# taz.de -- Volle Transparenz im Kanzleramt | |
> INFORMATIONSFREIHEIT Darauf warten Transparenzaktivisten seit Langem: | |
> Über Jahrzehnte hat das deutsche Kanzleramt umfassend Einsicht in sein | |
> politisches Handeln geboten. Allerdings unfreiwillig - und den Falschen. | |
> Was spionierte die NSA im Kanzleramt aus? | |
Bild: Immer diese Nörgler. Eine gut gemachte Spionage kann doch auch erhellend… | |
Von Astrid Geisler | |
Schon wieder so ein Scoop: Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche hat die | |
Enthüllungsplattform Wikileaks am Mittwochabend geheime Informationen des | |
US-Geheimdienstes zur Überwachung deutscher Regierungsstellen ins Netz | |
gestellt. Dabei wird klar: Die US-Spähattacken auf die „Freunde“ von der | |
Bundesregierung haben eine lange Geschichte. | |
Sie betrafen mitnichten nur das Handy der Bundeskanzlerin Angela Merkel, | |
sondern das Kanzleramt als solches und zentrale Figuren aus dem | |
Regierungsapparat – und das schon mindestens seit den 1990er Jahren. Damit | |
bekommt die NSA-Affäre nochmals eine neue Dimension. | |
Wen hatte der US-Geheimdienst im Visier? | |
Die NSA hat Wikileaks zufolge spätestens unter Bundeskanzler Helmut Kohl | |
(CDU) damit begonnen, Telefon- und Fax-Anschlüsse im Bonner Kanzleramt ins | |
Visier zu nehmen – und führte dies in der neuen Hauptstadt Berlin fort. In | |
einer Tabelle mit 56 NSA-Selektoren, die die Enthüllungsplattform | |
zusammengestellt und öffentlich gemacht hat, stehen neben vertraulichen | |
Telefon- und Faxnummern im Büro der Kanzlerin auch Nummern von | |
Spitzenbeamten, Assistenten oder Stabschefs. | |
Darunter finden sich auch Durchwahlen von Merkels Büroleiterin Beate | |
Baumann, des aktuellen Kanzleramtsministers Peter Altmaier und des | |
Staatssekretärs für die Geheimdienste Klaus-Dieter Fritsche. Auf der Liste | |
stehen zudem die Handynummern von Bernhard Kotsch, aktuell Vize-Büroleiter | |
von Angela Merkel, Volker Kauder, Chef der Unionsfraktion im Bundestag | |
sowie von Ex-Kanzleramtschef Ronald Pofalla. Das ist besonders amüsant, | |
denn der hatte im Sommer 2013 vergeblich versucht, die NSA-Affäre für | |
erledigt zu erklären. | |
Insgesamt verfügt Wikileaks nach eigenen Angaben inzwischen über 125 | |
Telefonnummern deutscher Spitzenpolitiker und Topbeamter, die systematisch | |
ausgeforscht worden sein sollen. | |
Die jüngste Wikileaks-Enthüllung geht zurück bis in die Amtszeit von | |
Kanzler Helmut Kohl. Unter den Selektoren fand Wikileaks demnach die | |
Büronummer von Johannes Ludewig, der von 1991 bis 1994 die | |
Wirtschaftsabteilung im Kanzleramt leitete. Aus der Kanzlerschaft von | |
Gerhard Schröder (SPD) stehen beispielsweise Ex-Kanzleramtsminister Bodo | |
Hombach und der damalige Geheimdienstbeauftragte Ernst Uhrlau auf der | |
Liste. | |
Woher kommen die von Wikileaks veröffentlichten Dokumente? | |
Die Enthüllungsplattform hat keine Originaldokumente ins Netz hochgeladen. | |
Vielmehr hat sie Informationen über Suchbegriffe der NSA aufbereitet, die | |
aus bisher unbekannter Quelle stammen. Daneben hat sie einige | |
US-Überwachungsberichte im Originalwortlaut veröffentlicht. Dass es sich | |
dabei um echte Quellen handelt, ist plausibel. Bislang konnte der | |
Organisation noch nie nachgewiesen werden, unechte Dokumente verwertet zu | |
haben. | |
Wurden die Anschlüsse im Kanzleramt auch wirklich abgehört? | |
Das ist äußerst naheliegend. Wikileaks veröffentlichte auch als „streng | |
geheim“ eingestufte Auswertungsprotokolle von Gesprächen, die Angela Merkel | |
vermutlich am Telefon führte – unter freundschaftlicher Beobachtung der | |
NSA. Darunter ein Gespräch mit dem Kronprinzen der Vereinigten Arabischen | |
Emirate, Scheich Muhammad bin Zayidal-Nuhayyan, aus dem März 2009. Thema: | |
der Iran und eine Videobotschaft von US-Präsident Barack Obama zum | |
persischen Neujahrsfest Nowruz, die Merkel wohlwollend würdigte. Eine | |
weitere Gesprächszusammenfassung aus dem Jahr 2009 bildet vertrauliche | |
Informationen zu Kanzlerin Merkels Kurs in der Finanzkrise ab. | |
Mal wieder ein Skandal – aber was folgt daraus? | |
Die Veröffentlichungen haben durchaus Gewicht. Erstmals scheint belegt, | |
dass die langjährige US-Spionage inmitten deutscher Regierungszentralen | |
eine historische Dimension hat. Ob darauf nun politisch etwas folgt, ist | |
allerdings mehr als offen. | |
Zwar hieß es am Donnerstag, dass die Generalbundesanwaltschaft den neuen | |
Berichten „nachgehe“ – das muss aber nicht unbedingt etwas heißen. In der | |
Vergangenheit hatte sich Deutschlands Generalbundesanwalt Harald Range | |
nicht besonders bissig gezeigt, wenn es um die Aufklärung zahlreicher | |
Straftatbestände im Zusammenhang mit der NSA-Affäre ging. Der Grund ist | |
einfach: Die Angelegenheit ist politisch heikel. | |
Erst kürzlich hatte Range die Ermittlungen wegen der Überwachung des | |
Merkel-Handys aus Mangel an Beweisen eingestellt. Auch die Bundesregierung | |
selbst agiert nur äußerst zurückhaltend. | |
Nach den Wikileaks-Enthüllungen in der vergangenen Woche war noch der | |
US-Botschafter ins Kanzleramt geladen worden. Über solche diplomatischen | |
Aktivitäten wurde nun nichts bekannt. In Regierungskreisen hieß es | |
informell, man wundere sich in dieser Sache über nichts mehr. Beschwerden | |
in Washington seien offenbar sinnlos. Der Vorsitzende des NSA-Ausschusses, | |
Patrick Sensburg, sagte, es sei wenig sinnvoll, „jede Woche, wenn neue | |
Veröffentlichungen an den Tag kommen, wieder den Botschafter | |
einzubestellen“. | |
Der SPD-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, Christian Flisek, forderte | |
die Bundesregierung auf, deutlich zu machen, dass sie die Ausspähungen | |
nicht hinnehme. „Frau Merkel muss jetzt klare Worte finden gegenüber Obama. | |
Das geht so nicht weiter.“ | |
Auch die Opposition im Bundestag reagierte entrüstet. Die jüngsten | |
Veröffentlichungen seien „hochnotpeinlich“ für das Kanzleramt, sagte der | |
Grünen-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, Konstantin von Notz. Die | |
Kanzlerin habe versucht, die Affäre „zu vertuschen, abzumoderieren und | |
einfach auszusitzen“ und obendrein die Aufklärungsbemühungen des Parlaments | |
hintertrieben – das räche sich jetzt. | |
Die Obfrau der Linksfraktion, Martina Renner, verlangte eine Sondersitzung | |
des NSA-Untersuchungsausschusses trotz der parlamentarischen Sommerpause. | |
Es stelle sich die Frage, was das für Spionageabwehr zuständige Bundesamt | |
für Verfassungsschutz unternommen habe, um die Bundesregierung zu schützen. | |
Und was soll das alles bringen? Vermutlich nicht besonders viel. | |
10 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Astrid Geisler | |
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