# taz.de -- INTOLERANZ Bitte ohne Ei, ohne Käse, ohne Tomaten. Viele Menschen … | |
> Prozent der Deutschen ordneten sich 2014 selbst als Allergiker ein. 2007 | |
> waren es noch 10,5 Prozent | |
Aus München und Berlin Maria Rossbauer (Text) und Juliane Pieper | |
(Illustration) | |
Denise Wachter vom Stern zum Beispiel ist sich nicht sicher, ob ich noch | |
ganz dicht bin. Evelyn Roll von der Süddeutschen Zeitung glaubt eher, ich | |
sei besessen. Neuerdings bin ich immer wieder mal auf Titelblättern von | |
großen Magazinen zu sehen, es gibt Fernsehsendungen über mich und Autoren | |
widmen sich mir in ganzen Büchern. Susanne Schäfer schreibt, ich sei | |
hysterisch. | |
Diese Menschen finden mich offenbar wahnsinnig interessant. Lieber hätte | |
ich meine Ruhe, aber das kann ich mir nicht aussuchen. Denn ich bin | |
Mitglied in einem Club, der gerade sehr in ist. | |
Dem Club der Bitte-ohne-Esser. | |
Bitte ohne Ei. Bitte ohne Käse. Ohne Brot. So bestellen wir im Restaurant. | |
Ich vertrage keinen Fruchtzucker, also frage ich die Kellner, ob sie den | |
Salat bitte ohne das Apfel-Honig-Dressing machen können und statt dessen | |
mit Essig und Öl. | |
Im Supermarkt schaue ich auf die Verpackungen, lese die Inhaltsstoffe und | |
denke, bitte lass diesen Laden Sahne ohne Laktose haben. Laktase-Tabletten | |
habe ich immer dabei. | |
Wenn Freunde kochen, frage ich, ob es das Essen bitte auch ohne Paprika | |
geben kann, Brokkoli wäre okay. Den Wein bringe ich lieber selbst mit, von | |
einem Winzer in Österreich. | |
Mein Alltag besteht aus Berechnungen, wie viel geht, wie viel gerade noch? | |
Essen ist ständiges Bitten, für mich muss immer eine Ausnahme gemacht | |
werden. | |
Zumindest war es lange so. Aber wir Bitte-ohne-Esser werden mehr. | |
Inzwischen verzichtet jeder Vierte in Deutschland auf irgendetwas. Wir sind | |
so viele, dass Supermarktbetreiber wegen uns ihr Sortiment ändern, | |
Restaurantbesitzer ihre Menükarten. Wer zu Hause für Freunde kocht, muss | |
nachfragen, wer was nicht isst, getrennt kochen, anders einkaufen. | |
Bisher waren Menschen wie ich Sonderlinge, wir mussten uns nach den anderen | |
richten. Jetzt fangen die anderen an, sich nach uns zu richten. | |
Zuerst hat mich diese Entwicklung gefreut. Es ist ein blödes Gefühl, | |
Bittstellerin zu sein, und es schien, als könnte das endlich aufhören. Als | |
würde ich bald meine Ruhe haben vor den fragenden Blicken, dem ungläubigen | |
Staunen, dem ständigen Kalkulieren. | |
Dann kamen die Denise Wachters und Evelyn Rolls, die Susanne Schäfers. | |
Ruhe habe ich nun keine mehr, statt dessen herrscht eine Art Krieg – und | |
ich bin mitten drin. | |
Was sollen die Angriffe, die Vorwürfe, die ganze Aufregung? | |
„Es ist eine umkämpfte Entwicklung“, sagt der Philosoph Harald Lemke. Im | |
letzten Jahr erschien sein Buch „Über das Essen. Philosophische | |
Erkundungen.“ Lemke sagt, bis vor einigen Jahren hätten wir Nahrungsmittel | |
vor allem als Treibstoff gesehen. Als etwas, was man einfach so | |
hineinschiebt, um zu funktionieren. | |
„Jetzt aber begreifen die Menschen langsam, dass die Welt des Essens | |
komplexer ist.“ Was wir essen, hängt zusammen mit sozialer Gerechtigkeit, | |
Gesundheit, gesellschaftlichen Werten. | |
Entsprechend aufgeladen ist der Konflikt zwischen denen, die so weiteressen | |
möchten wie bisher, und denen, die eine Extrawurst verlangen. | |
Viele Alles-Esser fühlen sich von uns Bitte-ohne-Essern regelrecht | |
belästigt. Das britische Marktforschungsinstitut Ears and Eyes befragte | |
knapp 2.500 Deutsche. 43 Prozent der nicht von Allergien oder | |
Unverträglichkeiten Betroffenen finden unser Gehabe übertrieben. Sie | |
begründen ihre Abneigung mit zwei Argumenten. | |
Nummer eins: Wir sind Hypochonder, die jedes Ziepen im Bauch zu einer | |
Krankheit hochjazzen. Wir haben keine echten Probleme in unserem | |
hochindustrialisierten Schlaraffenland, darum erfinden wir welche, um uns | |
mit uns selbst beschäftigen zu können. | |
Nummer zwei: Die Nahrungsmittelindustrie ist schuld. Firmen schwatzen uns | |
Produkte auf, die wir nicht brauchen und verdienen sich damit Millionen. | |
Sind wir manipulierte Spinner? Bin ich eine Spinnerin? | |
Sieht man die Statistik an, könnte man denken: Ja. Der größte | |
Ernährungstrend ist im Moment wohl glutenfreies Essen. Ein Prozent der | |
Bevölkerung leidet an Zöliakie, manche Experten gehen auch nur von der | |
Hälfte aus. Selbst wenn man noch die geschätzten 6 Prozent, die bisher als | |
NGSler zusammengefasst werden – Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität – | |
dazurechnet, kommt man lediglich auf 7 Prozent, die Gluten nicht essen | |
sollten. 29 Prozent der US-Amerikaner versuchen sich jedoch glutenfrei zu | |
ernähren, ermittelte das Marktforschungsinstitut NPD Group. | |
„Früher haben wir Ärzte geglaubt, die haben alle einen an der Klatsche“, | |
sagt Annette Fritscher-Ravens. Ihr Lieblingsessen: Frühstück bei | |
McDonald’s. Heute isst sie in der Kantine des Münchener Klinikums Rechts | |
der Isar Reis und Gemüse mit weißer Soße. | |
Annette Fritscher-Ravens arbeitet am Uni-Klinikum Kiel und am Bupa Cromwell | |
Hospital in London. Sie ist Gastroenterologin, sie hat sich als Ärztin auf | |
den Magen-Darm-Trakt spezialisiert. In München besucht sie an diesem | |
sonnigen Maitag eine Veranstaltung zur Forschung in der Endoskopie. Darum | |
trägt sie eine graue Wollhose, eine weiße Bluse, die blonden Locken sind | |
frisch frisiert. Während sie spricht, schiebt sie immer wieder ihre | |
Ellenbogen auf den Tisch, wenn sie nachdenkt, reibt sie mit den Fingern | |
ihre Schläfen. | |
Sie spricht über Menschen, die jahrelang von Arzt zu Arzt rannten. Mit | |
höllischen Bauchschmerzen, Kopfweh oder Konzentrationsproblemen und | |
Schwellungen an den Augen. Mit den üblichen Tests fand keiner etwas. Also | |
diagnostizierten die Ärzte: Reizdarmsyndrom. Was so viel heißt wie: Ihr | |
spinnt ein bisschen. | |
Ungefähr 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung leidet an Reizdarm oder | |
Reizmagen, schätzt die Techniker Krankenkasse. | |
In Wahrheit aber, sagt Fritscher-Ravens, konnte man nur nicht erkennen, | |
dass diese Menschen tatsächlich eine Krankheit haben. Und zwar in vielen | |
Fällen eine, die Nahrungsmittel verursachen. | |
Das Problem sei ein diagnostisches, sagt die Ärztin. Lange habe es | |
überhaupt keine Möglichkeiten gegeben, das, was landläufig als | |
Nahrungsmittelunverträglichkeit bekannt ist, festzustellen. Bis heute | |
lassen sich nur wenige vernünftig nachweisen. Probleme mit Fruktose gehören | |
dazu (die könnten 30 Prozent der Bevölkerung haben), außerdem Laktose (15 | |
Prozent) sowie Zöliakie und Nahrungsmittelallergie (3 Prozent der | |
Erwachsenen). | |
Wollen Ärzte herausfinden, ob jemand an Zöliakie leidet, nehmen sie Blut | |
ab, testen auf bestimmte Antikörper und untersuchen Gewebe aus dem | |
Dünndarm. Bei vermuteten Schwierigkeiten mit Laktose und Fruktose trinken | |
die Patienten den jeweiligen Zucker in Wasser aufgelöst und pusten | |
stundenlang immer wieder in ein Röhrchen. Am H2-Gehalt in der Atemluft | |
sehen Ärzte, wie gut jemand Zucker abbaut. | |
So haben sie mich erwischt. | |
Jahrelang waren meine Magen- und Bauchschmerzen psychisch, wie man so schön | |
sagt. Dann kamen diese Anfälle. Meist nachts, nach Festen: viele Menschen, | |
Lärm, Lichter. Zuerst zogen grauen Wolken auf, legten sich über meinen | |
Kopf, der Magen krampfte. Unruhe, Schwindelgefühl, fast schon Ohnmacht – | |
und dann schlug mein Arm oder mein Bein umher. | |
Die Ärzte vermuteten Epilepsie. Sie vermaßen meine Gehirnaktivität, schoben | |
mich in die große, graue Röhre. Sie fanden nichts. | |
Nur durch Zufall ließ ich irgendwann auf Unverträglichkeiten testen. Und | |
nach zwei Atemtests war ich endlich freigesprochen davon, irgendwie nicht | |
richtig zu ticken. So weiß ich heute auch, dass meine Anfälle nach langen | |
Festen von viel Wein, Sekt, Obstsalat und Schokoladeeis kamen. | |
Ich habe das Glück, an etwas zu leiden, das sich erkennen lässt. Aber es | |
gibt viele, denen eine ordentliche Diagnose verwehrt blieb und an denen | |
weiterhin das Label „psychisch überlagert“ klebte. Die Spinner. | |
Das könnte sich nun ändern. Annette Fritscher-Ravens entwickelte mit | |
Kollegen eine neue Diagnose-Methode. | |
Über die Speiseröhre schiebt sie den Patienten einen kleinen Schlauch mit | |
Mikroskop und Laser in den Magen bis zum Zwölffingerdarm. Dann spritzt sie | |
nacheinander vier in Flüssigkeit aufgelöste Substanzen auf die | |
Darmschleimhaut: Weizen, Hefe, Milch und Soja. | |
Alles Stoffe, die häufig Probleme verursachen – und die wir täglich essen, | |
sagt Fritscher-Ravens. Auf kleinen beigen Bildschirmen beobachtet sie in | |
bis zu tausendfacher Vergrößerung, was passiert. „Wenn die Leute auf eine | |
der Substanzen reagieren, sieht das aus wie ein Ausbruch des Vesuv“, sagt | |
sie. „Die Zellen brechen komplett auf. Bei gesunden Menschen ist eben das | |
nicht zu sehen.“ | |
36 Menschen mit Reizdarmsyndrom hat Annette Fritscher-Ravens für ihre erste | |
Studie untersucht. Zwei Drittel reagierten dabei auf einen dieser vier | |
Stoffe. | |
„Was wir hier sehen, ist keine Allergie im klassischen Sinne“, sagt | |
Fritscher-Ravens. Die wurden bisher als Überreaktion des Immunsystems auf | |
einen eigentlich harmlosen Stoff definiert. Der Körper produziert dabei den | |
Antikörper Immunglobulin E, der sich etwa an ein Eiweiß in der Kuhmilch | |
bindet, erst daraufhin schlagen Abwehrstoffe zu. | |
Doch bei den Vulkanausbrüchen auf der Darmwand greifen die Lebensmittel | |
direkt die Zellen an. | |
Eine Lebensmittelunverträglichkeit kannte man bisher auch anders. Als | |
strukturelles Problem des Körpers. Dann fehlt diesem etwa das Enzym | |
Laktase, das Milchzucker spaltet und damit verdaulich macht. | |
„Was das genau ist und wie es funktioniert, wissen wir noch nicht“, sagt | |
Fritscher-Ravens. „Was wir tun, ist bloody Neuland.“ | |
Doch immerhin können Ärzte nun, zum ersten Mal, dabei zusehen, wie der | |
Körper mancher Menschen auf Lebensmittel reagiert. Ein wesentlicher Teil | |
der Spinner also sind keine. Ihr Problem konnte man bisher nur nicht sehen. | |
Oder wollte es nicht. | |
„Wir befinden uns inmitten eines großen gesellschaftlichen Umbruchs“, sagt | |
Harald Lemke. „Unterschiedliche Kräfte und Interessen ringen darum, wie es | |
mit unserer Ernährung weitergeht.“ | |
Manche hätten Angst, Gewohntes zu verlieren. Essen kann nicht mehr per se | |
ein gemeinschaftliches Ereignis wie früher sein. Was beim Fernsehen und | |
Lesen schon passiert ist, geschieht nun auch beim Kochen: jedem das seine. | |
Das alarmiert alle, denen westliche Gesellschaften ohnehin an zu viel | |
Individualismus kranken. | |
Andere fürchten um die Leidenschaft. Rauchen und Trinken dürfen wir nun | |
schon nicht mehr, soll nun die reine Vernunft auch noch über die Lust am | |
Essen siegen? | |
Vielen ist das wachsende Wissen über das, was wir verspeisen einfach zu | |
kompliziert. | |
„Wir erleben gerade eine Flut an Problematisierungen“, sagt Lemke. Auch | |
weil Lebensmittel immer genauer analysiert und so potenzielle | |
Gefahrenquellen überhaupt identifiziert werden können. Jede Woche ist ein | |
anderer schädlicher Inhaltsstoff oder ein mieser Nahrungsmittelhersteller | |
gefunden und oft genauso schnell wieder freigesprochen. | |
Was schadet, was ist okay? Und was ist nachhaltig, gerecht gegenüber denen, | |
die es produzieren, den Tieren, die dafür gehalten werden? „Die Symptome | |
sind so undurchsichtig“, sagt Lemke. „Da resignieren viele, und sagen: Och | |
ne, das ist mir zu viel.“ Sie machen einfach nicht mehr mit, finden alle | |
Entwicklungen bescheuert und berufen sich dabei darauf, dass früher alles | |
noch viel schlechter war. | |
Das andere Extrem gibt es natürlich auch, die, die sich auf alles | |
einlassen, die hier ein wenig auf Cholesterin achten, da auf Dioxin, auf | |
Salz oder Antioxidantien. | |
Für ihre Entdeckung der neuen Unverträglichkeiten bekam Annette | |
Fritscher-Ravens in Washington im Mai eine Auszeichnung der Rome | |
Foundation. Die Stiftung kürte ihre im Fachmagazin Gastroenterology | |
veröffentlichte Studie zur besten aus dem Jahr 2014. | |
Gerade ist sie in der zweiten Untersuchung. Vielleicht, in einigen Jahren, | |
können sich Leute auf ihre Weise beim Gastroenterologen routinemäßig testen | |
lassen. Auf noch mehr Stoffe, die irgendwo im Essen stecken. Dann gäbe es | |
womöglich noch mehr Namen für Unverträglichkeiten, noch mehr Mitglieder in | |
meinem Club. | |
Sieht man sich Fritscher-Ravens’Forschung an, könnte man glauben, es ist | |
wahr – unser Essen macht uns krank. Bedrohen uns unsere Lebensmittel? | |
„Die Anzahl der Menschen, die auf Fruktose, auf Haltbarmacher in | |
Fertigprodukten oder auf ATI reagieren, steigt“, sagt Fritscher-Ravens. | |
ATIs – Amylase-Trypsin-Inhibitoren – sind natürliche Abwehrstoffe gegen | |
Parasiten in Getreide. Moderne Züchtungen enthalten oft doppelt so viele | |
ATIs wie ältere Sorten. Diese ATIs, das vermutet die Deutsche Gesellschaft | |
für Gastroenterologie, könnten der wahre Grund sein, warum Menschen ohne | |
Zöliakie oder Allergie Weizen schlecht vertragen. Sie treten zusammen mit | |
Gluten auf. Auch sogenannte FODMAPs, eine Gruppe von Kohlenhydraten und | |
mehrwertigen Alkoholen, haben vermutlich eine wichtige Bedeutung. Das | |
Eiweiß Gluten selbst schadet diesen Betroffenen wohl nur selten. | |
An dieser Stelle dürfen die Genervten kurz jubeln und später allen | |
Bitte-ohne-Essern erzählen, dass gar nicht Gluten ihr Problem ist, sondern | |
diese Stoffe mit den seltsamen Abkürzungen. Das freut sie bestimmt. | |
Das zweite große Argument, uns Bitte-ohne-Esser für plemplem zu erklären, | |
ist die Verführung durch die Nahrungsmittelindustrie. Sie nutze unsere | |
diffusen Ängste und Unsicherheiten skrupellos aus. Das Label „frei von“ sei | |
ein Milliardengeschäft multinationaler Konzerne. | |
Was soll ich sagen. Ich liebe das Zeug. Laktosefreie Schokolade – endlich | |
kann ich wieder bedenkenlos Schokolade essen. Wein mit extrem wenig | |
Fruchtzucker – was habe ich den Wein vermisst. | |
Aber gut, ich schaue sie mir an, diese Großverdiener, die bösen Konzerne. | |
Konzerne wie der von Ulf Herrmann. | |
Vorsichtig schiebt Herrmann mit der Gabel die hellen Würfel von seiner | |
Bruschetta. Er mag keine Zwiebeln, sagt er, lächelt schüchtern. Die Tomaten | |
wird er essen, obwohl Fruktose drin ist. Ulf Herrmann ist | |
fruktoseintolerant. | |
„Ich ess Tomaten schon, außer, es gibt danach auch noch Tomatensoße“, sagt | |
er. Typischer Bitte-ohne-Esser, immer überschlagen: Was geht, wann wird es | |
kritisch? | |
An diesem Mittag hat Herrmann in seinem Stammitaliener in | |
München-Gräfelfing noch Nudeln mit Rucola-Pesto bestellt. Alexander | |
Polanetzki, 28 Jahre alt, Vertriebsleiter bei Herrmanns Firma Frusano und | |
ebenfalls fruktoseintolerant, isst den Fitnesssalat, für mich gibt es | |
Nudeln mit Scampi. | |
Als wir feststellen, das wir eine kleine Fruktose-Selbsthilfe-Gruppe sind, | |
wird erst einmal ausgetauscht: Wie machen das die anderen mit dem Essen, | |
dem Rechnen von Fruktosegehalt in einem Menü, sagt man es nun bei einer | |
Essenseinladung oder lieber doch nicht. Keiner erzählt das gerne. | |
Polanetzki arbeitet seit 2013 bei Frusano. Seine Diagnose bekam er ein Jahr | |
später. Er sagt, seine Kollegen würden schon Witze machen, der Chef gebe | |
ihnen was in den Kaffee. | |
Herrmanns Fruktoseunverträglichkeit fiel schon in seiner Kindheit auf. Er | |
hatte ein kariesfreies Gebiss, mochte kein Eis, nichts Süßes. | |
Als Erwachsener fing er an, Marmelade mit Traubenzucker zu kochen. Er fand | |
das spannend, auszuprobieren, ob das überhaupt funktioniert. Dann suchte er | |
sich einen Schokolatier und ließ sich seine erste Schokolade mit extrem | |
wenig Fruktose herstellen. 5 Kilogramm Zartbitter, seine Lieblingssorte. | |
Im Jahr 2006 verkaufte er die zum ersten Mal in einem Onlineshop und erfand | |
das Label fruktosefrei. „Ich dachte, jetzt probier ich das mal, ob das auch | |
andere kaufen würden“, sagt er. | |
Heute ist Ulf Herrmann – 42 Jahre alt, gelernter Toningenieur und | |
Wirtschaftsingenieur, beiger Anzug, dunkle Augen, rasierter Kopf, randlose | |
Brille – Inhaber der Firma schlechthin für Bitte-ohne-Esser wie mich. | |
Seine Produkte stehen in jedem Drogeriemarkt dm, in vielen Supermärkten und | |
Kleingeschäften. | |
Seit Firmengründung 2006 ist Frusano jedes Jahr um 20 Prozent gewachsen, | |
und so hat Herrmanns Konzern heute zehn Mitarbeiter. Vier davon sitzen in | |
einem schmalen Raum im Gräfelfinger Industriegebiet an Schreibtischen, für | |
Besprechungen gehen sie in den Konferenzraum der Gemeinschaftsbüroanlage. | |
Die Wände hellgrün wie das Firmenlogo. | |
Im Keller arbeiten noch einmal sechs Menschen, packen Schokoladen, | |
Fruchtaufstriche, Nudeln und Kekse aus den hohen Regalen in braune | |
Pappkisten und verschicken sie an die Onlinebesteller. Das ist das Lager. | |
Eines ihrer erfolgreichsten Produkte sind die Gummibären Fili. | |
„Das hat zwei Jahre gedauert, bis die fertig waren“, sagt Herrmann. Sie | |
mussten eine Firma finden, die die Bären für sie produziert. Dann die Bären | |
so hinbekommen, dass die Konsistenz okay ist, dass sie so schmecken wie | |
andere Bären. | |
Traubenzucker und Malzzucker verhalten sich anders als der übliche | |
Kristallzucker, der zur Hälfte aus Fruchtzucker besteht, sagt Herrmann. Mal | |
waren die Bärchen nicht hitzestabil, dann hielten sie Kälte nicht gut aus. | |
Die Nudeln sind gegessen, der Kellner bringt Nachtisch aufs Haus: | |
Ricotta-Rhabarbereis. Wir lächeln alle verlegen, löffeln kurz hinein, | |
keiner isst auf. | |
„In der normalen Erdbeere ist im Vergleich nicht so viel Zucker wie in | |
einem Eis“, sagt Herrmann. 30 Prozent seien es im Eis, in Erdbeere ungefähr | |
vier. | |
Das Wissen um die Zusammensetzung der Lebensmittel und die verschiedenen | |
Zucker hat er sich über die Jahre angelernt. Vor sieben Jahren stellte er | |
eine Ernährungswissenschaftlerin ein. | |
Auf den Fili-Tüten steht, wie auf meisten anderen Frusano-Produkten, | |
inzwischen auch laktosefrei und glutenfrei. | |
„Die Händler haben danach gefragt“, sagt Herrmann. Sie wollten am liebsten | |
Produkte haben, die möglichst ohne alles sind. Dann könnten sie die | |
Spezialesser wie mich mit wenigen Produkten abspeisen und müssten weniger | |
Regale freiräumen. | |
Auch Kunden wünschten sich immer mehr mit noch mehr ohne, erzählt | |
Polanetzki. Jede Woche bekämen sie etwa drei Anfragen, mit Produkttipps zum | |
Beispiel. „Dieser Trend ist gerade schon etwas übersteigert“, sagt | |
Herrmann. Doch das pendele sich schon wieder ein. | |
Aber sind sie nicht die, die davon profitieren? Die ein dickes Geschäft | |
machen? | |
Immerhin kostet bei Frusano vieles weit mehr Geld als vergleichbare normal | |
hergestellte Lebensmittel. 50 Gramm Fili-Bärchen kosten 1,29 Euro. Für die | |
selbe Menge Haribo Goldbären bezahlt man 24 Cent. | |
Doch Herrmanns Firma produziert weit weniger als große Firmen, mit höherem | |
Aufwand. Die Entwicklungsarbeit kostet Geld und vor allem die Rohstoffe, | |
alle bio. „Wir sind immer noch eine Nischenveranstaltung“, sagt Herrmann. | |
Für das Jahr 2014 steht in der Bilanz der Firma Frusano eine Gewinnrücklage | |
von etwas mehr als 366.000 Euro. Der Gewinn floss also komplett zurück in | |
die Firma. Sie erforschen jetzt unter anderem, ob sie die Fruktose aus dem | |
Fruchtsaft bekommen. | |
Die größere Nachfrage hat aus Frusano immerhin eine Kleinstfirma gemacht. | |
Seit drei Jahren leisten sie sich richtige Büroräume. Davor war Frusano bei | |
Herrmann zu Hause. | |
Im silberfarbenen VW-Bus fährt mich der Firmenchef vom Restaurant zurück zu | |
meinem Auto. | |
Manche Firmen nutzen den Hype allerdings tatsächlich aus. Sie schreiben | |
laktosefrei auf etwas, was von Natur aus annähernd laktosefrei ist, und | |
verlangen dann mehr Geld. Das wirft die Hamburger Verbraucherzentrale dem | |
Unternehmen MinusL vor. | |
Wenn ich ehrlich bin, nehme ich das MinusL allerdings nicht wirklich übel. | |
Auch wegen denen kann ich leichter sehen, was ich essen kann und muss meine | |
Zeit nicht mit der Lektüre von Inhaltsstoffen verschwenden. | |
Der Hype macht mir also vieles leichter. Trotzdem nervt er mich. | |
Es wird so viel über unseren Club gesprochen, dass sich uns immer mehr | |
Leute anschließen. Da gibt es die, die ihre Magersucht oder andere | |
Essstörungen hinter einem Frei-von-Essen verstecken. | |
Andere haben Schmerzen und verzichten auf irgendetwas, waren aber noch nie | |
beim Arzt. In der Berliner Charité haben sie 2004 getestet, wie treffsicher | |
Selbstdiagnosen sind. Nur einer von zehn Menschen hat das | |
Ernährungsproblem, das er vermutet. | |
Annette Fritscher-Ravens hatte in ihrer Studie keinen Patienten, der sich | |
richtig einschätzte. | |
Die nächsten glauben, Gluten sei ein künstliches Produkt, hinzugefügt in | |
der industriellen Landwirtschaft. Ihr Verzicht ist eher ein politischer. | |
Einige ekeln sich vor Käse und haben endlich einen medizinisch klingenden | |
Grund dafür. | |
Dazu die Celebrities, die „Weizenwampe“ und „Dumm wie Brot“ gelesen hab… | |
und nun mit glutenfreier Ernährung kokettieren. | |
Und plötzlich kommen Menschen auf mich zu und sagen: Fruktose, oh ja, ich | |
glaube, das hab ich auch ein bisschen. Da fühle ich mich manchmal wie ein | |
Depressiver, der gerade aus der Psychiatrie kommt und der Erste, den er | |
trifft sagt: Kenn ich! Ich bin auch ab und zu depressiv. | |
Nach Jahren habe ich endlich eine Erklärung für meine Anfälle. Ich | |
verzichte auf vieles, dabei würde ich so gerne alles essen. Ich will | |
unkompliziert sein. Aber nur so habe ich endlich meine Nächte wieder und | |
die Kontrolle über meine Arme und Beine. Und jetzt kommen die Leute daher, | |
die so tun, als wäre alles bloß ein Wehwehchen. | |
„Der Hype tut denen nicht gut, die wirklich krank sind“, sagt Annette | |
Fritscher-Ravens. „Sie werden jetzt wieder einmal total fehlinterpretiert.“ | |
Aber es gibt Hoffnung: „Die Stichworte laktosefrei oder glutenfrei werden | |
wohl bald ersetzt durch andere“, sagt der Philosoph Harald Lemke. Ein Trend | |
ist ein Trend. Er wird vorbeiziehen. | |
Vielleicht gelten bald die Salatesser als hysterisch. Oder die mit ihren | |
Suppen. Und dann, dann kann ich endlich wieder in Ruhe essen. | |
Maria Rossbauer,34, ist Autorin der taz.am wochenende. Sie freut sich, dass | |
sie Bier trinken kann, ohne sich Gedanken zu machen. | |
Juliane Pieper,39, arbeitet als freie Illustratorin in Berlin. Sie isst | |
alles außer Innereien. | |
1 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Juliane Pieper | |
Maria Rossbauer | |
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