# taz.de -- Soll doch der Gauck die Welt retten | |
> 48 STUNDEN NEUKÖLLN Unterwegs am Richardplatz und in den Neukölln | |
> Arkaden: Wenn die richtigen Fragen gestellt werden, kommt die Kunst schon | |
> ganz schön weit | |
Bild: Zu 48 Stunden Neukölln gehörte auch das „Liveboat Chapter 5“ vom Ko… | |
von Anne-Sophie Balzer | |
Die Kunst zu einer Lebens- und Weltretterin zu machen, ist gerade das | |
Instrument der Stunde. Vor einer Woche zogen Tausende vom Zentrum für | |
Politische Schönheit aufgerufene Menschen in einem Trauermarsch durch | |
Berlin. Viele Medien wollten die Symbolik hinter der Aktion „Die Toten | |
kommen“ nicht verstehen und folgerten, Tote mit ästhetischen Mitteln zu | |
instrumentalisieren, sei pietätlos. Für die vielen Demonstrierenden, die | |
dem Aufruf des ZPS gefolgt waren, war der ästhetische Protest das letzte | |
Ausdrucksmittel, um eine Gesellschaft und die von ihr gewählten Vertreter | |
zu kritisieren, die lieber Schlepper jagen, als Flüchtlinge aufzunehmen. | |
Das Motto des Kunstfestivals 48 Stunden Neukölln am vergangenen Wochenende | |
lautete „S.O.S. Kunst rettet Welt“. Denn auch hier wurde die Frage | |
gestellt: Wie kann Kunst unserer Gegenwart anders entgegentreten, als mit | |
ihren Mitteln laut zu rufen: Save our Souls?! Beim Durchwandern von | |
Neukölln, diesem Stadtteil der Gegensätze, war man beeindruckt von der | |
Vielfalt der Antworten und Methoden, mit denen sich rund 1.000 | |
Künstler_innen in etwa 280 Beiträgen dem Thema angenähert haben. | |
## Abendmahl am Biertisch | |
Die Theaterwissenschaftlerin Sabrina Schneid hat für ihre Installation | |
„KonSUmeNTa. Vertrau Konsum. Vergiss Kunst“ vier Umkleidekabinen in den | |
Neuköllner Arcaden als Ort gewählt. In der einen häuft sich Elektroschrott, | |
an den Spiegeln hängen Bilder von Kindern in einem unbekannten | |
afrikanischen Land, die auf riesigen Bergen aus Fernsehern, Toastern und | |
Computern nach Brauchbarem suchen. In einer anderen Kabine häufen sich | |
Säcke voller Kleidung, dazu steht am Spiegel das berühmte Zitat von Tyler | |
Durden aus dem Film „Fight Club“: „Wir sind Konsumenten. Wir sind | |
Abfallprodukte der allgemeinen Livestyle-Obsession.“ | |
Auf einem Kissen ist der Untergang eines Flüchtlingsbootes im Mittelmeer | |
abgebildet, auf einem Turnbeutel das Bild einer Näherin aus Bangladesch | |
oder Indien“. Dazu hat Schneid auf einem Biertisch das Abendmahl | |
arrangiert, mit Servietten, auf denen die Engelchen von Da Vinci abgebildet | |
sind. | |
Ein anderes bemerkenswertes Projekt sind die „Superheroes of Neukölln“ der | |
Künstlerin Lucy Libre. Sie hat Kinder und Jugendliche aus Neukölln gefragt, | |
welche Superhelden der Kiez und auch sie selbst gebrauchen könnten, und mit | |
ihnen in Bildern deren Kostümierungen, Masken und Fähigkeiten entwickelt. | |
Ihre Beschäftigung mit Superhelden reicht schon länger zurück, auf Reisen | |
durch Mexiko ging Libre zu Wrestling-Duellen. | |
## Repair-Man mitechten Muskeln | |
Was die Kinder auf Papier verewigt haben, setzen Ringer der German | |
Wrestling Federation um. Superhelden wie School-Man (geht gerne zur Schule, | |
obwohl die manchmal blöd ist) oder Repair-Man (kann so ziemlich alles | |
reparieren) steigen gegeneinander in den Ring. Unter Gejohle und Gekicher | |
stellen die Jugendlichen ihre Superhelden und deren Special Skills vor, die | |
Kämpfer schlagen sich auf die Brust, fordern das Publikum zum Applaudieren | |
auf und springen auf das Geländer des Rings. Die Atmosphäre ist aufgeheizt. | |
Was folgt, ist ein echter Wrestlingkampf mit tätowierten, muskulösen | |
Ringern. | |
Andere Künstler in den Neukölln Arcaden haben Comics zur Weltrettung durch | |
die Kunst gezeichnet oder goldene Banner mit Sätzen wie „Die Weltrettung | |
wird total überbewertet“ oder „Soll doch der Gauck die Welt retten“ gema… | |
Überhaupt – viel Humor ist zu sehen und nicht alle nehmen das Motto der | |
Weltrettung so ernst. Manche Beiträge distanzieren sich ganz bewusst und | |
verweisen auf den ästhetischen und eben nicht politischen Anspruch ihrer | |
Kunst. | |
Mit durchaus interventionistischem Anspruch widmet sich dagegen das | |
Dienstleistungszentrum Kunst dem Motto „Kunst rettet Welt“. Es hat sein | |
Quartier am Richardplatz aufgeschlagen. Unter alten Kastanienbäumen bieten | |
18 Künstler_innen die unterschiedlichsten Dienstleistungen an. Das Institut | |
für Kunstbedürftige zum Beispiel lädt mit einem schwarzen Brett dazu ein, | |
sich zu vernetzen. „Suche Akkordeonunterricht, biete Anstöße zur | |
kreativen Selbstverwirklichung.“ | |
## Faltkunst aus Büchern | |
Ein anderes Kollektiv glaubt an die rettende Kraft des Lesens. An diesem | |
Stand entstehen aus alten Büchern dreidimensionale Faltkunstwerke. Ein | |
weiteres Labor widmet sich den „Konserven der gefährlichen Wirklichkeit“ | |
und bietet an, Geliebtes, Verlorenes, Vergessenes oder Gefundenes zu | |
vakuumieren, einzulegen, zu laminieren oder anderweitig sicher zu verpacken | |
und zu archivieren. | |
Es ist schwer, trotz großem Übermotto einen Tenor aus der großen Vielzahl | |
an Beiträgen des Festivals herauszulesen. Aberwenn es einer wäre, dann der, | |
keine konkreten Lösungen anzubieten, sondern an der richtigen Stelle die | |
richtigen Fragen zu stellen. Und wenn ein in Wachs eingelegtes Smartphone | |
vielleicht nicht die Welt rettet, so stellt es zumindest unmissverständlich | |
Fragen. | |
30 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Anne-Sophie Balzer | |
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