# taz.de -- „Chinesen sind zufrieden, wenn keiner aus dem Rahmen fällt“ | |
> DIE EINWANDERIN Der Liebe wegen kommt Huijuan Huang-Tiel als junge Ärztin | |
> für Akupunktur 1990 nach Berlin. Doch wird ihre Ausbildung hierzulande | |
> nicht anerkannt – bei vielen Schulmedizinern gilt die traditionelle | |
> chinesische Medizin als Scharlatanerie. Huang-Tiel kämpft sich durch, | |
> jobbt, lernt die Sprache, studiert Humanmedizin. Inzwischen ist sie | |
> Fachärztin für Allgemeinmedizin – ihre Erfahrungen mit chinesischen und | |
> deutschen Patienten kommen ihr dabei zugute | |
Bild: „An der Universität in Ostberlin habe ich mich wohler gefühlt. Das wa… | |
INTERVIEW Cordula BachmannFotos Wolfgang Borrs | |
taz: Frau Huang Sie kamen 1990 wegen eines Mannes nach Berlin. Wie haben | |
Sie sich kennengelernt? | |
Huijuan Huang-Tiel: Das war in China, in Schanghai in einem Krankenhaus. | |
Ich war Ärztin für Akupunktur. Er war Medizinstudent und hat chinesische | |
Medizin studiert. | |
Waren Sie seine Ausbilderin? | |
Ja, teilweise. Wir haben uns mit einem Chefarzt und einem Oberarzt ein | |
Zimmer geteilt. | |
Haben Sie dort zusammengelebt? | |
Nein, das gab es nicht. Ich glaube, bis heute geht es nicht, dass Chinesen | |
mit ausländischen Studenten zusammenleben. Er hat in einem Studentenheim | |
für Ausländer gelebt. Jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, wurde beim Pförtner | |
notiert, wann ich reingegangen bin und wann wieder raus. Es war nicht so, | |
dass man ausländische Studenten einfach besuchen konnte. | |
Wie lang lief das so? | |
Ein Jahr. Ich musste ein Visum beantragen und einen Pass. Er musste zurück, | |
um sein Studium in Berlin fortzusetzen, aber er wollte nicht ohne mich nach | |
Deutschland. Er hatte die Sorge, dass, wenn er alleine zurückgeht, ich kein | |
Visum bekomme. Damals war der Mauerfall. Er ist ein Westberliner und er | |
hatte große Angst, dass ein Krieg ausbricht und er mich nie mehr wieder | |
sieht. | |
Sehr romantisch! | |
(Lacht) Wir sind im März 1990 nach Berlin geflogen. Die Mauer war gerade | |
gefallen. Wir kamen mit Interflug. Das war die DDR-Fluglinie, und die | |
Stewardessen waren extrem nett und haben sich ganz rührend um alles | |
gekümmert. Sie hatten das Gefühl, wir sind deutsch – wir sind ein Volk. Wir | |
sind in der Nacht angekommen und mit dem Bus in die Stadt gefahren, und mir | |
fiel auf, wie hell alles war. Alles war beleuchtet, die Straßen, die | |
Geschäfte – das gab es in China nicht. | |
Wie sind Sie heimisch geworden in Berlin? | |
Am Anfang war es schwer. Ich bin ohne Sprachkenntnisse gekommen. Dann | |
durfte ich nicht als Ärztin arbeiten und habe im Chinarestaurant | |
gekellnert. Ich habe verschiedene Jobs ausprobiert auch im Pflegedienst. | |
Nur geputzt habe ich nie. | |
Glauben Sie, dass es einen Unterschied macht, ob man als Mann oder Frau in | |
ein fremdes Land geht? | |
Am Anfang hatte ich immer das Gefühl, als Exotin wahrgenommen zu werden. | |
Ich war empfindlich, wenn man mich als „kleine Chinesin“ behandelte. Es | |
gibt so Männer um die 60 mit Bauch: Die haben mir Heiratsanträge gemacht, | |
damit ich ein Visum bekomme. Das war eine Herabsetzung und Unterstellung: | |
Die ist aus wirtschaftlichen Gründen gekommen, die will hier in Reichtum | |
leben und ein besseres Leben führen. In diesem Klischee fühlte ich mich | |
gesehen. | |
War das nicht komisch für Sie, als Pflegerin zu arbeiten, obwohl Sie | |
ausgebildete Ärztin waren. | |
Ja, das ist mir sehr schwergefallen. In China haben die Ärzte eine hohe | |
soziale Stellung. Hier arbeitete ich plötzlich als Kellnerin oder Pflegerin | |
und bediene andere Leute – auch unfreundliche Leute. Das war schwierig. Auf | |
der andere Seite war es auch interessant. Es war gut und nützt mir auch für | |
meine jetzige Tätigkeit als Ärztin, die Patienten besser zu verstehen. In | |
China gibt es solche Chancen nicht. Man geht von der Mittelschule zur | |
Oberschule, dann kommen die Uniaufnahmeprüfung und das Studium. Man ist | |
Elite. Ich war mit 22 eine junge Ärztin. Mit wenig Menschenkenntnis und | |
wenig sozialer Erfahrung – aber trotzdem eine angesehene Ärztin. | |
Wie haben Sie an Ihre berufliche Ausbildung wieder anknüpfen können? | |
Ich musste bei null anfangen. Akupunktur war damals noch nicht akzeptiert. | |
Viele Schulmediziner sagten, das ist Scharlatanerie. Damals gab es ein | |
Gesetz, das Ärzten untersagte, mit Heilpraktikern zusammenzuarbeiten. Da | |
war eine Hierarchie, eine ablehnende Haltung von der ärztlichen Seite. Ich | |
hätte entweder die Prüfung als Heilpraktiker machen müssen oder nochmal | |
Humanmedizin studieren. Das habe ich dann gemacht. Das Studium an der | |
Freien Universität war ganz anders aufgebaut als in China. Jeder kämpfte | |
für sich, und jeder musste sich darum kümmern, welche Kurse er macht – da | |
habe ich viel verpasst. Später habe ich dann einen Studienplatz an der | |
Humboldt-Universität bekommen. Dort kam ich besser zurecht. | |
Das Universitätssystem in Ostberlin war dem chinesischen ähnlicher? | |
Ja, es gab wenig freie Wahl. Wenn ein Kurs angeboten wurde, gab es nur | |
einen und nicht verschiedene zur Auswahl. Alles war geregelt, man blieb mit | |
den Kommilitonen zusammen und verpasste nicht viel. Im Westen musste man | |
sich selber informieren. Im Osten habe ich mich wohler gefühlt. Das waren | |
weniger die Unterschiede der Kultur, sondern die Ähnlichkeit der | |
politischen Systeme, die entscheidend waren. | |
Haben Sie den Eindruck, dass Sie inzwischen an Ihren beruflichen Status in | |
China anschließen konnten? | |
Immer noch nicht so ganz. Ich finde es ungerecht, dass mir die zusätzliche | |
Bezeichnung für Akupunktur nicht anerkannt wird, obwohl ich das fünf Jahre | |
studiert habe. Der Grund ist, dass ich chinesische Medizin vor der | |
Schulmedizin studiert habe. | |
Die falsche Reihenfolge? | |
Ja, es wird als eine „Weiterbildung“ angesehen. Das heißt, man muss zuerst | |
Medizin studieren, und dann bildet man sich „weiter“. | |
Das heißt, Sie müssten jetzt nach Ihrer Approbation noch mal … | |
120 Stunden Akupunkturausbildung machen. | |
Das ist sehr eigenartig. | |
Ja, deshalb hab ich auch die Ärztekammer verklagt, aber meine Klage | |
verloren. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren und zu verstehen. Die | |
Richterin sagte auch: „Mit meinem Bauchgefühl bin ich völlig auf Ihrer | |
Seite“. Trotzdem haben sie mir nur einen Vergleich angeboten, dass ich mit | |
20 Stunden weniger die Anerkennung bekomme. Aber ich habe meinen Stolz und | |
habe gesagt: „Nein“. Ich will nicht bei anderen lernen. Ich habe im | |
Mutterland traditionelle chinesische Medizin (TCM) studiert. Diese | |
Weiterbildungsordnung ist für die Deutschen entwickelt – eigentlich müsste | |
man die Qualität prüfen. | |
Seit 2014 arbeiten Sie nebenberuflich im Abschiebegewahrsam in Köpenick. | |
Wen behandeln Sie dort? | |
Das sind Personen, die keine Aufenthaltserlaubnis haben. Die meisten | |
Menschen dort wurden von der Bundespolizei kontrolliert und festgenommen | |
und dann nach Berlin gebracht. | |
Würden Sie sagen, dass die gesundheitlichen Probleme, die die Menschen dort | |
haben, mit ihrer Situation zusammenhängen? | |
Ja, viele sind ohne Visum für ein oder zwei Jahre in Deutschland, ohne | |
Aufenthaltserlaubnis, ohne Krankenversicherung. Sie konnten nicht zum Arzt | |
gehen oder hatten keine Medikamente. Ich mache dann eine | |
Routineuntersuchung und auch Laboruntersuchungen. Einige der Patienten – | |
sie wollen natürlich in Deutschland bleiben – dramatisieren auch ihre | |
Beschwerden. Wer möchte schon abgeschoben werden? | |
Müssen Sie feststellen, ob die Menschen aus gesundheitlichen Gründen nicht | |
abgeschoben werden können? | |
Meine Aufgabe ist es, eine normale medizinische Sprechstunde anzubieten und | |
auch festzustellen, ob die Menschen reisefähig sind. Das heißt auch, | |
festzustellen, wie sie abgeschoben werden können, ob mit dem Flugzeug, mit | |
dem Bus oder der Bahn. | |
Das ist aber eine schwierige Aufgabe. | |
Ja manchmal. Wir hatten eine Vietnamesin mit einem sehr stark erhöhten | |
Blutdruck. Das war schwierig zu behandeln und schwierig einzustellen, und | |
es hat lange gedauert. Ich habe gesagt, sie ist nicht reisefähig. Das aus | |
rein medizinischen Gründen zu beurteilen ist nicht so schwierig. | |
Wie finden Sie den Umgang der Behörden mit den Flüchtlingen? | |
Es ist eine gute Sache, dass dort eine medizinische Sprechstunde angeboten | |
wird. Auch die Routine der Behandlung ist wichtig. Es ist für die Menschen | |
eine Gelegenheit, mit einem Arzt zu sprechen und sich behandeln zu lassen. | |
Sie haben manchmal schon so lange Beschwerden, weil sie nicht zum Arzt | |
gehen konnten. In den letzten Tagen, die sie noch in Deutschland sind, | |
sehen sie noch mal einen Arzt. Ich sage ihnen dann auch, was wichtig ist | |
und was sie in ihrer Heimat untersuchen lassen sollen. Es ist natürlich | |
traurig, dass viele auch sagen, dass sie sich das nicht leisten können – | |
die Untersuchung machen zu lassen oder sich die Medikamente zu besorgen. | |
Wie ist das Verhältnis von Schulmedizin und westlicher Medizin in China? | |
In China gibt es zwei medizinische Systeme: zum einen die traditionelle | |
chinesische Medizin und zum anderen die westliche Medizin, also die | |
Schulmedizin. Beide Studien sind gleichwertig. In China dürfen wir | |
traditionellen Mediziner alle Rezepte ausstellen und alle Untersuchungen | |
veranlassen. Es gibt keine unterschiedliche Stellung. Die chinesische | |
Medizin beruht auf chinesischer Kultur. Die Bevölkerung kennt diese Medizin | |
schon lange, und die Menschen wissen auch, mit welchen Beschwerden sie zu | |
welchem Mediziner gehen. In den meisten Krankenhäusern werden sie fast | |
immer parallel angeboten. | |
Wie wirken sich die unterschiedlichen Kulturen, in denen Sie sich bewegen, | |
auf die Medizin aus? | |
Das spielt in ganz unterschiedlichen Bereichen eine Rolle. Die deutsche | |
Vorgehensweise ist sehr genau, sehr präzise. In vielen Hinsichten ist das | |
gut, aber manchmal fehlt Flexibilität. Zum Beispiel bei der | |
Ernährungsberatung, die ich an einem TCM Zentrum in Berlin erlebt habe. | |
Dort gab es eine Ernährungsberatung nach den fünf Elementen – also auf der | |
Basis der chinesischen Medizin. Aber die Umsetzung war eine deutsche. Den | |
Patienten wurde gesagt, dass sie bestimmte Lebensmittel nicht essen dürfen. | |
Also eine solche Beratung gibt es in der chinesischen Medizin nicht. Es | |
geht immer darum, dass es ausgewogen ist – im Gleichgewicht: mehr und | |
weniger. Auch bei den Kochrezepten merkt man das. | |
Inwiefern? | |
Früher gab es keine Kochbücher. Die Rezepte wurde mündlich weitergegeben. | |
Jetzt gibt es Kochbücher, aber die sind ganz ungenau – ohne Mengenangaben. | |
In der deutschen Küche dagegen wird genau gewogen: wie viel Gramm davon, | |
wie viel Gramm hiervon (lacht). Ich koche gerne diese | |
Süß-sauer-scharf-Suppe. Die schmeckt auch vielen Deutschen, und die wollen | |
dann das Rezept haben, aber ich weiß es nicht genau, man probiert halt aus. | |
Mit dem Resultat, dass die Suppe jedes Mal ein bisschen anders schmeckt? | |
Ja, genau. | |
Wenn die Deutschen es mit der Regelbefolgung eher zu genau nehmen, wie | |
würden Sie die chinesische Einstellung beschreiben? | |
Wir sind zufrieden, wenn keiner aus dem Rahmen fällt. Dieses „präzise auf | |
den Punkt“ haben wir so nicht. Das beschreibt auch der Begriff Harmonie, | |
der in der chinesischen Medizin wichtig ist. Es geht um eine Bewegung, und | |
die Frage ist: Wie groß ist die Amplitude – ist es noch ausgewogen? | |
Werden mit den unterschiedlichen medizinischen Systemen auch | |
unterschiedliche Menschenbilder verbunden? | |
Ja. Ein traditioneller chinesischer Arzt beobachtet Patienten ganzheitlich: | |
Wie sie sich bewegen, wie sie sprechen, wie sie sich verhalten – auch die | |
Mimik und das Aussehen, die Ausstrahlung. Das gibt es in der Schulmedizin | |
eher wenig: „Ich habe Herzschmerzen“. – „Gut, machen wir ein EKG.“ | |
Schulmedizin ist auf bestimmte Symptome beschränkt. Die chinesische Medizin | |
betont die Harmonie zwischen dem Menschen und der Natur, aber auch der | |
Organe untereinander, der Seele und dem Körper. | |
Die Schulmedizin legitimiert sich durch ihre Wissenschaftlichkeit, wie | |
legitimiert sich eigentlich die TCM? | |
Chinesische Medizin ist eine empirische Medizin – eine Erfahrungsmedizin. | |
Es gab sehr lange keinen standardisierten Lehrstoff oder standardisiertes | |
Wissen. Die Theorie über die Meridiane und auch die Behandlung entwickelten | |
sich aus der Praxis. Und man hat gemerkt: Ah, dieser Punkt hilft gegen | |
Übelkeit, und hier der reagiert bei Kopfschmerzen. Mao hat das 1958 | |
standardisiert. Er hat eine Universität für TCM begründet. | |
Würde Sie sagen, chinesische und deutsche Patienten sind verschieden? | |
Ja, in Deutschland neigt man dazu, wenn ein kleiner Unfall passiert ist – | |
eine Prellung oder so –, zu sagen. „Warum hab ich dieses Pech?“, und sie | |
ärgern sich. Manchmal ist der Ärger schlimmer als die Verletzung. In China | |
ist es so: „Gott sei Dank ist es so glimpflich abgegangen. Ich hab Glück, | |
ich bin noch am Leben.“ Im Vergleich verarbeiten die Chinesen so etwas | |
leichter. | |
Und darüber hinaus? | |
Chinesische Patienten finde ich oft anstrengend. Die sind alle erst mal | |
kritisch und glauben dem Arzt nicht. Auch das Verhältnis zwischen Arzt und | |
Patient ist in China schwierig. Wenn man deutsche Patienten von der | |
Diagnose überzeugt und über die Krankheit aufklärt, dann ist die | |
Kooperationsbereitschaft viel höher. Die medizinischen Kenntnisse sind in | |
Deutschland auch besser, die Patienten sind besser informiert. Chinesische | |
Patienten kennen ihre Krankheitsgeschichte oft nicht. Wenn man nachfragt: | |
„Ach ja, da war mal irgendetwas.“ Deutsche Patienten machen genau das | |
Gegenteil: Sie schreiben alles genau auf, messen fünf-, sechsmal am Tag den | |
Blutdruck. Das ist aber auch wieder zu viel und nicht gesund. | |
Gibt es eigentlich ein chinesisches Wort für gesund? | |
Das heißt shen, bedeutet aber Ausstrahlung. Das ist dieser Blick: ein | |
konzentrierter und interessierter Blick. Daran sieht man, dieser Mensch ist | |
mit sich und seinem Körper im Einklang. | |
11 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Cordula Bachmann | |
Wolfgang Borrs | |
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