# taz.de -- „Die Stadt ist viel offener und bunter“ | |
> Integration In den 80er und 90er Jahren kamen Tausende Geflüchtete in die | |
> Stadt – wie nahmen die Berliner sie auf? Bosiljka Schedlich und Hamid | |
> Nowzari müssen es wissen. Schedlich kam 1968 als Gastarbeiterin nach | |
> Berlin, Nowzari floh 1980 aus dem Iran. Beide engagieren sich seit | |
> Jahrzehnten für Flüchtlinge | |
Interview Julian RodemannFotos Wolfgang Borrs | |
Auf Hamid Nowzaris Schreibtisch im Verein für iranische Flüchtlinge stapeln | |
sich Ordner; in der Mitte liegt ein dickes Buch: „Ausländerrecht“. Bosiljka | |
Schedlich kommt etwas zu spät zum Gesprächstermin. Nowzari serviert | |
Kardamomtee, eine persische Spezialität. Neben die Teegläser stellt er eine | |
Schachtel mit türkischem Honig. Fast zwei Stunden lang sprechen die beiden | |
über Flucht, Heimat und Orangen in der AEG-Fabrik. | |
taz: Frau Schedlich, Herr Nowzari, am Landesamt für Gesundheit und Soziales | |
(LaGeSo) warten Flüchtlinge wochenlang, um sich als Asylsuchende | |
registrieren zu lassen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das LaGeSo | |
besuchen? | |
Hamid Nowzari: Die Zustände dort erinnern mich an die Ausländerbehörde in | |
den 80er Jahren. Dort musste ich als Student immer meine | |
Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen. Zwar waren es damals weniger | |
Menschen als heute, die in Schlangen vor dem Amt warteten. Aber die Behörde | |
war überfordert – wie heute das LaGeSo. Ich kann mich noch genau erinnern, | |
wie der damalige Regierende Bürgermeister, Richard von Weizsäcker, sagte: | |
„Sind wir in Berlin, oder sind wir woanders?“ Es war unglaublich. | |
Bosiljka Schedlich: Auch in mir wecken die Bilder vom LaGeSo Erinnerungen. | |
In den 90er Jahren flohen 45.000 Menschen vor den Jugoslawienkriegen nach | |
Berlin. Die Behörden waren nicht vorbereitet, obwohl man den Krieg kommen | |
sehen konnte. Die Geflüchteten mussten sich am Waterloo-Ufer am Halleschen | |
Tor registrieren lassen. Dort bildeten sich lange Schlangen. Einige | |
drängelten sich nach vorne durch, um eine Registrierungsnummer zu | |
ergattern. Die haben sie dann für 50 Mark an andere verkauft. Im Winter | |
organisierten die Behörden Schiffe auf dem Landwehrkanal, die am Ufer | |
anlegten. Dort konnten Frauen und Kinder unterkommen, um nicht draußen in | |
der Kälte warten zu müssen. | |
Was ist heute anders als damals? | |
Nowzari: Ganz klar: Das sind die unzähligen, freiwilligen Helfer. Besonders | |
in diesem Sommer. Das ist einmalig. So etwas habe ich in meinen 30 Jahren | |
hier in Berlin noch nie erlebt. | |
Wie war das in den 80er und 90er Jahren? | |
Schedlich: Es haben damals vor allem diejenigen geholfen, die selbst | |
Erfahrungen mit Flucht gemacht hatten. Oder deren Familienangehörige | |
geflohen waren. Sie waren die Ersten, die mit angepackt haben. Erst später | |
erzählten sie von ihren Vertreibungs- und Fluchterfahrungen im Zweiten | |
Weltkrieg. | |
Nowzari: Das ist auch heute noch so. Mitte der 80er Jahre kamen viele junge | |
Iraner nach Berlin, sie flohen aus dem Iran–Irak-Krieg. Heute sind hier | |
viele fest verwurzelt. Sie sind es, die uns am häufigsten anrufen und | |
fragen: „Was kann ich für die Flüchtlinge tun? Wo kann ich Spenden | |
abgeben?“ Sie wollen etwas zurückgeben. Damals haben wir ihnen geholfen. | |
Heute helfen sie den Neuankömmlingen. | |
War die Hilfsbereitschaft damals größer oder kleiner als heute? | |
Schedlich: Sie war anders. Heute helfen vor allem junge Menschen, die | |
größtenteils keinerlei Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gemacht | |
haben. Ich habe das Gefühl, dass sie der Welt angehören und die | |
Neuankömmlinge nicht als Fremde betrachten. Das ist großartig. Ich habe das | |
Gefühl, dass sich da etwas Grundlegendes ändert. | |
Woran liegt das? | |
Nowzari: Die Stadt ist insgesamt viel offener und bunter geworden. Schauen | |
Sie auf die Straße. Gehen Sie in eine Universität. Heute arbeiten viele mit | |
türkischen Kollegen oder haben einen iranischen Freund in der Schule. Das | |
Ausland ist für uns nicht mehr nur ein Urlaubsziel. Nein, dort leben | |
Menschen und wir nehmen sie stärker wahr. Die Kommunikation zwischen den | |
Kulturen ist leichter – auch durch soziale Netzwerke im Internet. | |
Sie sagten, die Behörden waren damals überfordert. Wieso, glauben Sie, | |
haben sie daraus nicht gelernt? | |
Nowzari: Ich weiß es nicht. Fest steht: Die Registrierung muss neu | |
organisiert werden. Das ist das absolut Wichtigste. Und hier muss endlich | |
der Staat zu hundert Prozent seiner Aufgabe nachkommen. Es dauert immer | |
noch zu lange. | |
Hamid Nowzari gestikuliert mit den Armen. Er stößt dabei sein Teeglas um – | |
der Kardamomtee läuft über den Tisch . | |
Nowzari: Ich kenne Menschen, die seit 15 Monaten auf ein Interview warten. | |
Das wirft sie aus der Bahn. | |
Kann so jemand überhaupt noch integriert werden? | |
Schedlich: Die Menschen, die hierher kommen, erwarten nicht das Paradies. | |
Sie erwarten nicht, dass sie mit offenen Armen empfangen werden und sofort | |
einen Aufenthaltsbescheid bekommen. | |
Sie meinen, die Menschen haben Verständnis dafür, 15 Monate auf ihren | |
Antrag zu warten? | |
Schedlich: Nein! Das muss keiner verstehen. Das ist ein Extremfall. Aber | |
wir müssen mit den Menschen reden, ihnen erklären, wieso es so lange | |
dauert. Dann können sie es auch zum Teil nachvollziehen. Die Bereitschaft | |
dazu ist bei den Flüchtlingen vorhanden. Und wenn sie schon so lange warten | |
müssen, dann können sie die Zeit sinnvoll nutzen. Sie sollten schon in die | |
Kurse geschickt werden, Deutsch lernen und auf eine Arbeit vorbereitet | |
werden. | |
Herr Nowzari, spielt die Religion bei der Integration eine Rolle? | |
Nowzari: Weniger. Natürlich müssen wir Menschen mancher religiöser | |
Strömungen stärker aufklären als andere. Aber entscheidend sind die | |
öffentlichen Angebote. Wenn die stimmen, ist viel erreicht. | |
Was meinen Sie konkret? | |
Nowzari: Ob Integration gelingt, hängt von vielen Dingen ab: davon, ob die | |
Kinder zur Schule gehen können, ob man eine eigene Wohnung hat, ob man | |
arbeiten gehen kann. Ganz wichtig sind die Kinder der Neuankömmlinge. Wenn | |
sie eine Chance auf ein besseres Leben haben, ist aus Sicht der Erwachsenen | |
viel erreicht. Dann sind auch sie bereit, mehr für ihre Integration zu tun: | |
Deutsch lernen, sich engagieren und die Gesellschaft mitgestalten. Wichtig | |
ist auch, dass sich beide Seiten aufeinander zu bewegen. Sowohl die | |
Neuankömmlinge als auch die Deutschen. | |
Wer muss sich mehr bewegen? | |
Nowzari: Beide. Nur dann klappt die Integration. | |
Frau Schedlich, hat die Integration bei den Flüchtlingen aus den | |
Jugoslawienkriegen geklappt? | |
Schedlich: Sie sind integriert. Alle, die eine Chance auf einen | |
Ausbildungsplatz bekommen haben, haben sie auch genutzt. Etliche sind | |
Akademiker geworden und arbeiten heute in sehr hohen Positionen. | |
Am Samstag jährt sich die Deutsche Einheit zum 25. Mal. Welche Rolle | |
spielte sie in den 90ern bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten? | |
Schedlich: Damals war Deutschland mit sich selbst beschäftigt. Die | |
Stasi-Vergangenheit musste aufgearbeitet werden. Die Ost–West-Unterschiede | |
waren riesengroß. Heute hingegen habe ich das Gefühl, dass die Deutschen in | |
diesem großen Deutschland zu sich gefunden haben. Sie sind politisch und | |
wirtschaftlich stärker. Und fühlen sich wohler hier. Das ist eine ganz | |
andere Situation, in der die Flüchtlinge heute ankommen. | |
Glauben Sie, dass Flüchtlinge heute in den Westbezirken anders aufgenommen | |
werden als in den Ostbezirken? | |
Schedlich: Viele junge Helfer sind nach der Wende geboren, oder waren | |
Kleinkinder, als die Mauer fiel. Für sie ist egal, in welchem Teil der | |
Stadt sie wohnen. Sie nehmen die Neuankömmlinge sehr herzlich auf; von | |
kleinen, rechten Minderheiten einmal abgesehen. | |
Und diejenigen, die Berlins Teilung noch miterlebt haben? | |
Schedlich: Da ist es anders. Viele denken noch sehr unterschiedlich. Die | |
DDR hat 40 Jahre lang existiert. Ich glaube, es braucht auch 40 Jahre, | |
damit sie aus den Köpfen der Menschen verschwindet. Das merken manchmal | |
auch die Menschen, die neu in Berlin ankommen. | |
Nowzari: Ich glaube, innerhalb von Berlin gibt es da weniger Unterschiede | |
zwischen Ost und West als andernorts. Vergleichen Sie zum Beispiel Dresden | |
mit Köln. Dort ist klarer zu sehen, dass Wessis mehr Erfahrung im Umgang | |
mit Zuwanderern haben als Ossis. So etwas braucht Zeit. Man muss lernen, | |
miteinander klar zukommen, zusammen zu leben, sich auch mal zu streiten. | |
Schedlich: Das stimmt. Im Osten fehlten die Erfahrungen. | |
Auch in der DDR gab es Gastarbeiter. | |
Nowzari: Aber die wohnten alle in staatlich kontrollierten Gettos. Ich | |
kenne einige Vietnamesen und Afrikaner, die damals in der DDR gelebt haben. | |
Soweit ich das von denen erfahren habe, waren sie nicht wirklich in Kontakt | |
mit den Deutschen. | |
Schedlich: Es gab kaum menschliche Kontakte, weil das staatlich nicht | |
gewollt war. In den 90ern kamen dann viele Ostdeutsche mit fremden Menschen | |
in Kontakt. Und die Ossis haben ihnen geholfen und sie herzlich | |
aufgenommen. Selbst dort, wo Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte verübt | |
wurden, gab es Solidaritätsbekundungen mit den Geflüchteten. Sie sehen, wie | |
wichtig der direkte zwischenmenschliche Kontakt ist. | |
Sie selbst kamen 1968 als Gastarbeiterin nach Westberlin. Wann haben Sie | |
sich zum ersten Mal in der Stadt zu Hause gefühlt? | |
Schedlich: Von Anfang an habe ich mich unter den Menschen wohl gefühlt. In | |
den ersten sechs Monaten habe ich in der AEG-Telefunken-Fabrik gearbeitet. | |
Ich habe Nadeln von Plattenspielern mit dem Mikroskop kontrolliert. Ich | |
musste überprüfen, ob sie glatt und rund waren. Neben mir saß eine Frau | |
Röhmhild. Wir haben uns häufig unterhalten. | |
Auf Deutsch? | |
Schedlich: Nein, auf Englisch. Deutsch sprach ich noch nicht. Nach der | |
Arbeit bin ich damals in die Schule gegangen, um Deutsch zu lernen. Das hat | |
Frau Röhmhild gefallen, glaube ich. Außerdem hatte sie eine Tochter in | |
meinem Alter. Frau Röhmhild brachte mir immer Joghurt und Orangen mit. Das | |
werde ich nie vergessen. Sie war meine Brücke zu Berlin. Mit der Farbe des | |
Himmels kam ich erst nach 25 Jahren klar. Erst da ist meine Seele in der | |
Natur angekommen. Aber kulturell und menschlich habe ich mich von Anfang an | |
zu Hause gefühlt. | |
Und Sie, Herr Nowzari? | |
Nowzari: Ich habe in den 80er Jahren an der TU Berlin Bauingenieurswesen | |
studiert. Als ich 1989 mit dem Studium fertig war, habe ich meine Familie | |
in den USA besucht. Nach drei Wochen dachte ich mir: „Das kann doch nicht | |
sein – Ich vermisse Berlin!“ (lacht) Da war mir klar, dass Berlin meine | |
Heimat ist. | |
2 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Rodemann | |
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