# taz.de -- Selber schuld? | |
> ARMUT Die Zahl der Wohnungslosen steigt in Deutschland rapide an, die | |
> Rede ist von 335.000 Menschen. Doch um wen handelt es sich eigentlich? | |
> Acht falsche und zwei wahre Vorurteile über Obdachlose | |
Bild: Bank im Regierungsviertel, Berlin | |
von Timo Reuter | |
„Alle Wohnungslosen sind obdachlos.“ | |
Nein, man muss unterscheiden: Wohnungslos sind Menschen, wenn sie über | |
keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Laut | |
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist ihre Zahl seit 2008 um | |
fast 50 Prozent auf nun 335.000 gestiegen – bis 2018 wird gar mit über | |
einer halben Million Wohnungsloser gerechnet. Eigenheimbesitzer gehören | |
nicht dazu, dafür aber Menschen, die in Notunterkünften, Heimen oder | |
Frauenhäusern schlafen. Auch, wer keine eigene Wohnung hat und provisorisch | |
bei Freunden unterkommt, zählt zu den Wohnungslosen – insofern machen die | |
39.000 Menschen, die tatsächlich ohne jede Unterkunft auf der Straße | |
schlafen, nur einen kleinen Teil der Wohnungslosen aus. Sie werden übrigens | |
Obdachlose genannt – und nicht Penner (abwertend), Clochard (idealisierend) | |
oder Nichtsesshafte (Nazijargon). | |
„Wer in Deutschland auf der Straße schläft, ist selbst schuld!“ | |
Mit der Schuld ist es so eine Sache. Freiwillig jedenfalls schlafen die | |
wenigsten auf der Straße, außer vielleicht ein paar investigative | |
Journalisten und eine Handvoll Hartgesottener. Die meisten Wohnungslosen | |
erzählen von „Schicksalsschlägen“ wie Trennung, Jobverlust oder | |
Gewalterfahrungen, die zum Verlust der eigenen Bleibe führten. Persönliche | |
Katastrophen, die jeden treffen können. Dazu kommen die sozialen Gründe: | |
In Deutschland gibt es immer mehr Arme, die Mieten steigen rapide an, der | |
Bestand an Sozialwohnungen erreicht einen neuen Tiefstand. Und daran sind | |
nicht die Wohnungslosen schuld. | |
„Flüchtlinge verschärfen die Konkurrenz um günstige Wohnungen!“ | |
Ja, es kommen derzeit Hunderttausende Geflüchtete, die spätestens nach | |
ihrer Anerkennung ein Anrecht auf eine Wohnung haben. Zudem gibt es auch | |
immer mehr EU-Zuwanderer, die eine Bleibe suchen. Nun herrscht harte | |
Nachfrage-Konkurrenz aber immer dort, wo das Angebot knapp ist. Der Staat | |
hat es dem Markt überlassen, preiswerten Wohnraum zu schaffen. Und das ist | |
fehlgeschlagen. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Alle treten in eine | |
Konkurrenz um den zumindest in Ballungszentren kaum verbliebenen Wohnraum – | |
dann gewinnen die Finanzkräftigen. Oder die Verdammten dieser Erde | |
vereinigen sich … | |
„Aber es gibt in Deutschland Millionen leer stehender Wohnungen, da kann | |
man die Wohnungslosen doch reinpacken.“ | |
Das klingt nach Zwangsumsiedlung: Wer mag schon gern nach Görlitz oder | |
Goslar ziehen? Die meisten Menschen jedenfalls nicht, sonst würden dort | |
nicht so viele Wohnungen leer stehen. Das hat damit zu tun, dass es in | |
strukturschwachen Gegenden oft an Arbeitsplätzen und Infrastruktur mangelt. | |
Außerdem stehen oft nicht die richtigen Räume leer, denn vor allem | |
Wohnungen für Einpersonenhaushalte fehlen. Die Frage ist zudem, wem die | |
leer stehenden Wohnungen gehören. Da viele kommunale Baugesellschaften ihre | |
Wohnungen verkauft haben, müsste man die privaten Eigentümer erst enteignen | |
– nicht die beste Voraussetzung, um Vorurteile abzubauen. | |
„Alle Obdachlosen sind Alkoholiker!“ | |
Nein. Aber viele, denn das Leben auf der Straße lässt sich ohne Alkohol | |
kaum ertragen. Kalte Hofeinfahrten, schmutzige Parks – und noch kältere | |
Blicke. Oder wann haben Sie einem Obdachlosen das letzte Mal ein Lächeln | |
geschenkt? | |
„Wer Obdachlose sieht, schaut lieber weg.“ | |
Stimmt, zumindest fast. Manche wagen doch einen Blick – oder helfen sogar, | |
besonders gerne zu Weihnachten. Die Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas | |
haben die christlichen Grundsätze nicht vergessen und betreiben viele | |
Tagestreffs und Notschlafstätten. Das tun die Kommunen übrigens auch, sie | |
sind per Gesetz dazu verpflichtet. Erfassen will die Wohnungslosen aber | |
niemand. Die neusten Zahlen beruhen auf Schätzungen der | |
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, die Bundesregierung | |
verweigert sich seit vielen Jahren einer amtlichen Statistik. Auch | |
europaweit gibt es keine verlässlichen Daten, obwohl Schätzungen von einem | |
Anstieg der Wohnungslosigkeit in fast allen EU-Ländern ausgehen. | |
„In Deutschland muss niemand erfrieren!“ | |
Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland rund 300 Obdachlose | |
erfroren. Meist gehören sie zum Kreis der vital Gefährdeten. In Frankfurt | |
am Main stehen auf dieser Liste etwa 80 Personen, die oftmals schon lange | |
auf der Straße leben, jede Unterbringung ablehnen und höchstens durch | |
aufsuchende Dienste wie eine Straßenambulanz versorgt werden. Doch sind sie | |
deshalb selbst schuld? Oftmals erfrieren Obdachlose nicht abseits der | |
Zivilisation, sondern mitten unter uns. Erst Anfang dieses Jahres wurde ein | |
erfrorener Obdachloser vor dem Frankfurter Hauptbahnhof gefunden. Dieser | |
wird täglich von bis zu einer halben Million Menschen frequentiert. | |
„Obdachlose Kinder? Gibt es, aber nicht in Deutschland!“ | |
Die gute Nachricht vorweg: Um keine Gruppe der Wohnungslosen wird sich so | |
gut gekümmert wie um Minderjährige. Dennoch bleiben zwei schlechte | |
Nachrichten: Es gibt auch in Deutschland wohnungslose Kinder. Wie viele | |
genau, ist unklar. Die neuen Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 28 | |
Prozent der Wohnungslosen Frauen und 9 Prozent minderjährig sind. Auf der | |
Straße dürften allerdings nur wenige von ihnen leben. Die zweite schlechte | |
Nachricht ist übrigens: Die Sorge um Obdachlose scheint mit ihrem Alter | |
abzunehmen … | |
„Früher gab es keine Obdachlosen!“ | |
Oh doch. Ganz früher waren praktisch alle obdachlos, damals war das aber | |
nicht so schlimm, denn die Menschen hatten ein Fell, das sie gegen Kälte | |
schützte. Die ersten obdachlosen Promis dürften Maria und Josef gewesen | |
sein. Und auch ihr Sohn lebte zeitweise ohne echte Unterkunft. Die soziale | |
Herkunft entschied also schon damals über die Schichtzugehörigkeit. Das | |
Christentum – und auch andere Religionen – ist übrigens voller Geschichten | |
über Obdachlose. So gehört es beispielsweise zu den „leiblichen Werken der | |
Barmherzigkeit“, Menschen ohne eigene Bleibe zu beherbergen. Im sonst eher | |
dunklen Mittelalter wurde das oft beherzigt, später jedoch begann die | |
Ächtung Obdachloser. | |
„Es gibt viele Vorurteile gegen Obdachlose.“ | |
Was glauben Sie denn? | |
7 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Timo Reuter | |
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