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# taz.de -- Wo bleibt die basisdemokratische Etikette?
> Kritik Die zweite „Vorverhandlung zum Kapitalismustribunal“ lief am
> Samstag im Heimathafen Neukölln
Alternativlos. Das Wort beginnt mit einem hoffnungsvollen ersten Teil und
endet dann im Gebüsch. Alternativlos steht für Schulterzucken im Jobcenter.
Entweder diesen Job oder keinen. Alternativlos soll die Entsendung von
Soldaten in Kriegsgebiete sein und das Sterben im Mittelmeer. Wir können
nicht alle aufnehmen. Die Privatisierung von öffentlichem Vermögen ist es
auch: alternativlos – wie das ganze Wirtschaftssystem, das weit mehr ist
als bloß ökonomischer Zustand. Der Kapitalismus ist Gesellschafts- und
Sozialordnung und Ideologie. Und er ist gekommen, um zu bleiben.
Wer es nicht mehr mit ansehen kann, dass sich Politiker an entscheidenden
Positionen, in den Finanzministerien und Präsidentenpalästen Europas,
hinter dem Unwort des Jahres 2010 verstecken, der kann den Kapitalismus
dank eines neuen Projekts anklagen: Im Frühjahr 2016 wird im Wiener
Gerichtshof das Kapitalismustribunal abgehalten, organisiert vom Haus
Bartleby, dem Zentrum für Karriereverweigerung. Jeder ist
anklageberechtigt. Anklagen kann man auf der Internetseite des Tribunals.
Die Anklagen werden geprüft und vor Gericht getragen.
Die Verurteilungen sollen rechtskräftig sein, allein die Exekutive fehlt,
um Schuldige zu bestrafen – der entscheidende Unterschied zu regulären
demokratischen Rechtssystemen. Die Organisatoren erhoffen sich dennoch eine
Signalwirkung. Die zweite Vorverhandlung dazu fand am Samstag im
Heimathafen zum Themenkomplex Ökonomie statt und sollte eine öffentliche
Diskussionen ermöglichen. In der ersten Vorverhandlung im Juni wurde über
Ökologie diskutiert.
Auf dem Podium sitzt die linke Ökonomiedenkschule: Der
Politikwissenschaftler Ulrich Brand, Fellow am Postwachstumskolleg in Jena,
Arbeitsschwerpunkte Ressourcen- und Umweltpolitik. Neben ihm Trevor Evans
von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin; er hat die Professur
für Geldtheorie und internationale Währungsbeziehungen inne. Zu seiner
Linken rundet Graeme Maxton das Podium ab. Er ist Generalsekretär des Club
of Rome, eines Thinktanks für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit.
Durch den Abend führt Jörg Petzold vom Haus Bartleby, der als Moderator bei
Flux Fm arbeitet.
## Alles gescriptet?
Bevor die Experten sprechen, erzählt eine 17-jährige Schülerin aus Neukölln
von ihrem Wohnalltag in einem Haus, in dem Nachbarn aus ihrer Wohnung
geräumt werden und in dem die Miete alle zwei Jahre erhöht wird – so hoch,
dass ihre Mutter regelmäßig mit der Faust gegen die Wand haut. Dann öffnet
sich der Vorhang, und die erste Frage aus dem Publikum wird gestellt:
„Liebe Experten, ich bewundere Stars und reiche Menschen. Woher stammt ihr
Reichtum?“
Evans und Maxton antworten, dass man Geld haben müsse, um mehr Geld zu
bekommen. Brand wirft ein, dass nicht allein Finanzmärkte Reichtum
schaffen, sondern ebenso Arbeit, allerdings nur, wenn man den Mehrwert der
Arbeit anderer abschöpft. Die Meldungen aus dem Publikum werden in naivem
Tonfall vorgetragen und fragen nach dem Anteil eines jeden Menschen am
Reichtum der Erde, nach der Fairness von Erbschaften oder danach, ob
Griechenland nicht längst zum Protektorat eines totalitären
Staatenverbundes geworden sei.
Die Fragen sind abgesprochen und werden vom Team des Haus Bartleby
vorgetragen, was ein Zuhörer kritisiert: „Is’ hier eigentlich irgendwas
nicht gescriptet?“ Ein anderer verlässt schimpfend den Saal. Manche Zuhörer
buhen laut, wenn ihnen ein Redebeitrag nicht passt. Wo bleibt die
basisdemokratische Etikette? Von Teilen des Publikums werden die linken
Ökonomen auf der Bühne, die als Experten die Funktionsweisen und ebenso die
Schwächen des Kapitalismus erklären sollen, offenbar als Verteidiger
ebendieses Kapitalismus angesehen. Die Ablehnung der Eliten geht so weit,
auch denjenigen zu misstrauen, die Wege aus der Krise erdenken sollen.
Dass Lösungsansätze nur ex negativo gefunden werden können, über die
Orientierung am Istzustand, gefällt einigen nicht. „Wieso gehen wir nicht
auf die Straße? Wieso gibt es keine Revolution?“, schreit einer. Brausender
Applaus. Alle bleiben erst mal sitzen.
Auch wenn man die Nachhaltigkeit solcher Diskussionsrunden hinterfragen
kann, ist das geplante Kapitalismustribunal als Konzept eine innovative
Sache. Denn es stellt nicht nur die Frage, ob Kapitalismus ein Verbrechen
ist, sondern zieht zum ersten Mal konkret Menschen, Institutionen und
Unternehmen zur Verantwortung, wenn auch nur symbolisch. Es sucht nach
einer Alternative über die Negation des Bestehenden. Nicht was sein soll,
sondern was nicht sein soll, wird das Ergebnis des Tribunals sein. Auf dass
das Märchen von der Alternativlosigkeit nicht auch noch unseren Enkeln
erzählt wird. Anne-Sophie Balzer
20 Jul 2015
## AUTOREN
Anne-Sophie Balzer
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