# taz.de -- UMNACHTUNG Jean Rhys erweckt eine Nebenfigur, die von Charlotte Bro… | |
Bild: Postkoloniale Fortschreibung eines Klassikers: Jean Rhys in jungen Jahren | |
von Ulrich Rüdenauer | |
In Charlotte Brontës viktorianischer Gothic Novel „Jane Eyre“ gibt es | |
eine merkwürdig konturlos bleibende Nebenfigur, die als „mad lady in the | |
attic“ vorgestellt wird – die erste Frau von Edward Rochester, der großen | |
Liebe von Jane Eyre. Sie ist eine aus Jamaika stammende Kreolin namens | |
Mason, die Rochester einst von einer Reise in die Karibik nach England | |
mitbrachte. Dem Wahnsinn verfallen, wird sie auf dem Anwesen von Rochester | |
versteckt gehalten. Bei einem Brand kommt sie ums Leben. Was aber hat es | |
mit dieser geheimnisvollen Frau auf sich? Wie geriet sie nach England? Was | |
hat ihren Wahnsinn ausgelöst? | |
Jean Rhys, die 1890 als Tochter eines walisischen Vaters und einer | |
kreolischen Mutter in der Karibik geboren wurde, mit 16 nach England ging, | |
exzessiv lebte und in den Zwanzigern und Dreißigern einige Bücher | |
veröffentlichte, erzählt die Vorgeschichte von Mason in „Die weite | |
Sargassosee“. Der 1966 in England veröffentlichte Roman wurde als | |
postkoloniale, feministische Fortschreibung des Klassikers von Charlotte | |
Brontë gelesen und gehört heute selbst zur Weltliteratur. | |
Es ist eine von Unheimlichkeiten und Undurchschaubarkeiten erfüllte | |
Kindheit, die darin geschildert wird: Antoinette wächst bei ihrer | |
verwitweten Mutter auf. Die kreolische Familie lebt verarmt auf Jamaika, | |
von den schwarzen Dienstboten missfällig beäugt. Nur Christophine, eine | |
mysteriöse Alte, die Voodoozauber praktiziert, scheint treu zu ihrer Herrin | |
zu stehen. Antoinette erzählt von dieser Kindheit; wir hören ihre Stimme, | |
die nichts Naives hat und doch das Geschehende nicht recht begreifen kann. | |
Zwischen verzweifelten Träumen, staunender Neugier und trostloser | |
Wahrnehmung der Realität changiert die Erzählerin. Es ist eine unheilvolle | |
Welt. Städte tragen den Namen Massacre, Jungen heißen Desaster. Als der | |
Engländer Mason die attraktive Witwe heiratet, scheint es für die Familie | |
bergauf zu gehen. Aber der Fremde verkennt die Lage – in einer dramatischen | |
Szene werden die Masons von ihrem Hof vertrieben, das Gebäude brennt | |
nieder. Die Mutter gleitet in geistige Umnachtung, Antoinette wird in ein | |
Nonnen-Internat gesteckt, bis ihr Stiefvater sie mit einem jungen Engländer | |
verheiratet. Auch wenn er bei Rhys keinen Namen trägt, handelt es sich | |
dabei doch offensichtlich um Edward Rochester aus Brontës „Jane Eyre“. | |
Der zweite Teil wird aus dessen Perspektive erzählt: Bald nach der Hochzeit | |
schleichen sich Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner Frau in seine | |
Gedanken. Verleumdungen und Andeutungen tun ihr Übriges; ihre kreolische | |
Herkunft schürt Bedenken, in hellem Licht betrachtet erscheint ihm ihre | |
Schönheit wie etwas Teuflisches. Er, von Moralvorstellungen und englischer | |
Etikette bestimmt, fühlt sich bedrängt vom Verführerischen und Sexuellen | |
seiner Frau, dem Klima und den Umständen, unter denen er jetzt leben soll. | |
Das Glück der frisch Verheirateten verglüht. | |
Rhys erzählt ihre Farce in der Kulisse einer grausam licht anmutenden und | |
glühenden Karibik als Gegenstück zur romantisch-dunklen Geschichte der Jane | |
Eyre. Durch die Augen Rochesters sehen wir die Liebende Antoinette | |
endgültig zerbrechen. Sie zerfällt, ausgebrannt und verstoßen wie einst | |
ihre Mutter. Das Paar, das keines mehr ist, verlässt Jamaika. Der dritte | |
Teil des Buches, und hier fließen „Die weite Sargassosee“ und „Jane Eyre… | |
zusammen, spielt auf jenem Gefängnisdachboden in England. | |
In der gelungenen Neuübersetzung von Brigitte Walitzek, die den Erzählern | |
und Figuren unterschiedliche Stimmlagen geben kann und in der Sprache schon | |
eine bedrohliche Atmosphäre heraufbeschwört, lesen wir von einer aus den | |
Fugen geratenen Welt: Wer Opfer und Täter ist, kann keineswegs eindeutig | |
benannt werden. Aberglaube und Vernunft streiten sich in den Protagonisten, | |
wie die Landschaft in ihrer Unberührtheit zugleich etwas Furchteinflößendes | |
annimmt: Kakerlaken, Ameisen, Ratten sind Vorboten eines Unglücks, das | |
nicht notwendig erscheint, aber schicksalhaft. Schönheit und Magie, | |
Sehnsucht und Zerstörung sind die Motive, die das Buch prägen – und einen | |
verwirrenden Eindruck hinterlassen. | |
Als hätte das bewegte, verschwenderische, unglückliche Leben der Autorin | |
Jean Rhys in Bertha Mason eine Spiegelfigur gefunden. Rhys hat sie von | |
ihrer Dachbodenexistenz als weggesperrte Irre befreit und zum Leben | |
erweckt. „Die weite Sargassosee“ ist so mehr als nur die Fußnote zu einem | |
berühmten Roman. Aus großer Literatur kann zuweilen große Literatur | |
entstehen. | |
Jean Rhys: „Die weite Sargassosee“. A. d. Engl. v. Brigitte Walitzek. | |
Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2015. 230 S., 21,95 Euro | |
26 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Rüdenauer | |
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