. Tänzerin war | |
sie gewesen, erst in Varadero, dann im Tropicana. Sie hatte ihre Mutter und | |
ihre Großmutter nach Havanna mitgebracht. Dann musste sie ihre Arbeit | |
aufgeben, weil die Großmutter erkrankte. Als sie zurückkommen wollte, hatte | |
eine andere ihre Stelle bekommen. | |
Irgendwann lernte sie ihren Ehemann kennen, er war es, der sie zum bote | |
mitnahm. Aber ihr Mann war zweimal wegen Müllsammelns festgenommen worden, | |
und jetzt war sie allein und hob die Briefe auf, in denen er ihr sagte, | |
dass er sie liebte und sie auf ihn warten solle, und sie schickte ihm | |
Zigaretten ins Gefängnis. | |
## Müll ist Geld | |
Der bote de 100 ist Kubas größte Müllhalde. Sie misst 104 Hektar im Quadrat | |
und nimmt 80 Prozent der Abfälle Havannas auf, um die 1.650 Tonnen am Tag. | |
Als sie 1976 eröffnet wurde, war sie auf eine Kapazität von 7,8 Millionen | |
Kubikmetern ausgelegt. Von Anfang an wurde sie als Gefahr für die Umwelt | |
bezeichnet, fast vierzig Jahre später gilt sie als Brennpunkt der | |
Verschmutzung. Den bote de 100 weiterhin als „Deponie“ zu bezeichnen ist | |
ein technischer Euphemismus. Er ist eine Müllkippe. | |
Während der Sonderperiode nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks | |
und dem wirtschaftlichen Chaos, das über Kuba hereinbrach, verschlimmerte | |
sich auch die Situation am bote de 100. Später gelang es den Servicios | |
Comunales, dem öffentlichen Unternehmen, das für Müllabfuhr und | |
-behandlung zuständig ist, sich selbst zu refinanzieren. Aber seit der 2005 | |
begonnenen staatlichen Devisenbewirtschaftung und der Neuverteilung der | |
Einnahmen durch die Regierung mussten die Servicios Comunales mit anderen | |
öffentlichen Dienstleistern aus den Bereichen Verkehr, Gesundheit, Bildung | |
und Wohnungsbau konkurrieren. Aus diesem Grund erhielten sie von Januar | |
2005 bis Juni 2006 nicht einen Centavo. | |
Die Recyclingindustrie weiß, dass Müll kein Müll ist, sondern Geld. Und im | |
kleineren Maßstab wissen das auch die ganz normalen Leute. Im bote de 100 | |
gibt es verschiedene Klassen von Müllsammlern – „Taucher“ genannt. Von d… | |
Behörden verfolgt werden sie alle. | |
Nimmt man sie fest, erhalten sie eine Anzeige wegen der Verbreitung | |
ansteckender Krankheiten, aber sobald man sie laufen lässt, kommen sie | |
zurück und werden wieder festgenommen, oder andere werden festgenommen, die | |
ebenso zurückkommen, und wenn sie nicht zurückkommen, kümmert es auch | |
niemanden. Es gibt immer wieder welche, die das schmutzige Geschäft neu | |
erlernen. | |
Es ist ein Teufelskreis, bei dem die Ordnungskräfte am Ende verlieren. | |
Erstens, weil jemand, der beschließt, im Müll und vom Müll zu leben, schon | |
alles verloren hat. Und zweitens, weil der monatliche Mindestlohn von | |
umgerechnet 15 Dollar genauso hoch ist wie der Ertrag aus einem Tag | |
Schufterei auf der Müllkippe. | |
Es gibt die aus Havanna, die täglich von Neuem an der Stelle antreten, wo | |
die Lastwagen die Abfälle abladen. Die, die drei oder vier Nächte bleiben | |
und wie besessen sammeln, um dann für einige Zeit wegzubleiben. Die, die | |
wie Nomaden aus anderen Provinzen anreisen und zwei oder drei Monate | |
bleiben, bis sie eine ansehnliche Summe verdient haben. Und schließlich | |
diejenigen, die fest am Rande der Deponie leben, wie Luz María. | |
## Alles von der Halde | |
„Ich bin erschöpft von so viel Arbeit“, sagte sie. „Mir tut alles weh und | |
die Knie machen nicht mehr mit.“ | |
Ihre Behausung bestand aus Kartons und Säcken, Plastikdeckeln von | |
Mülltonnen, Schaumstoff und anderen Materialresten. „Da wasche ich mich“, | |
sagte sie, „da kann mich keiner sehen.“ Sie zeigte in eine dunkle Ecke. Ein | |
Brett trennte das Bad von dem, was das Wohnzimmer sein sollte. Die | |
Gegenstände, die Dekoration, alles stammte von der Halde. | |
„Hier lenke ich mich ein bisschen mit Fernsehen ab.“ Ein einsamer | |
Bildschirm auf einem Tisch. Es gab Plastikblumen, Bildchen von Johannes | |
Paul II. und vom Kamasutra und Modezeitschriften, von deren | |
Hochglanz-Titelseiten die aseptischen Gesichter wollüstiger Blondinen | |
lächelten. | |
Ihr Bauch war aufgedunsen. Der Schorf darauf war so hart, dass es schien, | |
als trüge sie eine doppelte Haut. Ihr Nabel ragte hervor wie ein Drehknopf | |
des Elends, ihre Stimme klang wie das Scharnier eines verrosteten Tores. | |
Aber immer zog sie mit einem blassblauen Filzstift die zitternden Umrisse | |
ihrer Lippen nach und tönte damit die faltige Haut unterhalb der | |
Augenbrauen. | |
Carlos Manuel Alvarez, 25,ist Kolumnist bei OnCuba , arbeitet auch für BBC | |
Mundo und verschiedene lateinamerikanische Medien. | |
14 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Carlos Manuel Alvarez | |
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