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# taz.de -- Die Stadt mal in den Augen von Christiane F.
> Führung Berlin kann man auch in berühmten Büchern und Filmen wie
> „Christiane F.“ oder „Lola rennt“ kennenlernen. Und Tal Shalev wieder…
> führt in ihren „Berlin Dream Walks“ Touristen und Einwohner zu den
> Schauplätzen dieser berühmten Filme und Bücher
Bild: Unterwegs mit den „Dream Walks“ – gucken, wo in der Gropiusstadt Ch…
von Franziska Maria Schade
„Als ich zum ersten Mal hier war, musste ich weinen“, gibt Tal Shalev zu
und hält ein Foto von Christiane F. hoch, der drogenabhängigen
Jugendlichen, die in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ihre Lebensgeschichte
erzählt. Das Buch, sagt Shalev, habe sie etwa 40-mal gelesen. Die
Schilderungen der Jugendlichen formten Shalevs Vorstellung von Berlin. Als
sie dann vor zehn Jahren zum ersten Mal aus ihrer Heimat Tel Aviv hierher
in die Stadt kam, brach ihre Welt regelrecht zusammen. Nichts war so, wie
sie es sich ausgemalt hatte. Die Entfernungen waren zu weit, die Atmosphäre
war ihr unerwartet fremd.
Mittlerweile kennt Shalev die Schauplätze der Geschichte von Christiane F.
ganz genau. In ihrem Projekt „Berlin Dream Walks“ zeigt sie die Stadt auf
ihre eigene Art. Es werden keine typischen Sehenswürdigkeiten und
Wahrzeichen abgeklappert, in keinem Stadtplan sind die Ziele der Führungen
eigens markiert. Die Spaziergänge folgen einem anderen Plan, den Plan eines
Films oder eines Buches.
Die Idee zu dem Projekt hatte Shalev bei ihrem ersten Besuch in Berlin. Sie
hatte damals geglaubt, dass es eine Führung nach der Geschichte von
Christiane F. bereits geben würde, entdeckte aber nichts dergleichen – und
besuchte die Schauplätze so auf eigene Faust. Seit einem Monat führt sie
nun Touristen und Einwohner nach den Filmen „Lola rennt“, „Good Bye,
Lenin!“, „Christiane F.“ und den Büchern „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo�…
„Jeder stirbt für sich allein“ durch die Stadt. In Kürze startet zudem ei…
Tour zum Film „Cabaret“. Mit ihrem Projekt erfüllte sich Shalev einen lang
gehegten Traum, daher auch der Name der Dream-Walks.
## Startpunkt Gropiusstadt
In der Führung zum Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zeigt Shalev das
Berlin, das die drogenabhängige Jugendliche Christiane F. im Roman
beschreibt, die Stadt der siebziger Jahre. Die 36-Jährige trägt bequeme
Alltagskleidung und der Wind weht ihr die rot gefärbten Haare ins Gesicht.
Sie wackelt ein wenig mit dem Oberkörper, ungeduldig, als könne sie es kaum
erwarten, die Plätze zu sehen, an die sie ihre Besucher bringen wird. Die
Tour führt sie auf Englisch, auf Wunsch auch auf Hebräisch, ihrer
Muttersprache. Als alle eingetroffen sind, erklärt sie den groben Ablauf
und fragt die Teilnehmer, wann sie das Buch zuletzt gelesen haben. Zwischen
„gar nicht“, „vor etlichen Jahren“ und „gestern“ ist alles dabei.
Es geht los zur ersten Station: Gropiusstadt. Die Gruppe steht vor einem
Plattenbau im Joachim-Gottschalk-Weg und starrt auf die Balkone. Hier im
elften Stock verbrachte Christiane F. ihre Kindheit. Shalev kennt jedes
Detail an diesem Ort, weist die Besucher auf Kleinigkeiten hin und erklärt
den Zusammenhang zum Buch. Sie zeigt ein Bild von Christiane F. am Eingang
des Hauses und erzählt, wie stolz diese war, in Gropiusstadt aufgewachsen
zu sein.
Von dort fährt die Gruppe zurück in die Innenstadt, nächster Halt:
Zoologischer Garten. Auf der Fahrt haben die Besucher die Möglichkeit, sich
kennenzulernen und auszutauschen. „Ich will nicht, dass sich jemand auf
meiner Tour langweilt“, sagt Shalev mit Blick auf zwei ihrer Besucher, die
sich angeregt unterhalten. „Es gefällt mir, dass ich hier Menschen
zusammenbringen kann, die sich sonst wahrscheinlich nie unterhalten
hätten.“
Sie unterbricht das Gespräch und zeigt auf die Hardenbergstraße hinter dem
Bahnhof. Wie Christiane F. schildert, war die Straße in den siebziger
Jahren eines der Zentren der Kinderprostitution in Berlin. „Nach der
Veröffentlichung des Buchs wurden die Kinder hier weggeholt“, erklärt
Shalev. Heutzutage erscheint der Platz unberührt und sauber. Nichts
erinnert an das, was sie schildert.
## Frage der Ampelmännchen
Auf dem Weg zum nächsten Platz kann man bei der Tour noch eine ganze Menge
lernen, selbst wenn man aus Berlin kommt, wie zwei Teilnehmer bemerken.
Anja Schilling lebt seit 26 Jahren hier und kennt sich gut aus in der
Stadt, wie sie meint. Auf die Frage, wieso es in Berlin unterschiedliche
Ampelmännchen gibt, weiß sie dennoch keine Antwort. Shalev erklärt den
Unterschied zwischen West- und Ost-Ampelmännchen. Informationen wie diese
haben mit dem Leben von Christiane F. natürlich nichts zu tun. Trotzdem
sind sie Shalev wichtig. „Ich möchte, dass jeder, der zu mir kommt, auch
etwas lernt“, sagt sie.
Auch neue Stadtteile lernt Schilling kennen, die sie vorher, wenn
überhaupt, nur im Vorbeifahren sah. „Diese Führungen sind etwas ganz
anderes, weil man fremde Orte besucht und man Tal Shalev ihre Begeisterung
anmerkt. Sie inspiriert mich auch, das Buch nochmals zu lesen“, sagt die
Friedrichshainerin. Auch Nachum Ginat, wie Shalev ebenfalls aus Israel
stammend und bereits mit ihr bei deren „Good Bye, Lenin!“-Tour unterwegs,
freut sich über neue Informationen: „Sie kann mich jedes Mal wieder
überraschen.“
Wie die meisten der Besucher kennt er „Berlin Dream Walks“ und Shalev über
Facebook. Das Buch zur Führung wollte er am Vortag im Schnelldurchlauf
lesen, hat es aber nicht ganz geschafft. „Das ist nicht schlimm, weil ich
zu der Zeit, in der das Buch spielt, in Berlin gelebt habe und vieles
kenne“, sagt Ginat. Die Tour habe er Freunden aus Israel empfohlen, die nun
unbedingt kommen wollen.
Der letzte Stopp ist ein Bürogebäude, ein grauer Plattenbau in einer
Seitenstraße, rote Blumen hängen an jedem der Balkone, das riesige
Möbelhaus gegenüber wirft einen Schatten auf das unterste Geschoss. Im
ersten Stock befindet sich ein Schaufenster, durch das ein Treppenhaus zu
sehen ist. Shalev positioniert sich und verkündet das Ende der Führung,
hier, am ehemaligen „Sound“, der berühmten Berliner Diskothek, die im Leben
von Christiane F. eine große Rolle spielte – geschlossen seit den späten
achtziger Jahren.
7 Jul 2015
## AUTOREN
Franziska Maria Schade
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