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# taz.de -- Berliner Szene: Alle weinen!
> Zeugnisausgabe
Ich bin früher losgefahren, um noch das Ende der Zeugnisausgabe meiner
Tochter mitzuerleben, aber es reicht nicht. Als ich in der Thaerstraße mein
Auto abstelle, kommt mir Cheyenne, Hannahs Klassenkameradin, entgegen. Das
Mädchen hat Tränen in den Augen. Offensichtlich bleibt Cheyenne erneut
sitzen. Sie hat die erste Klasse wiederholt und wird nach drei Jahren wohl
immer noch nicht in die dritte versetzt. Ich nicke ihr aufmunternd zu.
Kaum, dass ich in die Hausburgstraße einbiege, habe ich das nächste
verheulte Kind vor Augen: Laurenz. Stimmt! Von dem hatte mir meine Tochter
berichtet, dass er häufiger den Unterricht stört und vor die Tür muss.
Dennoch bin ich ein wenig verwundert, wie rigoros die Lehrerin bereits in
der zweiten Klasse aussortiert. Aber gut. Lieber sofort richtig benoten,
als jeden bis zum Hochschulabschluss durchwinken. Möglicherweise hat sie
auch die Anweisung vom Schulleiter, Platz zu schaffen für Wiederholer aus
dem Jahrgang drüber.
Nach wenigen Metern betrete ich den Schulhof. Da ist die eingebildete
Charlotte mit ihren Eltern. Auch sie wimmert, obwohl sie laut Hannah die
Klassenbeste ist. Ich verspüre Schadenfreude. Hat sie im Fach Schulgarten
nur eine „Zwei“? Meine Freundin kann ich nicht fragen, weil sie dann die
Bestätigung hätte, dass ich in den wichtigen Angelegenheiten nicht
aufpasse. Apropos Melanie: Gerade verlässt sie das Schulgebäude. Ich winke.
Sie kann meinen Gruß nicht erwidern, weil sie unsere Tochter trösten muss.
So streng muss man nun auch wieder nicht sein. „Was ist denn mit dem
Zeugnis?“, erkundige ich mich. Meine Freundin beruhigt mich: „Sie weint,
weil sie nächstes Jahr nicht mehr Frau Neumann als Klassenlehrerin hat.“
Irgendwas mache ich falsch. Meine Schüler haben zum Abschied noch nie
geweint.
Stephan Serin
17 Jul 2015
## AUTOREN
Stephan Serin
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