# taz.de -- Die Balance wiederfinden | |
> Austausch Kinder aus der umkämpften Ostukraine kommen für zwei Wochen in | |
> die Stadt für ein Zirkusprojekt mit Berliner Kindern.Sie lernen | |
> jonglieren, Einrad fahren und Clown sein – und sollen so Abstand vom | |
> Schrecken in ihrer Heimat gewinnen | |
Bild: Einfach nur eine Clownnase aufgesetzt – und der Spaß kann beginnen: ju… | |
von Nils Bröer (Text und Fotos) | |
Behutsam und noch ziemlich wackelig hangeln sich der elfjährige Stas und | |
seine Freunde auf ihren Einrädern zwischen zwei zusammengeschobenen | |
Bierzelttischen voran, sie suchen nach Halt. Immer wieder fallen sie hin; | |
immer wieder rappeln sich auf und versuchen es erneut. Sie wollen fit sein | |
für ihren großen Auftritt in der Zirkusmanege. | |
Was aus der Ferne lediglich wie eine weitere Ferienbeschäftigung aussieht, | |
ist für die Kinder viel mehr. Denn die Balance, die sie hier auf dem | |
Düppel-Gelände in Zehlendorf so beharrlich üben, ist in ihrer Heimat | |
abhandengekommen. Stas, Kostya, Vadim und all die anderen Kinder, die auf | |
dem Gelände herumwuseln, stammen aus dem Donbass – jener Region in der | |
Ostukraine, die die meisten Menschen in Deutschland nur aus den | |
Abendnachrichten kennen. Sie sind vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen | |
und mit ihren Familien im ostukrainischen Charkiw gestrandet. Nun sind sie | |
für insgesamt zwei Wochen nach Berlin gekommen, um Flucht und Unsicherheit | |
hinter sich zu lassen und mit Gleichaltrigen ihre Zirkusgala vorzubereiten. | |
Möglich gemacht haben das der Verein „partners Osteuropa“ unter der Leitung | |
der Grünen-Politiker Viola von Cramon und Oliver Schruoffenegger sowie der | |
Ukrainerin Olga Pischel. Bei einem Besuch ihrer Heimatstadt Charkiw im | |
Januar wurde die 52-Jährige Zeugin des Elends der ukrainischen | |
Binnenflüchtlinge. „Bei minus 20 Grad kampierten frierende und hungernde | |
Menschen vor dem Bahnhof. Das waren Bilder, die ich nur aus den Erzählungen | |
meiner Oma kannte, als sie 1941 nach Nowosibirsk fliehen musste“, berichtet | |
Olga Pischel. | |
## Zahlreiche weitere Projekte sind geplant | |
Zurück in Deutschland, beschloss sie zu handeln. Da traf es sich gut, dass | |
von Cramon und Schruoffenegger gerade ihren Verein zur Förderung des | |
zivilgesellschaftlichen Dialogs mit der Ukraine gegründet hatten. Das | |
Zirkusprojekt soll der Auftakt sein. Weitere Projekte sind geplant, | |
darunter ein Artist-in- Residence-Programm für ukrainische Künstler, ein | |
Fachkräfteausstausch mit der Kinderrehabilitationsklinik Charkiw und ein | |
Jugendprojekt zur Erinnerungskultur. Das Auswärtige Amt unterstützt das | |
Debütprojekt mit 100.000 Euro, dazu kommen zahlreiche Sachspenden, unter | |
anderem Rucksäcke von einem Sportausrüster, Zelte vom Deutschen Roten Kreuz | |
und Lebensmittel von der Berliner Tafel. | |
Für die Zirkusfreizeit haben die Initiatoren von Anfang an auf die | |
Zusammenarbeit mit dem Berliner Kinderzirkus Cabuwazi gesetzt. Denn zwei | |
Dinge waren Schruoffenegger und Co wichtig: „Ein Modell, in dem es nicht | |
auf Sprache ankommt; und eines, das den Aufbau von Selbstwert fördert, der | |
in Fluchtsituationen schnell verlorengeht.“ | |
Was der Verein in kurzer Zeit auf die Beine gestellt hat, kann sich sehen | |
lassen: Insgesamt 180 Kinder aus der Ukraine und Deutschland können, | |
unterteilt in drei Gruppen, jeweils für 14 Tage in Berlin jene kindliche | |
Normalität erfahren, die in der Ostukraine längst keine | |
Selbstverständlichkeit mehr ist. Olga Pischel ist dafür noch einmal in die | |
Ukraine gereist und hat Kooperationen mit dem deutschen Zentrum und der | |
Flüchtlingshilfe „Station Charkiw“ geschlossen: „Die hatten dort ein gut… | |
Register und haben mir alle Familien mit Kindern zwischen 10 und 14 Jahren | |
rausgesucht.“ Am ersten Tag verschickte sie rund 400 SMS; einen Tag später | |
kamen 70 Eltern zur ersten Infoveranstaltung. | |
Es ist ein langsames, vorsichtiges Herantasten zwischen Deutschen und | |
Ukrainern. Aber am Ende siegt die Neugier. Die 13-Jährige Helena aus | |
Zehlendorf sitzt zusammen mit ihrer Freundin, der 11-jährigen Teresa, etwas | |
abseits. Die ukrainischen Jungen, die sich in der Sonne auf ihren Einrädern | |
abmühen, sind ihnen noch etwas suspekt. Helena weiß, was in der Ostukraine | |
vor sich geht, denn sie hat die Kindernachrichten im Fernsehen aufmerksam | |
verfolgt. | |
## Große Freude über Gummibärchen | |
Sie findet es „spannend“, zu sehen, dass für die Kinder aus der Ukraine | |
„viele Dinge so gar nicht selbstverständlich sind“. Tags zuvor, berichtet | |
sie, hätten sich die Ukrainer so sehr über die kleinen Tüten mit | |
Gummibärchen zum Nachtisch gefreut, „als wäre das sonst was gewesen“. Das | |
hat Helena sehr nachdenklich gemacht. | |
Sich per Gestik und Mimik mit den ukrainischen Mädchen zu verständigen, | |
daran hat sich Teresa schnell gewöhnt. Ein paar Unterschiede hat sie jedoch | |
ausgemacht: Die Ukrainerinnen hätten „irgendwie mehr Power“ als ihre | |
deutschen Freundinnen – und am Kickertisch seien sie etwas besser. | |
In der lichtdurchfluteten Turnhalle gibt Zirkustrainer Ottomar die letzten | |
Anweisungen für die erste Doppelfahrt im Rhönrad – in einem Kauderwelsch | |
aus Deutsch, Englisch und Russisch. Die Kommunikation mit den Kindern ist | |
für ihn „überhaupt kein Problem“. Er ist beeindruckt vom Willen und den | |
Fähigkeiten seiner Schützlinge: „Die sind alle echt gut unterwegs. Man | |
merkt, dass sie sich wirklich reinhängen wollen. Manche Kinder haben heute | |
ja schon Probleme, einfach mal rückwärts zu laufen – die hier jedenfalls | |
nicht.“ | |
Sein Trainerkollege Philipp ist genauso angetan von dem Projekt: „Mit jedem | |
Trainingsfortschritt wächst auch das Selbstvertrauen der Kinder. Man kann | |
geradezu dabei zusehen, wie sie sich Tag für Tag mehr zutrauen und den | |
Krieg für eine Weile vergessen.“ | |
Doch so ganz verdrängen lassen sich Flucht und Krieg doch nicht. Das merken | |
die mitgereisten ukrainischen Betreuerinnen jeden Tag aufs Neue. „Natürlich | |
ist es nicht leicht“, stellt Lena Kiziurovoa fest, die eigentlich das Fach | |
Deutsch an einem Gymnasium in Charkiw unterrichtet. „Unter den Kindern sind | |
Waisen und viele, die plötzlich in furchtbarer Armut leben müssen, weil | |
ihre Eltern auf die Schnelle keine neue Arbeit finden.“ Manche Kinder sind | |
ohne Jacke angereist, „weil sie schlicht und einfach keine mehr haben“. Für | |
solche Fälle führen die Betreuerinnen Listen und organisieren während des | |
Aufenthalts noch das Nötigste, meist in ihrer Freizeit. | |
## Vorbereitung auf den Abend in der Disko | |
Vor dem Mädchenzelt ist der Teufel los. Für den Abend ist eine Disko | |
geplant und die 11-jährigen Mädchen Alina, Katja und Dascha bereiten sich | |
akribisch darauf vor. Statt der Trainingsklamotten tragen sie jetzt schicke | |
Kleider und lackieren sich gegenseitig die Fingernägel in den | |
Nationalfarben der Ukraine: himmelblau und korngelb. Mit den umstehenden | |
Jungs, die das Spektakel argwöhnisch verfolgen , sind sie sich einig: Weder | |
ukrainische noch russische Popmusik kommen infrage – es muss | |
US-amerikanischer Rap sein. | |
Am Morgen nach der Disko sitzt Katja in der Turnhalle und macht eine Pause | |
vom Training. Mit ihren Fortschritten bei der Tuchakrobatik-Nummer ist sie | |
sehr zufrieden. Anders als die meisten anderen Kinder wohnt sie nicht in | |
Charkiw, sondern ist mit ihren Eltern und ihrem Großvater nach Kiew | |
gezogen. Ein Jahr ist es jetzt her, dass sie ihre Heimatstadt Lugansk | |
verlassen musste. Den Sommer hat sie noch bei ihrer Schwester in | |
Tschernigow verbracht, dann ging es in die Hauptstadt der Ukraine. | |
Richtig glücklich ist sie dort allerdings noch nicht geworden. Mit ihrem | |
Vater habe sie zwar ein paar Museen besucht, „aber eigentlich habe ich gar | |
keine Lust darauf, mir die Stadt anzusehen“, sagt sie. Wann sie wieder nach | |
Lugansk zurückkehren kann, das weiß Katja nicht. Aber sie weiß genau, was | |
sie tun wird, wenn es so weit ist: „Ich werde mich in meinem Zimmer auf | |
mein Bett legen und ich werde spüren, dass ich wieder zu Hause bin.“ | |
31 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Nils Bröer | |
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