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# taz.de -- Ich
Bild: „Ist da noch ein Fleck?“.
von Tina Veihelmann
Heute ist der Tag, an dem wir nicht abgeflogen sind. Das Fenster steht
offen. Der Morgen weht herein. Karl, der Mann, mit dem ich lebe, liegt
neben mir, er schnarcht leise, und es duftet nach Aufbackcroissants aus
einer Küche im Nachbarhaus. Ich ziehe die Decke an die Nase, und es riecht
süßlich karamellig nach Schlaf und nach Träumen und nach allmorgendlichem
Aufwachen neben Karl.
Wenn nicht alles anders gekommen wäre, würde ich jetzt stattdessen
Reiseluft riechen. Flugzeugluft. Wir könnten schon gelandet sein. Wir
könnten den Bus bestiegen haben, durch Tiflis geschaukelt und später den
Kaukasus raufgegondelt sein. In halsbrecherischen Serpentinen hätten wir
uns Kurve um Kurve nach oben geschraubt, und die Aussicht aus dem
Busfenster gäbe den Blick auf Wracks abgestürzter Fahrzeuge frei.
„Kraaass“, würde Karl kommentieren, aber er würde ihn auch genießen, den
Blick in den Abgrund, das würde man merken. Ein Lada ist ausgebrannt, er
sieht aus wie ein totes Insekt, dessen schwarze gekrümmte Beine in den
Himmel aufragen.
Karl schnarchelt und dreht sich, und auch ich drehe mich, weg von Karl,
weil ich gerade in dem Dorf angekommen bin, in dem wir aussteigen. Unsere
Vorhänge blähen sich. Es sind diese weißen von Ikea mit den eingestanzten
Ringen, durch die man die Vorhangstangen so praktisch hindurch stecken
kann. An den Kanten sind sie leicht staubig. Aber das ist nichts gegen den
Staub, den der anfahrende Bus aufwirbelt, als er davon fährt und uns am
Straßenrand zurücklässt.
Es gibt ein paar geduckte Häuser, aus Natursteinen gebaut und eine Straße,
die sich weiter den Berg hinaufwindet. Auf der gehen wir jetzt. Es riecht
nach Abgasen, aber nur für einen Augenblick, dann riecht es nach Gebirge,
nach so klarer und sauberer Luft, dass es einen schwindlig macht.
Ich schließe die Augen und versuche mich in einen Halbschlaf zu versetzen.
Gerade tief genug, dass man träumen kann, aber flach genug, dass man den
Traum lenken kann. Ich bin Meisterin darin. Wenn ich mal einen Grabstein
kriegen sollte, wird darauf stehen: Sie war Deutsche Meisterin im
Wachträumen. Das ist doch auch ein Erfolg.
Im Moment laufe ich jedenfalls auf dieser Bergstraße, und es schwindelt
mich. Es ist so, als könnte man über Kilometer hinweg jedes Bergkräutlein
riechen. Aber das wäre nur eine Note – eine winzige Note – im gewaltigen
mineralischen Duft lebloser Steinlandschaften. Karl denkt dasselbe wie ich.
Wenn ich uns beide lenken kann, denken wir fast immer gleich, und er sagt:
„Wenn wir jetzt weiterlaufen, dann kommen wir da hin, wo gar nichts mehr
ist. Und dann hören wir einfach auf, zu existieren, und dieser wundervolle,
saubere Wind trägt uns davon.“
Aber es kommt anders. Ich drehe mich. Ändere die Richtung, weil es mir
jetzt zu pathetisch wird. Ich sage: „Karl, ich glaube, dass wir schon
früher sterben. Weil, weißt du, wir haben nichts eingekauft, in Tiflis
hatten wir keine Zeit und in diesem Dorf war kein Laden. Das einzige, was
ich noch habe, ist das Pappbrötchen aus dem Flugzeug.“ Karl nickt, und wie
Hänsel und Gretel traben wir weiter, denn was bleibt uns anderes übrig? Und
auch das endet wunderbar, denn wir wandern hungrig weiter, irgendwann
verirren wir uns, dann streiten wir, und viel später, genau im richtigen
Moment eigentlich, erreichen wir eine Alm, wo es Schafskäse gibt, der nur
deshalb so köstlich schmeckt, weil wir hier oben sind. Außerdem versöhnen
wir uns. In verschiedenen Variationen nimmt Karl meine Hand, mal mit und
mal ohne Kuss, und fast sage ich: „Stör mich nicht!“, als Karl das
Schnarchen einstellt, sich mir zudreht und meine Hüfte umfängt.
Es ist der Tag, an dem wir nicht abgeflogen sind. Wir haben den Urlaub
sausen lassen. Nicht, dass etwas Dramatisches unseren Abflug verhindert
hätte. Wir haben es schlicht nicht geschafft, frei zu machen – und deshalb
arbeiten wir im August, nur weniger als sonst.
Gleich ist es acht, und ich werde aufstehen und einkaufen gehen. Karl hat
seine Hand zwischen meine Hüfte und das Laken geschoben. Er atmet schon
wieder gleichmäßig. Ich frage mich, wo Karl jetzt gerade ist. Vielleicht
auch im Kaukasus. Oder in Timbuktu. Oder im All. Egal, wo er gerade ist,
möchte ich auf gar keinen Fall riskieren, dass er just dann, wenn ich mich
aus seiner Umklammerung löse, von seiner Marsfrau verlassen wird.
Deshalb bewege ich mich nicht, solange bis Karl aufwacht. Ich strecke mich
vorsichtig und halte die Zehen in die Luft. Es ist super, dass wir nicht im
Flugzeug sitzen. Wenn wir geflogen wären, hätten wir die Alm-Szene nicht
erlebt. Und wenn – sie wäre nie so schön gewesen.
Wenn Karl aufwacht, werde ich einkaufen gehen und ihm Schafskäse
mitbringen. Zwar gibt es hier keine Almen, sondern nur
Lebensmittelgeschäfte zu ebener Erde, aber das heißt nicht, dass die Sache
langweilig wäre.
Beim Einkaufen, an der Falckensteinstraße Ecke Wrangelstraße, rette ich ein
Mädchen aus einer Schießerei, die aus nicht geklärten Umständen immer an
dieser Kreuzung stattfindet. In diversen Serien habe ich mir sehr genau
angeschaut, wie man einem körperlich überlegenen Mann eine Waffe abnimmt,
wie man den Schlitten zurückzieht und sie mit beiden Händen in die richtige
Richtung hält. Manchmal arbeite ich auch ohne Waffe.
Beim Lebensmittelhändler packe ich den Schafskäse ein. Wenn ich zu Hause
ankomme, bin ich entspannt. Wenn wir aufgebrochen wären, hätte ich heute
das Mädchen nicht retten können. Im Urlaub – im echten Urlaub meine ich –
hat man nie Zeit dazu.
22 Aug 2015
## AUTOREN
Tina Veihelmann
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