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# taz.de -- Aufstieg Die Hälfte der deutschen Kinder ist noch nie auf einen Ba…
> Prozent der Unfälle bei Kindern unter 14 Jahren sind Stürze aus der Höhe.
> 35 Prozent der Unfälle hingegen sind Stürze in der Ebene
Bild: Anna, dreieinhalb, in ihrem Baumhaus. Die Treppe nach oben hat kein Gelä…
von Daniel Kastner
Anna wäre jetzt bereit für die Besichtigung. Sie springt vom Schoß ihrer
Mutter, zieht sie an der Hand hinter sich her ans Ende der Gartenparzelle
und stapft die Treppe hinauf zu ihrem nagelneuen Haus, das sich auf Stelzen
in anderthalb Meter Höhe an einen jungen Ahorn schmiegt.
Die kleine Treppe ließ ihren Opa zwei Tage nicht schlafen, weil sie kein
Geländer hat.
Die Terrasse hat kein Dach. „Aber ein Blätterdach“, sagt die Mutter. Anna
ist dreieinhalb, sie findet das Wort „Blätterdach“ zum Totlachen.
Das Wohn-, Schlaf- und Spielzimmer riecht nach frischem Holz, es ist hoch
genug, dass darin ein Erwachsener aufrecht stehen kann. Durch ein
Kippfenster im Dach kann Anna den Himmel sehen, durch Bullaugen mit
Plexiglasscheiben die Eichhörnchen beobachten. Durch die Spalten in den
Bodendielen schaffen es auch Insekten und Spinnen nach drinnen.
Das ist so gewollt. Natur in kleinen Dosen.
So viel wie halt möglich ist in dieser Reihenhaussiedlung im Münchner
Osten, die am Rande jeder anderen deutschen Großstadt liegen könnte, wo
vorne die Hecken gepflegt werden und hinten Jägerzäune die Gärten
voneinander trennen, wo die nahe Autobahn rauscht, wo der Nachbar in
Hörweite sitzt und mitten im Gespräch den Rasenmäher anwirft.
Und wo Eltern den Baumhaus-Profi kommen lassen, der eine Bauzeichnung
mitbringt, Fundamente gießt, vorgefertigte Wände hinstellt, Fenster einbaut
und Kabel verlegt.
Jetzt könnte man sagen: Lieber ein bisschen akkurate, eingehegte
Vorstadtnatur als gar keine. Kinder, die in der Stadt aufwachsen, in
Hochhäusern, an Schnellstraßen, in naturfernen Familien, kennen den Wald
vielleicht nur vom Hörensagen.
Tatsächlich steht in Studien regelmäßig, dass Kinder heute weniger mit der
Natur zu tun haben als früher. Der Aktionsradius rund um das Elternhaus,
schrieb ein US-Forscher schon Anfang der neunziger Jahre, sei innerhalb von
20 Jahren auf ein Neuntel geschrumpft.
Anfang des Jahres schrieb die FAZ in ihrer Internetausgabe „Eltern zu
ängstlich: Viele Kinder sind noch nie auf einen Baum geklettert“ und berief
sich auf eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Wildtier-Stiftung. 49
Prozent aller Vier- bis Zwölfjährigen seien demnach noch nie allein auf
einen Baum geklettert, 53 Prozent der Eltern würden ihren Kindern gar
verbieten, ohne Erwachsene im Wald zu spielen. Die Hälfte der Kinder, so
beobachtet man im Naturschutz- und Jugendzentrum im oberbayerischen
Wartaweil, denken gar, klettern auf Bäume sei verboten.
Michael Miersch ist Geschäftsführer des Forums Bildung Natur, der
Bildungsabteilung der Stiftung. Miersch geht auf die 60 zu, er hat
Tierfilme gedreht und auch mal für die taz geschrieben, zuletzt aber vor
allem für konservative Medien wie das Blog „Die Achse des Guten“.
Er hat die Umfrage vorgestellt und beobachtet „eine gewisse Ängstlichkeit“,
die im letzten halben Jahrhundert zugenommen habe. Nicht nur bei den
Eltern.
Rückblickend fühlt er sich selbst etwas überbeschützt als Kind. In den
Kindergarten hat seine Mutter ihn nicht gelassen. Doch er durfte alleine
und mit den Kumpels in den Wald gehen. „Hauptsache, man war zum Abendessen
zu Hause.“
Aber sind früher wirklich alle ständig auf Bäume geklettert? Man sagt ja
auch: „früher, als wir noch auf Bäume geklettert sind und in Höhlen gelebt
haben“, wenn man die eigene zivilisatorische Überlegenheit gegenüber Affen
und Neandertalern feiern will. Ist es nicht ein Fortschritt, dass wir das
nicht mehr tun? Muss man auf einen Baum geklettert sein?
Es ist ja nicht so, dass es keine Bäume mehr gäbe. Im Gegenteil, seit dem
Zweiten Weltkrieg gibt es immer mehr Bäume in Deutschland. Auf einem
Drittel der Landesfläche stehen heute Bäume, etwa 90 Milliarden sollen es
sein. Doch mit zunehmender Verstädterung nimmt der gefühlte Abstand des
Menschen zum Forst, zur Natur zu.
Johannes Schelle und Uwe Wöckener gehören zu der Handvoll Menschen in
Deutschland, die von Kindern leben, die auf Bäume klettern. Sie bauen
professionelle Baumhäuser.
Schelle ist 40, Bautechniker und Zimmerermeister und beschäftigt bei seiner
Firma „Baumbaron“ am Tegernsee zwei Angestellte und einen Azubi. Er hat
auch Annas Haus in den Garten in München gestellt.
Wöckener, 53, dessen Gesicht zu gleichen Teilen an Peter Lustig und Captain
Picard von Raumschiff Enterprise erinnert,betreibt die Firma „Baumleben“ in
Hameln.
Schelle baut seine Baumhäuser oft auf Stelzen, Wöckener legt meist
Stahlringe um den Stamm, auf denen das Tragwerk aus Fichtenholz aufliegt.
Sie stellen sehr ähnliche Diagnosen, wenn es um die verlorene Naturnähe von
Kindern geht.
„Kinder spielen heute mit Konsole, Gameboy und dem Smartphone der Eltern“,
sagt Schelle.
„In den Siebzigern haben ARD und ZDF erst ab 17 Uhr gesendet“, sagt
Wöckener. „Wir sind nach der Schule vor die Tür gegangen und trafen unsere
Freunde.“
„Im Handy-Zeitalter vergeht keine halbe Stunde, ohne dass die Eltern
wüssten, wo ihre Kinder sind“, sagt Schelle.
„Wir leben in einer Vollkasko-Gesellschaft, die alle Risiken ausschließen
will“, sagt Wöckener.
„Als ich selbst noch ein Kind war, hieß es bloß: ‚Hauptsache, du bist zum
Abendessen daheim‘“, sagt Schelle.
„Die Angst der Eltern überträgt sich auf die Kinder. Das ist hinderlich“,
sagt Wöckener und dreht sich eine Kippe aus Tabak der Marke Van Nelle.
„Drei, vier Meter über dem Boden ändert sich die Perspektive“, sagt
Schelle. „Das ist so ähnlich wie beim Segeln. Kaum ist man etwas weg vom
Ort der Probleme, wirkt alles leichter.“
Digitalisierung der Kindheit. Helikoptereltern. Vollkasko-Gesellschaft. Oft
schon habe ich diese Gedanken gehört. Vielleicht zu oft. Doch Schelle
bringt mich auf eine Idee.
Zeit für einen Perspektivenwechsel, für den Blick von oben. Ich muss
nachdenken. Selber rauf auf einen Baum. Ich, der als Kind nie geklettert
ist.
Nicht jeder Baum eignet sich zum Klettern, das lerne ich schnell. Birken
wirken schwachbrüstig, Fichten bilden keine brauchbaren Kronen aus. Die
Entscheidung fällt für eine Eiche, am Rothsee in Franken. Weit ausladend,
Jahrzehnte alt, exponiert auf einer Wiese, ohne lästiges Gestrüpp
drumherum, der Stamm teilt sich schon in Brusthöhe das erste Mal – ideal
für den Einstieg.
Ein Ast in Kopfhöhe dient als Griff für den Klimmzug in die erste Gabelung.
Hält er? Hat da was geknackt? Ist der Untergrund weich? Was hatte die
Kollegin noch von Querschnittslähmung erzählt? Was stand in der Zeitung
über Zecken und Eichenprozessionsspinner? Kein Kind würde sich diese
Gedanken machen.
Die Höhenluft befreit. Schon knapp zwei Meter über dem Boden lösen sich die
Bedenken in Luft auf. Ein Fuß senkrecht an den Stamm: hält. Auf in die
zweite Astgabel und rittlings draufgesetzt.
Rumhängen, Zeit ohne Plan verbringen. Vielleicht ist es dann erst mal
langweilig. Und: Vielleicht ist dies Rumhängen uns gänzlich unbekannt
geworden, aus der Mode gekommen, weil wir unsere Leben mit Aktion füllen
wollen, mit Verwertbarem.
Vom Nachbarast schaut eine Amsel rüber, wie eine Verbündete. Es ist kühler
hier als am Boden, beim kleinsten Windhauch rascheln die Blätter, flimmert
das Licht.
Wie viel Zeit das bundesdeutsche Durchschnittskind noch in den Achtzigern
am Nachmittag hatte: Die Schule war um eins aus. Mittagessen. Dann raus.
Die Schule war aber auch mittags aus, weil die bundesdeutsche
Durchschnittsmutter zu Hause war. Und nun erzählen Stadteltern mit
Stadtkindern: Es sei wirklich nicht einfach, seine Kinder rauszuschicken.
Es gebe ja nur so wenige Kinder und man wisse dann einfach nicht, ob das
Kind dann auch andere Kinder treffen würde. Da draußen. Die
Rumhängmöglichkeiten werden immer weniger. Und die besten Freunde der
Kinder die Eltern.
Und weil Eltern im Durchschnitt weniger Kinder haben, werden diese Kinder
mehr wert, ein Projekt, das zu gelingen hat.
Neben mir zittern die Blätter der Eiche. Gelingen.
Vielleicht muss alles gelingen? Eine Gesellschaft, in der Erfolg das
gängige Prinzip ist. Die glatte Oberfläche. In der Scheitern nicht
gewünscht ist. Nicht geübt wird. Eine Gesellschaft, in der das
Durchschnittskind unter elterlicher oder pädagogischer Beobachtung steht.
Wie gut scheitert es sich unter Beobachtung?
Meine Hand hat die Rinde noch nicht ganz erreicht, da fliegen Schnaken und
Käfer auf. Es wimmelt auf dem Stamm: Ameisen, Spinnen, kleine Wanzen. Die
Borke ist zerklüftet, fast scharfkantig, grau mit grünem Schimmer,
überraschend kühl. Sie bröselt unter der Hand.
Wenn wir davon ausgehen, dass Eltern in der Regel ihre Kinder
unterstützen, ihnen das beibringen, was sie als relevant für ihre Kinder
betrachten, heißt das dann, dass Eltern, also Erwachsene, also wir,
klettern nicht wichtig nehmen?
„Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“, hat der Pädagoge
Friedrich Fröbel einmal gesagt. Wo sehen Kinder Menschen, die auf Bäume
klettern, Bretterbuden bauen? Wenn Kinder durch Nachahmen lernen – wo sind
dann ihre Vorbilder?
Die Geräusche von unten klingen gedämpft. Ein Hund bellt, ein Kind beweint
seinen runtergefallenen Schokoriegel, eine Mutter motzt, ein Teenager sucht
seine Kumpels. Sie schauen nicht herauf, fühlen sich unbeobachtet. Es ist
wie der Blick in ein Terrarium. Ein unwirkliches Gefühl stellt sich ein.
Ist das – Macht? Überlegenheit?
## Er suchte einen Profi und fand einen Schotten
„Es steckt anscheinend im Menschen, dass der Baum ein anderer, ein sicherer
Ort ist“, sagt Uwe Wöckener, der Baumhausbauer. Das Klettern auf Bäume hat
für ihn „etwas Archaisches“.
Es war eine von Wöckeners vier Töchtern, die vor zehn Jahren den Grundstein
für seine heutige Firma legte, als sie sich ein Baumhaus im Garten
wünschte. Hütten bauen, das hatte Wöckener schon mit Anfang 20 beim
Bundesgrenzschutz gelernt, als sie an der innerdeutschen Grenze im Harz
Brücken und Aussichtsplattformen errichteten.
Zusammen mit seiner Tochter legte er Bretter in einen Baum, „und als sie
ein Dach forderte, sagte ich: Okay, jetzt machen wir es richtig.“ Er suchte
Profis und fand keine, „nur einen Schotten“. Der war eigentlich
Produktdesigner, aber „mit absolutem Herzblut dabei“, sagt Wöckener.
Irgendwann bekam er ihn ans Telefon, flog nach Edinburgh und machte in
Ayrshire vier Wochen Praktikum, „eine der besten Erfahrungen meines
Lebens“.
Er übersetzte das Gelernte in ein Baumhaus. An eine eigene Firma dachte er
da noch nicht – bis der Postbote sagte, er wolle auch so was. Da
entwickelten Wöckener und ein befreundeter Tischler die Webpräsenz
„baumleben.org“. Zehn Tage später kam der erste Auftrag.
Kollege Johannes Schelle, der „Baumbaron“, hat schon als Kind „ein paar
Brettl“ an Bäume genagelt. Mit seinem Baumhaus schuf er einen Ort, wo
seine beiden älteren Schwestern nicht hinkamen, einen Ort, den er allein
beherrschte. Er musste nur die Strickleiter hochziehen.
Nach seiner Ausbildung stieg er in die Baufirma seiner Eltern ein. Zum Spaß
baute er damals ein professionelles Baumhaus, mit geraden Wänden und einem
Dach, durch das es nicht reinregnen konnte. Ein Bild davon stellte er auf
seine Webseite. Nichts geschah.
Dann rief ihn jemand an, der das Bild im Netz gesehen hatte. „Deine
Homepage ist furchtbar“, sagte der Anrufer, „aber das Baumhaus ist toll.
Kannst du mir eins bauen?“ Schelle konnte. Vom Erlös überarbeitete er seine
Webseite. Dann kündigte er bei seinen Eltern und gründete den „Baumbaron“.
Den Namen hat er sich abgeschaut bei Italo Calvino. Dessen Roman „Der Baron
auf den Bäumen“ gehört in Italiens Schulen zur Pflichtlektüre. Cosimo,
Spross eines genuesischen Adelsgeschlechts, klettert im Garten auf eine
Steineiche – und kommt nie mehr herunter. „So klomm er den knorrigen Baum
empor“, schreibt Calvino, „und bewegte Beine und Arme zwischen den Zweigen
mit einer Sicherheit und Behändigkeit, die sich durch unsere lange
gemeinsame Übung erklärte.“
Cosimo und sein Bruder klettern nicht hinauf, um Früchte oder Vogelnester
zu suchen. Ihr Aufstieg folgt keinem Zweck, sie haben einfach „Gefallen an
der Überwindung schwieriger Ausbuchtungen und Gabelungen des Stammes“
gefunden. Sie wollen möglichst hoch hinauf gelangen und schöne Plätze
erkunden, „auf denen wir verweilen konnten, um die Welt da drunten zu
betrachten und den dort vorübergehenden irgendwelche Scherze und Ausdrücke
zuzurufen.“
Anruf bei Armin Lude, 47, Professor am Lehrstuhl für Biologie an der
Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. Lude ist da vor allem zuständig
für Umweltbildung und Waldpädagogik.
„Wenn sie auf Bäume klettern, überschreiten die Kinder Grenzen“, sagt Lud…
Das Erfolgserlebnis stärke ihr Selbstbewusstsein. „Überängstliche Eltern
senden ihren Kindern durch ein Verbot auch die Botschaft: Das schaffst du
nicht. Und ängstliche Eltern bringen ängstliche Kinder hervor.“
Lude empfiehlt Eltern, erst mal zusammen mit ihren Kindern auf einen Baum
zu klettern und ihnen zu erklären, welcher Ast zu dünn ist oder wo man sich
gut festhalten kann. „Scaffolding“ nennen Pädagogen das, Gerüstbau. Das
Gute an Gerüsten ist: Man kann sie Stück für Stück wieder abbauen.
Velbert-Langenberg im Rheinischen. Nils Labude, 27, schmale Augen, drahtige
Figur, ist Guide beim Hochseilgarten „Wald-Abenteuer“. Er hat
Sportwissenschaften mit Management-Schwerpunkt studiert. Er hat eine
Allgemeine Höhenretter-Ausbildung gemacht, in einem Wochenendkurs für knapp
600 Euro.
Hochseilgarten, Baumhäuser: Substitute zum Baumklettern. Gesicherter
Nervenkitzel.
Wenn Nils einen Kunden in die Ausrüstung einweist, will er
„Materialvertrauen“ erzeugen. „Das ist ja so ein Gesellschaftsthema, dass
alles sicher sein muss.“ Der Kunde soll spüren: Er kann sich richtig in den
Gurt reinsetzen, alles ist sicher, alles hält.
„Runtergefallen ist noch keiner“, sagt Nils. Das ist auch unmöglich, weil
die Gäste durchgehend mit dem Karabinerhaken gesichert sind. Zwischendurch
ausklinken kann man sich nicht.
Meist sieht Nils schon bei der Einweisung, wer den Parcours nicht
durchhalten wird. Er weiß aber auch: 90 Prozent der Ängstlichen probieren
es trotzdem aus. „Es haben schon einige hinterher den Boden geküsst“, sagt
er. „Das Glücksgefühl ist da.“
Für Notfälle hat jeder Gast eine Pfeife dabei. „Manche übernehmen sich, die
hängen dann da und es geht gar nichts mehr“, sagt er. Dann nimmt Nils den
Not-Rucksack und rettet.
Am Kinderparcours im Hochseilgarten weist Nils’ Kollegin Fine, eine
Zweimeterfrau mit Perlenohrringen, gerade eine Kindergruppe ein. Neun
Mädchen und Jungen stehen brav in einer Reihe. Jedes Kind ist mit einem
Karabinerhaken am Leitseil festgemacht, jedes trägt einen Gurt und einen
Helm mit einem Wegwerftuch darunter – wegen der Hygiene.
„Nicht an den Stahlseilen festhalten“, schärft Fine ihnen ein. Die Kinder
müssen über Holzbretter und Seile balancieren, über hängende Baumstämme
laufen, durch eine Röhre krabbeln, in zehn bis zwölf Meter Höhe.
Joris geht voraus, ein Junge mit stahlblauen Augen. Er scheint gar nicht
runterzugucken. Es schwankt, es wackelt, Joris stapft unbeirrt voran. Ihm
folgt ein zweiter Junge, dann mehrere Mädchen. Bis zu einem Steg aus
Brettern geht alles gut, dann fließen die ersten Tränen. Eines der Mädchen
traut sich nicht weiter und schreit: „Weißt du, wie gefährlich das ist?“
Fine klettert rüber; behutsam, aber bestimmt erklärt sie dem Kind noch
einmal, dass es nicht abstürzen kann. Zögernd setzt es sich in Bewegung.
Doch Kollege Nils ist sich sicher: „Kinder haben definitiv weniger
Höhenangst, da sind die Eltern oft überrascht.“ Früher seien die Wälder
hier voll von Kindern gewesen. Er war selbst dabei, ist auf Bäume
geklettert und hat Baumbuden gebaut.
Nils’ Cousin Moritz , 17, möchte sich in den Schulferien etwas
dazuverdienen. Er steht oben bei Fine und den Kindern. Es weht und regnet,
Moritz’Wangen sind gerötet, er hüpft von einem Bein auf das andere, um sich
warmzuhalten.
Natürlich hatte er ein Baumhaus als Kind. „Wir haben im Wald eine
Europalette in eine Baumkrone gehievt, Hammer und Nägel hatte ich aus der
Werkzeugkiste meines Vaters.“ Die Plane, die sie drüberzogen, war schon am
nächsten Tag wieder weggeweht. „Aber es war aufregend, so etwas zu haben.“
Auch er, der 17-Jährige, noch nicht erwachsen, hat den Eindruck, dass
Kinder gar nicht mehr in den Wald gehen. „Die haben heute ja schon mit 5
ein Handy. Ich habe mein erstes mit 12 bekommen.“ Er durfte so viel draußen
sein, wie er wollte. Seine Eltern hätten ihm immer nur gesagt, wann er zum
Abendessen zu Hause sein sollte.
Da sagt der 17-jährige Moritz jetzt dasselbe wie der 40 Jahre ältere
Michael Miersch von der Wildtier- Stiftung und Schelle, der Baumhausbauer.
Kann es sein, dass jede Generation denkt, die eigene sei die letzte
gewesen, die noch auf Bäume geklettert ist?
„Da gibt es vielleicht ein Narrativ“, sagt Michael Miersch. „Man hört das
immer wieder und erzählt es irgendwann selbst.“
Vollkasko. Helikopter. Digitalisierung.
Am anderen Ende der Skype-Leitung sitzen jetzt Flo, 27, und Tommy, 26. Flo
heißt richtig Florian Asché und ist gerade fertig geworden mit seinem
Studium in Medienrecht. Sein Kumpel Tommy alias Thomas Dietzel promoviert
in Chemie.
Zusammen mit drei weiteren Freunden bespielen sie den „LetsPlay“-Kanal
„Slaymassive“ auf YouTube. „LetsPlays“ sind die erfolgreichsten Formate
auf dem Videoportal, Millionen Zuschauer gucken Computerspielern beim
Computerspielen zu.
Zum Beispiel bei „Minecraft“.
Das Spiel mit der schlichten Grafik stammt aus Schweden. Der Spieler findet
eine leere, aber gestaltbare dreidimensionale Welt vor und kann Getreide
an-, Rohstoffe ab- und Städte aufbauen. Und eben auch: Baumhäuser bauen.
„Es ist wie ein Zimmer mit einem Endlosvorrat an Lego“, sagt Flo.
Sie sinnieren über die Frage, ob „Minecraft“ das echte Baumklettern in den
virtuellen Raum saugt. Und ob man digitale Baumhäuser bauen kann, ohne zu
wissen, wie sich ein echtes anfühlt.
Sie leben in Köln, stammen aus Usingen im Taunus – und hatten als Kinder
auch Baumhäuser im Wald. Manche konnte man nur mit einem Seil erreichen,
„unser krassestes hatte zwei Stockwerke“, erzählt Flo.
Bei „Minecraft“ haben sie schon eine ganze Stadt in die Bäume gestellt. Es
gibt eine Bibliothek und ein Parlament, sie züchten Kräuter und Pilze,
Loren fahren Güter hin und her, sogar Zeppeline können dort landen.
Was sie bauen, stimmen sie mit den Zuschauern ab. Gut 100.000 Leute haben
den Kanal abonniert und bekommen so regelmäßig mit, was die Jungs täglich
posten.
Die Community ist sehr streng: Wenn ein Baumhaus rein statisch nicht im
Baum stehen kann oder ein Ast komplett falsch wächst, hagelt es Kommentare:
„Unrealistisch!“
## Viele Steine in „Minecraft“, wenige Bretter auf Brachen
Weil die Zuschauer das wissen, glaubt Flo nicht, dass sie Baumhäuser nur
vom PC kennen. Was aber auch die „Slaymassive“-Jungs glauben: Kinder
spielen heute seltener draußen als früher. „Wir sind die Generation, bei
der der PC erst aufkam.“ Wenn sie mal eigene Kinder haben, wollen sie die
auch rausschicken in den Wald.
„Minecraft“. Der Endlosvorrat an Lego. Vielleicht liegt zu wenig rum im
Deutschland des Jahres 2015. Vielleicht ist es eine fertigere Gesellschaft
mit viel weniger Latten und Kisten und Schrott, mit weniger Zeug, das
niemandem gehört und das Kinder sich einfach so nehmen. Zumindest gibt es
deutlich weniger genehmigte Baustellen, als noch in den achtziger Jahren.
Vielleicht gibt es auch weniger handwerklich begabte Eltern? Die es gewohnt
sind, körperlich zu sein, robust, anzupacken. Die Kratzer, Schnittwunden
und blaue Flecken kennen.
„Früher konnte man sich beim kleinen Sägewerk um die Ecke ein paar Bretter
zuschneiden lassen“, hatte Schelle erzählt.
„Die Städte sind so aufgeräumt heute“, sagt Wöckener.
„Heute gibt es fast nur noch Baumärkte“, meint Schelle.
„Es lag mehr herum, die Kids haben selbst aus Müll noch was gebaut“, sagt
Wöckener.
Wöckner selbst klettert gerade durch einen Kirschbaum in Hameln. Schiebt
Laub vom Dach eines Baumhauses und kann es kaum glauben. „Normalerweise ist
das Dach das Erste, was repariert werden muss.“ Aber das hier: einwandfrei.
Nicht schlecht für ein 700-Kilo-Haus, das acht Jahre auf dem Buckel hat und
schon bei leichtem Wind sacht schwankt und knarzt. Drei bis vier Meter sind
die Idealhöhe. „Weiter oben fühlt der Kunde sich schnell unwohl.“
Unter den Bodendielen dagegen stößt Wöckener auf faules, morsches Holz.
Auch das Geländer wackelt bedenklich. „Wenn sich einer im Überschwang
dagegen wirft, dann liegt er unten“, sagt er. Spätestens im Herbst will er
die tragenden Balken austauschen.
Mit Akkuschrauber, Kuhfuß und einer japanischen Zugsäge lockert er jetzt
die Stahlringe ein wenig. Die wachsen nämlich langsam in den Stamm ein, die
alte Kirsche wölbt schon ihre Rinde drüber.
Der Kunde hatte das Baumhaus mitsamt Wendeltreppe einst für seine Tochter
bestellt. Die ist inzwischen ausgezogen, die Eltern spielen da oben jetzt
Doppelkopf mit den Nachbarn.
„Der Kindheitstraum schwingt fast immer mit“, sagt Wöckener. „Manche Kun…
bestellen ein Baumhaus für ihre Kinder – und im persönlichen Gespräch
stellt sich das dann als Vorwand heraus.“
Johannes Schelle, „der Baumbaron“, kennt das auch: Wenn er die Pläne
zeichnet, sieht er bei den Eltern „das Flackern in den Augen“. Manchmal
planen sie dann das Haus spontan größer, mit Terrasse oder Balkon, damit
die ganze Familie darin zu Abend essen kann.
Mit dem Abenteuer Baumklettern haben Baumhaus und Hochseilgarten nicht mehr
viel zu tun. Aber mit der Sehnsucht danach. Der Sehnsucht nach der eigenen
Kindheit, der Unbeschwertheit, den freien Gedanken, dem freien Blick.
Vielleicht auch der Sehnsucht nach etwas, das es nie gab.
Daniel Kastner, 36, ist Autor der taz.am wochenende. Er hat in Velbert den
„Dachs-Parcours“ ausprobiert – und sich meistens ans Stahlseil gekrallt
11 Jul 2015
## AUTOREN
Daniel Kastner
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