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# taz.de -- Türkei Alles für die Neuwahl – Erdoğan führt Krieg an zwei Fr…
Bild: Nach dem Attentat in Suruç protestierten in Istanbul Hunderte Menschen. …
aus Istanbul Çiğdem Akyol
Alles begann mit einem Irrtum. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip
Erdoğan dachte, er müsste die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS)
nur nähren, abwarten, und mit der Zeit würden seine Gegner von den
Extremisten gestürzt und ermordet werden. Wie ein Billardspieler, der die
Kugel anstößt und sich dann seelenruhig die Karambolagen anschaut. Doch der
syrische Präsident Baschar al-Assad ist immer noch an der Macht, und, noch
schlimmer, die Kurden sitzen jetzt auch noch im türkischen Parlament.
Die türkische Armee hat nach dem Selbstmordanschlag in der Stadt Suruç mit
32 Toten vergangene Woche eine Offensive gegen den IS in Nordsyrien und
gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK im Nordirak begonnen. Ein
Krieg an zwei Fronten, der eigentlich der kurdisch-linken Parlamentspartei
HDP gilt.
Und auch die PKK muss sich jetzt in einem Zweifrontenkrieg verteidigen:
gegen den IS und gegen die Türkei. So wurde inmitten des Bombenhagels der
im Jahr 2013 vereinbarte Friedensprozess mit der – in der Türkei und der EU
als Terrororganisation eingestuften – PKK für beendet erklärt. Landesweit
gibt es nun Warnungen vor Bombenanschlägen.
## Mit harter Hand
Rund sieben Wochen nach der Parlamentswahl marschiert die Türkei geradewegs
ins Chaos. Ein perfekter Zustand für Erdoğan, sagt Ismet Akça,
Politikwissenschaftler und Militärexperte von der Istanbuler
Yıldız-Teknik-Universität. Denn jetzt könne er sich als starken Mann
inszenieren, der das Land mit harter Hand vor in- und ausländischen
Terroristen schütze. Mit seiner nationalistisch-militärischen Strategie
erhoffe sich Erdoğan zudem, für wahrscheinliche Neuwahlen Stimmen der
nationalistischen Partei MHP für seine AKP zu gewinnen, um dann doch noch
eine absolute Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erhalten. Dann
nämlich könnte er seinen Traum eines Präsidialsystems endlich umsetzen, den
ihm die prokurdische HDP mit ihrem Einzug ins Parlament verdorben hatte.
Präsident Erdoğan tut derzeit alles dafür, die verhasste HDP in die Nähe
von Terroristen zu rücken. „Sein Bruder ist in den Bergen. Bei der nächsten
Gelegenheit wird auch er in die Berge rennen“, sagte er am Mittwoch.
Gemeint war damit der kurdische Politiker und HDP-Kovorsitzende
Selahattin Demirtaş, der in Interviews eingeräumt hatte, dass sein Bruder
im Gebirge kämpfe.
Eine Formulierung, die in der Türkei bedeutet, dass man als PKK-Anhänger
gegen türkisches Militär kämpft. „Erdoğan ist nicht mehr an einer
politischen Lösung des Konflikts mit Damaskus und der PKK interessiert“, so
Akça. Aus diesem Grund habe Erdoğan nun einen nationalistisch-militärischen
Weg gewählt, und deswegen provoziere Ankara die PKK, dass diese
zurückschlage.
Eine Rechnung, die bisher aufgegangen ist. Denn die PKK ist in ihre alten
Reflexe zurückgefallen, ihrerseits türkische Soldaten und Militärs zu
töten. Mit dieser Gewaltspirale könnte das Ansehen der HDP geschädigt
werden, die im Ruf steht, enge Verbindungen zur PKK zu unterhalten. Zwar
bestritt Demirtaşdiesen Vorwurf als „schmutzige Propaganda“ und stellte
klar: „Wir haben zur PKK überhaupt keine Beziehungen.“ Die HDP bekomme „…
niemandem Anweisungen, auch nicht von der PKK“. Dennoch bleibt der Verdacht
haften.
## Ein Machtvakuum
Nihad Latif Kodscha, Bürgermeister der nordirakischen Stadt Erbil, gibt
beiden Seiten eine Mitschuld an der jetzigen Eskalation. Auch er warnt
davor, dass die türkische Regierung mit ihrem Kampf gegen den Terror vor
allem innenpolitische Ziele verfolge, denn das Ergebnis der letzten
Parlamentswahl habe zu einem Machtvakuum geführt. „Es kann sein, dass der
Krieg der türkischen Regierungspartei AKP dazu nützt, eine Mehrheit zu
bekommen“, sagte Kodscha, aber auch die PKK treibe ein gefährliches Spiel,
indem sie den Konflikt eskalieren lasse.
Dass Assad – Erdoğan ist ein ausgewiesener Feind des syrischen Präsidenten
– noch immer herrscht, musste Erdoğan zähneknirschend hinnehmen. Mit den
Dschihadisten in seiner Nachbarschaft hat sich der Türke lange Zeit
abfinden können, mit den nach Autonomie strebenden Kurden allerdings nie.
Denn in den syrischen Bürgerkriegswirren bildete sich in Nordsyrien eine
autonome kurdische Region, die von den Kurden Rojava (Westen) genannt wird.
Ein Gebiet, das sich im Dreiländereck zwischen Syrien, dem Irak und der
Türkei über fast 600 Kilometer entlang der syrisch-türkischen Grenze
erstreckt. Ein Albtraum für Erdoğan, der noch mehr als die Islamisten die
Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden fürchtete und klarstellte, dass er
einen Staat Kurdistan niemals dulden werde.
Während im Herbst letzten Jahres der IS die Stadt Kobani an der
türkisch-syrischen Grenze in Rojava überrannte, schaute Ankara dem Gemetzel
tatenlos zu.
Als vor vier Wochen kurdische Einheiten, unterstützt von der US-Luftwaffe,
den IS aus der syrischen Stadt Tall Abjad verdrängt hatten, wiederholte
Erdoğan mal wieder seine Haltung gegenüber dem kurdischen
Unabhängigkeitsstreben: „Wir werden es niemals zulassen, dass an unserer
Grenze im Süden, im Norden Syriens, ein kurdischer Staat gegründet wird.
Koste es, was es wolle.“
## Imagegewinn der Milizen
Mit zunehmendem Selbstvertrauen der Kurden wurde Ankara immer nervöser, die
türkische Urangst vor einem Staat Kurdistan wuchs. Die Taktik des
Zurücklehnens und Wegschauens sowie die Politik der „offenen Grenzen“, die
zum Erstarken des IS geführt und zur Schwächung der Kurden beigetragen
hatte, funktionierte spätestens nach dem Anschlag in Suruç nicht mehr, den
Ankara dem IS anlastet. Der internationale Imagegewinn der kurdischen
Milizen, die sich im Grenzgebiet des Iraks und Syriens als die härtesten
Kämpfer gegen die Dschihadisten erwiesen, und der beachtliche
Stimmenzuwachs der Kurdenpartei bei den Parlamentswahlen waren zu viel für
Erdoğan – er reagiert nun, indem er die Kurden angreift. So macht sich der
Billardspieler Erdoğan die Tragödie von Suruç zunutze.
„Es gibt kein Kurdenproblem in diesem Land, sondern ein Türkenproblem“,
kritisiert Ahmet Şik, einer der bekanntesten Investigativjournalisten des
Landes. „Die in den verschiedenen Ländern verstreuten Kurden so wie alle
anderen Nationen haben auch das Recht auf ihre eigene Unabhängigkeit.“ Er
fordert, endlich die Autonomiebestrebungen zu respektieren. Zudem seien die
Kurden die einzigen kämpfenden Regimegegner in Syrien, die säkular und
demokratisch sind. „Deswegen sind sie auch eine Sicherheit, um die Grenze
vor den Dschihadisten zu schützen.“
Doch Präsident Erdoğan hat schon angekündigt, die Türkei werde ihren
Militäreinsatz gegen den IS und die PKK „mit Entschlossenheit“ fortsetzen.
Ein „Schritt zurück“ komme nicht infrage.
Was mit einem Irrtum begann, droht in einem Bürgerkrieg zu enden.
Argumente
1 Aug 2015
## AUTOREN
Cigdem Akyol
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