Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Warum sich mit Hässlichkeiten beschäftigten, die einen nicht einh…
Cigdem Akyol
Annehmen? Ablehnen? Akzeptieren? Ausrasten? Was tun, wenn man von der
Behinderung eines Familienmitglieds erfährt? Eine Frage, die ich mir vor
Deniz Geburt nie gestellt habe. Warum auch? Warum sich mit Hässlichkeiten
beschäftigten, die einen nicht einholen – so irrtümlich dachten wir. Denn
Schicksalsschläge trafen immer die anderen, aber nicht die Akyols.
Die Realität holte uns ganz unvorbereitet ein, und Rückblickend weiß ich
nicht mehr, warum wir bei dieser Szenen eigentlich nicht der Reihe nach
umgefallen sind. Deniz war erst wenige Tage alt, als ich mit meinem Vater
und meiner Schwester ins Kinderkrankenhaus nach Datteln fuhr, wo er nach
der Notgeburt gepflegt wurde. Der Arzt rief die anderen zu sich ins Büro,
während ich durch eine Fensterscheibe auf meinen Bruder starrte. Aha, der
würde also demnächst bei uns einziehen, war mein einziger Gedanken,
ansonsten lümmelte ich nur auf dem mit Linoleum ausgelegten Gang herum.
Es folgten Momente, die mich mit meinen zwölf Jahren heillos überforderten.
Mit der Diagnose „Down-Syndrom“ verließen die beiden das Arztzimmer. Ein
Wort, dass ich bis dahin überhaupt nicht kannte. Chromosomen? Was sollte
das sein? Trisomie 21? Nie gehört! In den ersten Minuten, in denen die
beiden mir von der Diagnose erzählten, fielen Worte wie Tod,
Schwachsinnigkeit, Hilflosigkeit. Jedes Wort war wie ein frontaler Schlag
ins Gesicht.
Ich schaute durch die Fensterscheibe, und sah plötzlich Deniz Sattelnase,
den Stiernacken, die schrägen Augen. Ich bemerkte sein flaches Profil,
seinen kurzen Hals. Ich sah aber vor allem ein kleines Wesen, dass ganz
zart vor sich hin schlummerte, und das uns demnächst die Welt durch seine
Unschuld ganz neu aufzeigen würde. Der Arzt hatte gesagt, dass Deniz nur
eine kurze Lebenserwartung haben würde, wir sollten wegen der „Last“ über
eine Heimunterbringung nachdenken. Schon als diese Worte ausgesprochen
waren, war uns klar, dass das niemals eine Alternative sein würde.
Was uns überhaupt nicht klar war, waren die tatsächlichen Mühen, die
urplötzlich in unser Leben hereinbrachen. Während meine Freundinnen in die
Sommerferien reisten, verbrachte ich die Zeit an Deniz’ Krankenbett. Denn
wie viele Menschen mit Down-Syndrom hatte auch Deniz einen Herzfehler, auch
er hatte Schwierigkeiten mit dem Magen-Darm-Trakt. Kaum war er aus dem
Krankenhaus entlassen, musste er schon wieder hinein.
Mit nur wenigen Monaten bekam er einen künstlichen Darmausgang gelegt, der
seinen kleinen Körper beherrschte. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er
mehrheitlich in Kliniken, und wir mit ihm. Wenn er zu Hause war, gingen
Pflegekräfte bei uns ein und aus: Menschen, die mit ihm Krankengymnastik
machten, weil seine Muskeln sich nur schwach entwickelten. Fremde, die sich
um seine Verdauungswege kümmerten, und während ich versuchte, meine
Hausaufgaben zu machen, reichte ich ihnen die richtige Größe der
Einmal-Beutel. Anfangs war all das noch mit Sorgen verbunden, doch
irgendwann war es Alltag für uns.
11 Sep 2015
## AUTOREN
Cigdem Akyol
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.