# taz.de -- Hausbesuch In Augsburg steht eine Erika Mustermann im Telefonbuch. … | |
Bild: Die falsche Erika Mustermann mit echtem Ehemann und TV-Trophäe | |
Text Lena MüssigmannFoto Joachim E. Röttgers | |
Zu Besuch bei einer mustergültigen Musterfamilie in Augsburg | |
Draußen: Ein Hinterhaus in einer alten Wohnstraße der bayrisch-schwäbischen | |
Stadt. In der Häuserschlucht wächst Gras; quer über das Vorgärtchen ist | |
eine Wäscheleine gespannt. In einem mannshohen Käfig hocken die Sittiche | |
Fatma und Benji auf ihren Stäbchen. | |
Drin: Die Haustür zum schwarz-weiß gekachelten Flur steht offen. Hinter ein | |
paar ausgetretenen Holzstufen liegt die Wohnung von Erika Mustermann im | |
Hochparterre. „Eine halbe Baustelle“, sagt sie. Für sie, ihren Mann und | |
die drei Kinder (24, 22, 12) war die Wohnung zu klein. Sie haben eine | |
zweite dazugemietet und die Wand dazwischen durchbrochen. Auf dem Esstisch, | |
gedeckt mit einem Ethnotuch, liegt das ADAC-Magazin. Wer macht was? Erika | |
Mustermann arbeitet in der Küche einer Waldorfschule für Kinder mit | |
Behinderung. („Dass ich mit biologischem Essen zu ihrer Gesundheit | |
beitragen kann, erfüllt mich.“). Ihr Mann Peter Weichselbraun war 25 Jahre | |
lang selbstständiger Küchenbauer. Er hat Hepatitis C und deshalb sein | |
Gewerbe aufgegeben („im Jänner“). Jetzt renoviert er die Wohnung. Er würde | |
das Haus gerne zu einem Künstlerhaus umgestalten („Ich hab mal mit dem | |
Hundertwasser Fritz zusammengesessen.“) Aber der Vermieter erlaubt es | |
nicht. „Die Leute sind nicht so weit“, sagt Weichselbraun. Erika/Pia: Erika | |
Mustermann (54) heißt nur laut Telefonbuch wie die Blondine auf dem | |
Vordruck des Personalausweises. Ihr richtiger Name ist Pia Palazzi. Sie ist | |
in Italien geboren. Klein, dunkelhaarig, zackig. Mit 18 Jahren kam sie nach | |
Deutschland, als Hotelfachfrau, „mal hier, mal da gejobbt“. Sie bleibt in | |
einer Wohngemeinschaft in Augsburg hängen: einer Hüttensiedlung in einem | |
kleinen Birkenhain, alles selbst gebaut. Da wird sie zum Alias der | |
Musterdeutschen, denn in der WG gab es ein Problem: Immer wieder zogen | |
Leute aus und andere ein. Immer wieder mussten Strom, Wasser und Telefon | |
auf jemand anderes angemeldet werden. „Wir haben versucht, eine Person zu | |
finden, die immer da ist.“ Die fiktive Durchschnittsdeutsche Erika | |
Mustermann war in den 80ern omnipräsent, mit ihr wurde für den neuen | |
Ausweis geworben. Warum nicht alles auf sie anmelden? Ein Witz. Aber es | |
ging problemlos. Als die WG-Siedlung 1998 aufgelöst wurde, behielt Pia | |
Palazzi den Telefonvertrag. Sie ließ sich von da an die Telefonrechnung an | |
ihre neue Adresse und ihren richtigen Namen schicken. Aber im Telefonbuch | |
blieb Pia Palazzi Erika Mustermann. („Wenn jemand meine Nummer will, sag | |
ich: Ganz easy, schau im Telefonbuch, Erika Mustermann, das bin ich.“). | |
2001 wird sie, weil sie Mustermann ist, gar zur 80er-Show von Oliver Geißen | |
ins Fernsehen eingeladen. Ein riesiger Pappausweis aus der Sendung steht | |
noch heute in ihrem Wohnzimmer. | |
Peter: Ihr Mann Peter Weichselbraun (57) kommt aus Österreich („Ich bin | |
Wiener, nicht Österreicher“). Er zog nach einer Zeit der Fernbeziehung zu | |
ihr in die WG-Siedlung und freut sich noch heute, dass der Trick mit Erika | |
Mustermann klappte – als subversiver Akt. „Gegen die durchgestylte | |
Gesellschaft“, sagt er im Wiener Schmäh. Und gegen die bürokratischen | |
„Korinthenkacker“. Post für Erika Mustermann habe man in der WG angenommen | |
und mit eigenem Namen „im Auftrag“ unterschrieben. Er will sich daran | |
erinnern, dass einmal sogar der Gerichtsvollzieher auftauchte und nach Frau | |
Mustermann fragte. „Die ist grad in Australien, kommt erst nächstes Jahr | |
wieder, sagten wir.“ Den Gerichtsvollzieher hätten sie nie wieder gesehen. | |
Das erste Date: Die beiden sahen sich 1989 in Kathmandu zum ersten Mal. | |
Pia Palazzi war auf Weltreise. Peter Weichselbraun war mit dem Rad auf dem | |
Weg von Wien nach Indien. In Kathmandu reparierte er es gerade, als sie | |
vorbeiging („Ich dachte: Was ist das für ein Zwerg?“). Sie knüpften Konta… | |
und vereinbarten, sich später in Manali, Indien erneut zu treffen. „Am 10. | |
Mai wollte er da sein, am 24. ist er gekommen“, sagt Pia Palazzi. | |
Weichselbraun sagt: „Sie ist die einzige Frau, die mehr als zehn Tage auf | |
mich gewartet hat.“ Er verschenkte sein Rad an Kinder und reiste mit ihr | |
weiter. „Ich wusste: Sie ist meine letzte Frau.“ | |
Die Hochzeit: Pia Palazzi hat drei Heiratsanträge ihres Mannes abgelehnt. | |
Als verheiratete Italienerin muss sie ihren Mann um Erlaubnis fragen, wenn | |
sie einen Reisepass beantragen will („Das schränkt mich ein“). Im Juli 2002 | |
hat sie sich dann doch darauf eingelassen, sie heirateten standesamtlich. | |
Sie trug einen indischen Rock, er wurde von der Tochter in einen Anzug | |
gesteckt („wie a Kasperl“). Sie feierten mit Freunden im Hinterhof, es gab | |
Chili con Carne. | |
Der Alltag: Pia Palazzi steht morgens auf und schaut, dass ihr Kleinster in | |
die Schule geht. Sie fährt zur Arbeit, danach kauft sie für die Familie | |
ein, kocht, macht den Haushalt, mäht Rasen, wenn es sein muss, und kehrt | |
danach den Hof. Abends essen alle gemeinsam. So weit, so deutsch, so | |
normal. Ihr Mann renoviert zurzeit die Wohnung, sitzt gerne mit einer | |
Flasche Bier am Tisch und dreht sich Zigaretten ohne Filter. Eigentlich | |
will er aber aufhören. So weit, so deutsch, so normal. | |
Was ist normal? Pia Palazzi sagt: „Wir unterscheiden uns von der Denkweise | |
her. Wir buchen keine Reise nach Mallorca und gehen nicht um Punkt acht Uhr | |
ins Bett.“ Für den Urlaub wissen sie nur, dass sie mit ihrem Kleinbus in | |
Richtung Italien fahren („Der Rest kommt dann“). Dass gerade Pia Palazzi | |
die musterdeutsche Erika im Telefonbuch lebendig macht, ist schon lustig. | |
Weder sie noch ihr Mann noch die Kinder haben einen deutschen Pass. Pia | |
Palazzi sagt: „Wenn wir streiten, sagt er: Du bist mit der Zeit deutsch | |
geworden. Das ist die schlimmste Beleidigung, die ihm einfällt.“ | |
Wie finden Sie Merkel? „Die sollte mal mit ihrem Hirn im Land bleiben, hier | |
läuft genügend schief“, sagt Weichselbraun. Er ärgert sich, dass es in | |
München Kinder geben soll, die nicht genug zu Essen bekommen. Pia Palazzi | |
sagt: „Ich hasse Politik. Erstunken und erlogen.“ Wann sind Sie glücklich? | |
„Wenn ich meine Frau und meine Kinder lachen seh“, sagt er. „Das ist fast | |
jeden Tag so.“ Und sie: „Wenn wir diesen Sommer endlich im Auto sitzen, um | |
nach Italien zu fahren.“ | |
Sie wollen auch besucht werden? Dann schicken Sie eine Mail an: | |
[email protected] | |
22 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Lena Müssigmann | |
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