# taz.de -- Aufstieg Die Hälfte der deutschen Kinder ist noch nie auf einen Ba… | |
> Prozent der Unfälle bei Kindern unter 14 Jahren sind Stürze aus der Höhe. | |
> 35 Prozent der Unfälle hingegen sind Stürze in der Ebene | |
Bild: Anna, dreieinhalb, in ihrem Baumhaus. Die Treppe nach oben hat kein Gelä… | |
von Daniel Kastner | |
Anna wäre jetzt bereit für die Besichtigung. Sie springt vom Schoß ihrer | |
Mutter, zieht sie an der Hand hinter sich her ans Ende der Gartenparzelle | |
und stapft die Treppe hinauf zu ihrem nagelneuen Haus, das sich auf Stelzen | |
in anderthalb Meter Höhe an einen jungen Ahorn schmiegt. | |
Die kleine Treppe ließ ihren Opa zwei Tage nicht schlafen, weil sie kein | |
Geländer hat. | |
Die Terrasse hat kein Dach. „Aber ein Blätterdach“, sagt die Mutter. Anna | |
ist dreieinhalb, sie findet das Wort „Blätterdach“ zum Totlachen. | |
Das Wohn-, Schlaf- und Spielzimmer riecht nach frischem Holz, es ist hoch | |
genug, dass darin ein Erwachsener aufrecht stehen kann. Durch ein | |
Kippfenster im Dach kann Anna den Himmel sehen, durch Bullaugen mit | |
Plexiglasscheiben die Eichhörnchen beobachten. Durch die Spalten in den | |
Bodendielen schaffen es auch Insekten und Spinnen nach drinnen. | |
Das ist so gewollt. Natur in kleinen Dosen. | |
So viel wie halt möglich ist in dieser Reihenhaussiedlung im Münchner | |
Osten, die am Rande jeder anderen deutschen Großstadt liegen könnte, wo | |
vorne die Hecken gepflegt werden und hinten Jägerzäune die Gärten | |
voneinander trennen, wo die nahe Autobahn rauscht, wo der Nachbar in | |
Hörweite sitzt und mitten im Gespräch den Rasenmäher anwirft. | |
Und wo Eltern den Baumhaus-Profi kommen lassen, der eine Bauzeichnung | |
mitbringt, Fundamente gießt, vorgefertigte Wände hinstellt, Fenster einbaut | |
und Kabel verlegt. | |
Jetzt könnte man sagen: Lieber ein bisschen akkurate, eingehegte | |
Vorstadtnatur als gar keine. Kinder, die in der Stadt aufwachsen, in | |
Hochhäusern, an Schnellstraßen, in naturfernen Familien, kennen den Wald | |
vielleicht nur vom Hörensagen. | |
Tatsächlich steht in Studien regelmäßig, dass Kinder heute weniger mit der | |
Natur zu tun haben als früher. Der Aktionsradius rund um das Elternhaus, | |
schrieb ein US-Forscher schon Anfang der neunziger Jahre, sei innerhalb von | |
20 Jahren auf ein Neuntel geschrumpft. | |
Anfang des Jahres schrieb die FAZ in ihrer Internetausgabe „Eltern zu | |
ängstlich: Viele Kinder sind noch nie auf einen Baum geklettert“ und berief | |
sich auf eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Wildtier-Stiftung. 49 | |
Prozent aller Vier- bis Zwölfjährigen seien demnach noch nie allein auf | |
einen Baum geklettert, 53 Prozent der Eltern würden ihren Kindern gar | |
verbieten, ohne Erwachsene im Wald zu spielen. Die Hälfte der Kinder, so | |
beobachtet man im Naturschutz- und Jugendzentrum im oberbayerischen | |
Wartaweil, denken gar, klettern auf Bäume sei verboten. | |
Michael Miersch ist Geschäftsführer des Forums Bildung Natur, der | |
Bildungsabteilung der Stiftung. Miersch geht auf die 60 zu, er hat | |
Tierfilme gedreht und auch mal für die taz geschrieben, zuletzt aber vor | |
allem für konservative Medien wie das Blog „Die Achse des Guten“. | |
Er hat die Umfrage vorgestellt und beobachtet „eine gewisse Ängstlichkeit“, | |
die im letzten halben Jahrhundert zugenommen habe. Nicht nur bei den | |
Eltern. | |
Rückblickend fühlt er sich selbst etwas überbeschützt als Kind. In den | |
Kindergarten hat seine Mutter ihn nicht gelassen. Doch er durfte alleine | |
und mit den Kumpels in den Wald gehen. „Hauptsache, man war zum Abendessen | |
zu Hause.“ | |
Aber sind früher wirklich alle ständig auf Bäume geklettert? Man sagt ja | |
auch: „früher, als wir noch auf Bäume geklettert sind und in Höhlen gelebt | |
haben“, wenn man die eigene zivilisatorische Überlegenheit gegenüber Affen | |
und Neandertalern feiern will. Ist es nicht ein Fortschritt, dass wir das | |
nicht mehr tun? Muss man auf einen Baum geklettert sein? | |
Es ist ja nicht so, dass es keine Bäume mehr gäbe. Im Gegenteil, seit dem | |
Zweiten Weltkrieg gibt es immer mehr Bäume in Deutschland. Auf einem | |
Drittel der Landesfläche stehen heute Bäume, etwa 90 Milliarden sollen es | |
sein. Doch mit zunehmender Verstädterung nimmt der gefühlte Abstand des | |
Menschen zum Forst, zur Natur zu. | |
Johannes Schelle und Uwe Wöckener gehören zu der Handvoll Menschen in | |
Deutschland, die von Kindern leben, die auf Bäume klettern. Sie bauen | |
professionelle Baumhäuser. | |
Schelle ist 40, Bautechniker und Zimmerermeister und beschäftigt bei seiner | |
Firma „Baumbaron“ am Tegernsee zwei Angestellte und einen Azubi. Er hat | |
auch Annas Haus in den Garten in München gestellt. | |
Wöckener, 53, dessen Gesicht zu gleichen Teilen an Peter Lustig und Captain | |
Picard von Raumschiff Enterprise erinnert,betreibt die Firma „Baumleben“ in | |
Hameln. | |
Schelle baut seine Baumhäuser oft auf Stelzen, Wöckener legt meist | |
Stahlringe um den Stamm, auf denen das Tragwerk aus Fichtenholz aufliegt. | |
Sie stellen sehr ähnliche Diagnosen, wenn es um die verlorene Naturnähe von | |
Kindern geht. | |
„Kinder spielen heute mit Konsole, Gameboy und dem Smartphone der Eltern“, | |
sagt Schelle. | |
„In den Siebzigern haben ARD und ZDF erst ab 17 Uhr gesendet“, sagt | |
Wöckener. „Wir sind nach der Schule vor die Tür gegangen und trafen unsere | |
Freunde.“ | |
„Im Handy-Zeitalter vergeht keine halbe Stunde, ohne dass die Eltern | |
wüssten, wo ihre Kinder sind“, sagt Schelle. | |
„Wir leben in einer Vollkasko-Gesellschaft, die alle Risiken ausschließen | |
will“, sagt Wöckener. | |
„Als ich selbst noch ein Kind war, hieß es bloß: ‚Hauptsache, du bist zum | |
Abendessen daheim‘“, sagt Schelle. | |
„Die Angst der Eltern überträgt sich auf die Kinder. Das ist hinderlich“, | |
sagt Wöckener und dreht sich eine Kippe aus Tabak der Marke Van Nelle. | |
„Drei, vier Meter über dem Boden ändert sich die Perspektive“, sagt | |
Schelle. „Das ist so ähnlich wie beim Segeln. Kaum ist man etwas weg vom | |
Ort der Probleme, wirkt alles leichter.“ | |
Digitalisierung der Kindheit. Helikoptereltern. Vollkasko-Gesellschaft. Oft | |
schon habe ich diese Gedanken gehört. Vielleicht zu oft. Doch Schelle | |
bringt mich auf eine Idee. | |
Zeit für einen Perspektivenwechsel, für den Blick von oben. Ich muss | |
nachdenken. Selber rauf auf einen Baum. Ich, der als Kind nie geklettert | |
ist. | |
Nicht jeder Baum eignet sich zum Klettern, das lerne ich schnell. Birken | |
wirken schwachbrüstig, Fichten bilden keine brauchbaren Kronen aus. Die | |
Entscheidung fällt für eine Eiche, am Rothsee in Franken. Weit ausladend, | |
Jahrzehnte alt, exponiert auf einer Wiese, ohne lästiges Gestrüpp | |
drumherum, der Stamm teilt sich schon in Brusthöhe das erste Mal – ideal | |
für den Einstieg. | |
Ein Ast in Kopfhöhe dient als Griff für den Klimmzug in die erste Gabelung. | |
Hält er? Hat da was geknackt? Ist der Untergrund weich? Was hatte die | |
Kollegin noch von Querschnittslähmung erzählt? Was stand in der Zeitung | |
über Zecken und Eichenprozessionsspinner? Kein Kind würde sich diese | |
Gedanken machen. | |
Die Höhenluft befreit. Schon knapp zwei Meter über dem Boden lösen sich die | |
Bedenken in Luft auf. Ein Fuß senkrecht an den Stamm: hält. Auf in die | |
zweite Astgabel und rittlings draufgesetzt. | |
Rumhängen, Zeit ohne Plan verbringen. Vielleicht ist es dann erst mal | |
langweilig. Und: Vielleicht ist dies Rumhängen uns gänzlich unbekannt | |
geworden, aus der Mode gekommen, weil wir unsere Leben mit Aktion füllen | |
wollen, mit Verwertbarem. | |
Vom Nachbarast schaut eine Amsel rüber, wie eine Verbündete. Es ist kühler | |
hier als am Boden, beim kleinsten Windhauch rascheln die Blätter, flimmert | |
das Licht. | |
Wie viel Zeit das bundesdeutsche Durchschnittskind noch in den Achtzigern | |
am Nachmittag hatte: Die Schule war um eins aus. Mittagessen. Dann raus. | |
Die Schule war aber auch mittags aus, weil die bundesdeutsche | |
Durchschnittsmutter zu Hause war. Und nun erzählen Stadteltern mit | |
Stadtkindern: Es sei wirklich nicht einfach, seine Kinder rauszuschicken. | |
Es gebe ja nur so wenige Kinder und man wisse dann einfach nicht, ob das | |
Kind dann auch andere Kinder treffen würde. Da draußen. Die | |
Rumhängmöglichkeiten werden immer weniger. Und die besten Freunde der | |
Kinder die Eltern. | |
Und weil Eltern im Durchschnitt weniger Kinder haben, werden diese Kinder | |
mehr wert, ein Projekt, das zu gelingen hat. | |
Neben mir zittern die Blätter der Eiche. Gelingen. | |
Vielleicht muss alles gelingen? Eine Gesellschaft, in der Erfolg das | |
gängige Prinzip ist. Die glatte Oberfläche. In der Scheitern nicht | |
gewünscht ist. Nicht geübt wird. Eine Gesellschaft, in der das | |
Durchschnittskind unter elterlicher oder pädagogischer Beobachtung steht. | |
Wie gut scheitert es sich unter Beobachtung? | |
Meine Hand hat die Rinde noch nicht ganz erreicht, da fliegen Schnaken und | |
Käfer auf. Es wimmelt auf dem Stamm: Ameisen, Spinnen, kleine Wanzen. Die | |
Borke ist zerklüftet, fast scharfkantig, grau mit grünem Schimmer, | |
überraschend kühl. Sie bröselt unter der Hand. | |
Wenn wir davon ausgehen, dass Eltern in der Regel ihre Kinder | |
unterstützen, ihnen das beibringen, was sie als relevant für ihre Kinder | |
betrachten, heißt das dann, dass Eltern, also Erwachsene, also wir, | |
klettern nicht wichtig nehmen? | |
„Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“, hat der Pädagoge | |
Friedrich Fröbel einmal gesagt. Wo sehen Kinder Menschen, die auf Bäume | |
klettern, Bretterbuden bauen? Wenn Kinder durch Nachahmen lernen – wo sind | |
dann ihre Vorbilder? | |
Die Geräusche von unten klingen gedämpft. Ein Hund bellt, ein Kind beweint | |
seinen runtergefallenen Schokoriegel, eine Mutter motzt, ein Teenager sucht | |
seine Kumpels. Sie schauen nicht herauf, fühlen sich unbeobachtet. Es ist | |
wie der Blick in ein Terrarium. Ein unwirkliches Gefühl stellt sich ein. | |
Ist das – Macht? Überlegenheit? | |
## Er suchte einen Profi und fand einen Schotten | |
„Es steckt anscheinend im Menschen, dass der Baum ein anderer, ein sicherer | |
Ort ist“, sagt Uwe Wöckener, der Baumhausbauer. Das Klettern auf Bäume hat | |
für ihn „etwas Archaisches“. | |
Es war eine von Wöckeners vier Töchtern, die vor zehn Jahren den Grundstein | |
für seine heutige Firma legte, als sie sich ein Baumhaus im Garten | |
wünschte. Hütten bauen, das hatte Wöckener schon mit Anfang 20 beim | |
Bundesgrenzschutz gelernt, als sie an der innerdeutschen Grenze im Harz | |
Brücken und Aussichtsplattformen errichteten. | |
Zusammen mit seiner Tochter legte er Bretter in einen Baum, „und als sie | |
ein Dach forderte, sagte ich: Okay, jetzt machen wir es richtig.“ Er suchte | |
Profis und fand keine, „nur einen Schotten“. Der war eigentlich | |
Produktdesigner, aber „mit absolutem Herzblut dabei“, sagt Wöckener. | |
Irgendwann bekam er ihn ans Telefon, flog nach Edinburgh und machte in | |
Ayrshire vier Wochen Praktikum, „eine der besten Erfahrungen meines | |
Lebens“. | |
Er übersetzte das Gelernte in ein Baumhaus. An eine eigene Firma dachte er | |
da noch nicht – bis der Postbote sagte, er wolle auch so was. Da | |
entwickelten Wöckener und ein befreundeter Tischler die Webpräsenz | |
„baumleben.org“. Zehn Tage später kam der erste Auftrag. | |
Kollege Johannes Schelle, der „Baumbaron“, hat schon als Kind „ein paar | |
Brettl“ an Bäume genagelt. Mit seinem Baumhaus schuf er einen Ort, wo | |
seine beiden älteren Schwestern nicht hinkamen, einen Ort, den er allein | |
beherrschte. Er musste nur die Strickleiter hochziehen. | |
Nach seiner Ausbildung stieg er in die Baufirma seiner Eltern ein. Zum Spaß | |
baute er damals ein professionelles Baumhaus, mit geraden Wänden und einem | |
Dach, durch das es nicht reinregnen konnte. Ein Bild davon stellte er auf | |
seine Webseite. Nichts geschah. | |
Dann rief ihn jemand an, der das Bild im Netz gesehen hatte. „Deine | |
Homepage ist furchtbar“, sagte der Anrufer, „aber das Baumhaus ist toll. | |
Kannst du mir eins bauen?“ Schelle konnte. Vom Erlös überarbeitete er seine | |
Webseite. Dann kündigte er bei seinen Eltern und gründete den „Baumbaron“. | |
Den Namen hat er sich abgeschaut bei Italo Calvino. Dessen Roman „Der Baron | |
auf den Bäumen“ gehört in Italiens Schulen zur Pflichtlektüre. Cosimo, | |
Spross eines genuesischen Adelsgeschlechts, klettert im Garten auf eine | |
Steineiche – und kommt nie mehr herunter. „So klomm er den knorrigen Baum | |
empor“, schreibt Calvino, „und bewegte Beine und Arme zwischen den Zweigen | |
mit einer Sicherheit und Behändigkeit, die sich durch unsere lange | |
gemeinsame Übung erklärte.“ | |
Cosimo und sein Bruder klettern nicht hinauf, um Früchte oder Vogelnester | |
zu suchen. Ihr Aufstieg folgt keinem Zweck, sie haben einfach „Gefallen an | |
der Überwindung schwieriger Ausbuchtungen und Gabelungen des Stammes“ | |
gefunden. Sie wollen möglichst hoch hinauf gelangen und schöne Plätze | |
erkunden, „auf denen wir verweilen konnten, um die Welt da drunten zu | |
betrachten und den dort vorübergehenden irgendwelche Scherze und Ausdrücke | |
zuzurufen.“ | |
Anruf bei Armin Lude, 47, Professor am Lehrstuhl für Biologie an der | |
Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. Lude ist da vor allem zuständig | |
für Umweltbildung und Waldpädagogik. | |
„Wenn sie auf Bäume klettern, überschreiten die Kinder Grenzen“, sagt Lud… | |
Das Erfolgserlebnis stärke ihr Selbstbewusstsein. „Überängstliche Eltern | |
senden ihren Kindern durch ein Verbot auch die Botschaft: Das schaffst du | |
nicht. Und ängstliche Eltern bringen ängstliche Kinder hervor.“ | |
Lude empfiehlt Eltern, erst mal zusammen mit ihren Kindern auf einen Baum | |
zu klettern und ihnen zu erklären, welcher Ast zu dünn ist oder wo man sich | |
gut festhalten kann. „Scaffolding“ nennen Pädagogen das, Gerüstbau. Das | |
Gute an Gerüsten ist: Man kann sie Stück für Stück wieder abbauen. | |
Velbert-Langenberg im Rheinischen. Nils Labude, 27, schmale Augen, drahtige | |
Figur, ist Guide beim Hochseilgarten „Wald-Abenteuer“. Er hat | |
Sportwissenschaften mit Management-Schwerpunkt studiert. Er hat eine | |
Allgemeine Höhenretter-Ausbildung gemacht, in einem Wochenendkurs für knapp | |
600 Euro. | |
Hochseilgarten, Baumhäuser: Substitute zum Baumklettern. Gesicherter | |
Nervenkitzel. | |
Wenn Nils einen Kunden in die Ausrüstung einweist, will er | |
„Materialvertrauen“ erzeugen. „Das ist ja so ein Gesellschaftsthema, dass | |
alles sicher sein muss.“ Der Kunde soll spüren: Er kann sich richtig in den | |
Gurt reinsetzen, alles ist sicher, alles hält. | |
„Runtergefallen ist noch keiner“, sagt Nils. Das ist auch unmöglich, weil | |
die Gäste durchgehend mit dem Karabinerhaken gesichert sind. Zwischendurch | |
ausklinken kann man sich nicht. | |
Meist sieht Nils schon bei der Einweisung, wer den Parcours nicht | |
durchhalten wird. Er weiß aber auch: 90 Prozent der Ängstlichen probieren | |
es trotzdem aus. „Es haben schon einige hinterher den Boden geküsst“, sagt | |
er. „Das Glücksgefühl ist da.“ | |
Für Notfälle hat jeder Gast eine Pfeife dabei. „Manche übernehmen sich, die | |
hängen dann da und es geht gar nichts mehr“, sagt er. Dann nimmt Nils den | |
Not-Rucksack und rettet. | |
Am Kinderparcours im Hochseilgarten weist Nils’ Kollegin Fine, eine | |
Zweimeterfrau mit Perlenohrringen, gerade eine Kindergruppe ein. Neun | |
Mädchen und Jungen stehen brav in einer Reihe. Jedes Kind ist mit einem | |
Karabinerhaken am Leitseil festgemacht, jedes trägt einen Gurt und einen | |
Helm mit einem Wegwerftuch darunter – wegen der Hygiene. | |
„Nicht an den Stahlseilen festhalten“, schärft Fine ihnen ein. Die Kinder | |
müssen über Holzbretter und Seile balancieren, über hängende Baumstämme | |
laufen, durch eine Röhre krabbeln, in zehn bis zwölf Meter Höhe. | |
Joris geht voraus, ein Junge mit stahlblauen Augen. Er scheint gar nicht | |
runterzugucken. Es schwankt, es wackelt, Joris stapft unbeirrt voran. Ihm | |
folgt ein zweiter Junge, dann mehrere Mädchen. Bis zu einem Steg aus | |
Brettern geht alles gut, dann fließen die ersten Tränen. Eines der Mädchen | |
traut sich nicht weiter und schreit: „Weißt du, wie gefährlich das ist?“ | |
Fine klettert rüber; behutsam, aber bestimmt erklärt sie dem Kind noch | |
einmal, dass es nicht abstürzen kann. Zögernd setzt es sich in Bewegung. | |
Doch Kollege Nils ist sich sicher: „Kinder haben definitiv weniger | |
Höhenangst, da sind die Eltern oft überrascht.“ Früher seien die Wälder | |
hier voll von Kindern gewesen. Er war selbst dabei, ist auf Bäume | |
geklettert und hat Baumbuden gebaut. | |
Nils’ Cousin Moritz , 17, möchte sich in den Schulferien etwas | |
dazuverdienen. Er steht oben bei Fine und den Kindern. Es weht und regnet, | |
Moritz’Wangen sind gerötet, er hüpft von einem Bein auf das andere, um sich | |
warmzuhalten. | |
Natürlich hatte er ein Baumhaus als Kind. „Wir haben im Wald eine | |
Europalette in eine Baumkrone gehievt, Hammer und Nägel hatte ich aus der | |
Werkzeugkiste meines Vaters.“ Die Plane, die sie drüberzogen, war schon am | |
nächsten Tag wieder weggeweht. „Aber es war aufregend, so etwas zu haben.“ | |
Auch er, der 17-Jährige, noch nicht erwachsen, hat den Eindruck, dass | |
Kinder gar nicht mehr in den Wald gehen. „Die haben heute ja schon mit 5 | |
ein Handy. Ich habe mein erstes mit 12 bekommen.“ Er durfte so viel draußen | |
sein, wie er wollte. Seine Eltern hätten ihm immer nur gesagt, wann er zum | |
Abendessen zu Hause sein sollte. | |
Da sagt der 17-jährige Moritz jetzt dasselbe wie der 40 Jahre ältere | |
Michael Miersch von der Wildtier- Stiftung und Schelle, der Baumhausbauer. | |
Kann es sein, dass jede Generation denkt, die eigene sei die letzte | |
gewesen, die noch auf Bäume geklettert ist? | |
„Da gibt es vielleicht ein Narrativ“, sagt Michael Miersch. „Man hört das | |
immer wieder und erzählt es irgendwann selbst.“ | |
Vollkasko. Helikopter. Digitalisierung. | |
Am anderen Ende der Skype-Leitung sitzen jetzt Flo, 27, und Tommy, 26. Flo | |
heißt richtig Florian Asché und ist gerade fertig geworden mit seinem | |
Studium in Medienrecht. Sein Kumpel Tommy alias Thomas Dietzel promoviert | |
in Chemie. | |
Zusammen mit drei weiteren Freunden bespielen sie den „LetsPlay“-Kanal | |
„Slaymassive“ auf YouTube. „LetsPlays“ sind die erfolgreichsten Formate | |
auf dem Videoportal, Millionen Zuschauer gucken Computerspielern beim | |
Computerspielen zu. | |
Zum Beispiel bei „Minecraft“. | |
Das Spiel mit der schlichten Grafik stammt aus Schweden. Der Spieler findet | |
eine leere, aber gestaltbare dreidimensionale Welt vor und kann Getreide | |
an-, Rohstoffe ab- und Städte aufbauen. Und eben auch: Baumhäuser bauen. | |
„Es ist wie ein Zimmer mit einem Endlosvorrat an Lego“, sagt Flo. | |
Sie sinnieren über die Frage, ob „Minecraft“ das echte Baumklettern in den | |
virtuellen Raum saugt. Und ob man digitale Baumhäuser bauen kann, ohne zu | |
wissen, wie sich ein echtes anfühlt. | |
Sie leben in Köln, stammen aus Usingen im Taunus – und hatten als Kinder | |
auch Baumhäuser im Wald. Manche konnte man nur mit einem Seil erreichen, | |
„unser krassestes hatte zwei Stockwerke“, erzählt Flo. | |
Bei „Minecraft“ haben sie schon eine ganze Stadt in die Bäume gestellt. Es | |
gibt eine Bibliothek und ein Parlament, sie züchten Kräuter und Pilze, | |
Loren fahren Güter hin und her, sogar Zeppeline können dort landen. | |
Was sie bauen, stimmen sie mit den Zuschauern ab. Gut 100.000 Leute haben | |
den Kanal abonniert und bekommen so regelmäßig mit, was die Jungs täglich | |
posten. | |
Die Community ist sehr streng: Wenn ein Baumhaus rein statisch nicht im | |
Baum stehen kann oder ein Ast komplett falsch wächst, hagelt es Kommentare: | |
„Unrealistisch!“ | |
## Viele Steine in „Minecraft“, wenige Bretter auf Brachen | |
Weil die Zuschauer das wissen, glaubt Flo nicht, dass sie Baumhäuser nur | |
vom PC kennen. Was aber auch die „Slaymassive“-Jungs glauben: Kinder | |
spielen heute seltener draußen als früher. „Wir sind die Generation, bei | |
der der PC erst aufkam.“ Wenn sie mal eigene Kinder haben, wollen sie die | |
auch rausschicken in den Wald. | |
„Minecraft“. Der Endlosvorrat an Lego. Vielleicht liegt zu wenig rum im | |
Deutschland des Jahres 2015. Vielleicht ist es eine fertigere Gesellschaft | |
mit viel weniger Latten und Kisten und Schrott, mit weniger Zeug, das | |
niemandem gehört und das Kinder sich einfach so nehmen. Zumindest gibt es | |
deutlich weniger genehmigte Baustellen, als noch in den achtziger Jahren. | |
Vielleicht gibt es auch weniger handwerklich begabte Eltern? Die es gewohnt | |
sind, körperlich zu sein, robust, anzupacken. Die Kratzer, Schnittwunden | |
und blaue Flecken kennen. | |
„Früher konnte man sich beim kleinen Sägewerk um die Ecke ein paar Bretter | |
zuschneiden lassen“, hatte Schelle erzählt. | |
„Die Städte sind so aufgeräumt heute“, sagt Wöckener. | |
„Heute gibt es fast nur noch Baumärkte“, meint Schelle. | |
„Es lag mehr herum, die Kids haben selbst aus Müll noch was gebaut“, sagt | |
Wöckener. | |
Wöckner selbst klettert gerade durch einen Kirschbaum in Hameln. Schiebt | |
Laub vom Dach eines Baumhauses und kann es kaum glauben. „Normalerweise ist | |
das Dach das Erste, was repariert werden muss.“ Aber das hier: einwandfrei. | |
Nicht schlecht für ein 700-Kilo-Haus, das acht Jahre auf dem Buckel hat und | |
schon bei leichtem Wind sacht schwankt und knarzt. Drei bis vier Meter sind | |
die Idealhöhe. „Weiter oben fühlt der Kunde sich schnell unwohl.“ | |
Unter den Bodendielen dagegen stößt Wöckener auf faules, morsches Holz. | |
Auch das Geländer wackelt bedenklich. „Wenn sich einer im Überschwang | |
dagegen wirft, dann liegt er unten“, sagt er. Spätestens im Herbst will er | |
die tragenden Balken austauschen. | |
Mit Akkuschrauber, Kuhfuß und einer japanischen Zugsäge lockert er jetzt | |
die Stahlringe ein wenig. Die wachsen nämlich langsam in den Stamm ein, die | |
alte Kirsche wölbt schon ihre Rinde drüber. | |
Der Kunde hatte das Baumhaus mitsamt Wendeltreppe einst für seine Tochter | |
bestellt. Die ist inzwischen ausgezogen, die Eltern spielen da oben jetzt | |
Doppelkopf mit den Nachbarn. | |
„Der Kindheitstraum schwingt fast immer mit“, sagt Wöckener. „Manche Kun… | |
bestellen ein Baumhaus für ihre Kinder – und im persönlichen Gespräch | |
stellt sich das dann als Vorwand heraus.“ | |
Johannes Schelle, „der Baumbaron“, kennt das auch: Wenn er die Pläne | |
zeichnet, sieht er bei den Eltern „das Flackern in den Augen“. Manchmal | |
planen sie dann das Haus spontan größer, mit Terrasse oder Balkon, damit | |
die ganze Familie darin zu Abend essen kann. | |
Mit dem Abenteuer Baumklettern haben Baumhaus und Hochseilgarten nicht mehr | |
viel zu tun. Aber mit der Sehnsucht danach. Der Sehnsucht nach der eigenen | |
Kindheit, der Unbeschwertheit, den freien Gedanken, dem freien Blick. | |
Vielleicht auch der Sehnsucht nach etwas, das es nie gab. | |
Daniel Kastner, 36, ist Autor der taz.am wochenende. Er hat in Velbert den | |
„Dachs-Parcours“ ausprobiert – und sich meistens ans Stahlseil gekrallt | |
11 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Daniel Kastner | |
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