# taz.de -- Unterwegs sein Antje Boesler fährt Busse und U-Bahnen durch Berlin… | |
Bild: Warum der Bus Verspätung hatte? Weil ein Halloweenmonster weinte | |
von Tina Veihelmann | |
Am liebsten mag sie es, wenn sie mit der Linie 5 aus der Erde auftaucht, | |
und dann ist plötzlich das Licht da. Einmal gab es Schnee, der unglaublich | |
leuchtete, und sie war die Erste, die eine Spur in ihn fuhr. | |
Als sie Kind war, sagten ihr ihre Mitschüler, sie sei das hässlichste | |
Mädchen. „Weil ich dünn war und groß, und meine Nase. Aber ich kann | |
wünschen. Im Wünschen bin ich wirklich gut.“ | |
Auch heute ist Antje Boesler hoch wie ein aufgeklappter Zollstock und um | |
die Hüfte so gerade, dass manche sie von Weitem für einen ziemlich großen | |
Mann halten. Sie ist Fahrerin und fährt in Berlin auf zwei U-Bahn-Strecken | |
und auf 75 Buslinien. Es gibt wenige Fahrer, die so viele Routen | |
gleichzeitig bedienen, und auch sie würde es nicht machen, wenn es nicht | |
das wäre, was sie sich immer gewünscht hat. | |
Noch lieber als U-Bahnen chauffiert sie die gelben Stadtbusse. Wenn du vorn | |
vor der großen Windschutzscheibe sitzt, fliegen die Häuserfluchten auf dich | |
zu, und die Stadt wird zu einem Film in 3-D. | |
Am liebsten fährt sie die Linie M29. Der Doppeldecker, in dem sie dann | |
sitzt, ist wie ein Uhrpendel, das von einem Ende der Stadt zum anderen | |
schwingt. Du fährst am Neuköllner Hermannplatz los, vorbei an ungefähr | |
einer Million Pittbullfriseuren und Shishabars – und kommst im Grunewald | |
raus, wo es plötzlich Gärten gibt. „Der Moment, wenn die Gärten auftauchen, | |
das mag ich. In den Gärten wachsen Kiefern, hoch wie Mammutbäume. Die | |
Kiefern riechen nach Strand.“ | |
Mit dem Wünschen hat sie schon angefangen, als sie Kind war und die Gegend, | |
wo sie wohnte, noch Ostberlin hieß. Ihr bestgehasster Mitschüler hatte ihr | |
einmal eine Wurstscheibe auf den Kopf gelegt. Da wünschte sie sich, dass | |
alle Respekt vor ihr hätten. Sie vermöbelte ihn derart, dass sich danach | |
niemand mehr etwas traute. | |
Das war dieselbe Zeit, als sie ihr Pionierhalstuch mit einer | |
Silvesterrakete in den Himmel schickte und ihre Deutschlehrerin ihr sagte, | |
sie würde nie weit kommen, weil sie nicht mal ordentlich rechtschreiben | |
oder sich betragen könnte. Das war auch die Zeit, als Antje viel im Wald | |
herumlief, den Geruch von Kiefern mochte und schon fühlte, dass sie sich | |
ihren Weg selbst bahnen würde. | |
Heute würde bei Kindern wie Antje sicher irgendein Spezialsyndrom erkannt, | |
und sie würden besonders betreut und gefördert werden. Aber all das kannte | |
die DDR nicht, und vielleicht hatte das sein Gutes. „Denn so habe ich meine | |
Kraft behalten und habe im Wald viele Hütten und Baumhäuser gebaut.“ | |
## Das Schöne sehen | |
In dieser Zeit wuchs in dem großen Mädchen mit den | |
Michel-aus-Lönneberga-Haaren ein großer Wunsch, nämlich der, | |
Schriftstellerin zu werden. Das sagte sie natürlich niemandem, weil das | |
wäre ja albern. Eine Legasthenikerin, die ihre eigenen Geschichten | |
schreibt. Aber insgeheim wusste sie schon, dass sie wusste, wie wünschen | |
geht. Und zwar so wünschen, dass es sich auch erfüllt. Du musst nämlich | |
sehen, was du willst, ist Antjes Devise, auch wenn es dir noch so unmöglich | |
vorkommt. Danach musst du die Linse wieder leicht unscharf stellen. Das ist | |
wichtig, zu klar umrissene Wünsche erfüllen sich nicht. „Und dann musst du | |
auf den Zufall vertrauen. Und unterwegs musst du unbedingt das Schöne | |
sehen.“ | |
Für Antje hielt die Wundertüte des Lebens zunächst mal eine Stelle als | |
Köchin bereit. Aber als Köchin guckt man in Töpfe, sieht nichts als | |
klumpige Salzkartoffeln, kommt nirgendwohin und wird müde. | |
Eines Tages stand eine Anzeige in der Zeitung: Omnibusfahrer gesucht. Der | |
Gedanke gefiel ihr. Allein die Vorstellung, ein so großes Fahrzeug zu | |
bewegen. Sie probierte es, und es klappte. | |
Diese DDR-Busse hatten noch keine Servolenkung. „Wenn du die um die Kurve | |
bringen wolltest, musstest du noch richtig Kraft reingeben.“ Einmal sprang | |
der Wagen nicht an, und Antje versuchte, ihn mit zwei Kabeln | |
kurzzuschließen. Leider hat es eine riesige Stichflamme gegeben. „Haben wir | |
gelacht.“ | |
Bald darauf wurde die DDR Geschichte, und die Gesamtberliner Busse verloren | |
dank Hightech ziemlich an Unterhaltungswert. Dafür wurde das Berliner | |
Streckennetz größer, und man sah noch mehr von der Stadt. Antje ließ sich | |
als „Flexifahrerin“ einsetzen. Das sind die Springer unter den Busfahrern, | |
die nicht nur auf ein oder zwei Stammlinien hin- und herfahren, sondern auf | |
Zuruf durch den Kosmos der gesamten Großstadt gondeln. Von den | |
Großbaustellen am Stadtrand bis zum Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. | |
Dabei sieht man so viele Sachen, das gibt’s gar nicht. Unfassbar schöne | |
Sachen und unfassbar hässliche. Und solche, die einen so anrühren, dass man | |
es kaum aushalten kann. | |
Antje Boesler schafft es, einem den Stecker zu ziehen, indem sie sagt: Als | |
Busfahrerin trägst du ja Verantwortung. „Schau, bei manchen Leuten bist du | |
am Morgen der erste Mensch, den sie sehen. Da verdienen sie zum Beispiel | |
ein Lächeln.“ Antje Boesler, die einmal, als sie in ihren liegen | |
gebliebenen Bus einsteigen wollte, von der Polizei von Weitem für einen | |
männlichen Dieb gehalten wurde und Handschellen angelegt bekam, kann | |
ausgesprochen zauberhaft lächeln – und zwar aus so knallblauen Augen, dass | |
das Lächeln mühelos bis zur anderen Straßenseite strahlt. Angelächelt | |
machen die Taxifahrer ihr anstandslos die Spur frei und nicken dabei sogar | |
freundlich. Antje Boesler mag es, sich so durch den Verkehr zu lächeln. | |
Am liebsten mag sie, wenn sie Leute zum Zurücklächeln bringt, die gar nicht | |
vorgehabt hatten zu lächeln. Zum Beispiel diese Leute, die in ihrem Bus | |
mitfahren und sich dauernd über alles und jedes beschweren. Da hält man | |
Delbrückstraße Ecke Hubertusallee, ein Mann mit Gehhilfe steigt ein, | |
grüßt nicht und setzt ohne Umschweife zur Klage an: „Können Sie mir sagen, | |
weshalb Sie geschlagene zehn Minuten Verspätung haben?“, beschwert er sich | |
und stellt seinen Stock so in den Weg, dass niemand an ihm vorbei in den | |
Bus klettern kann. | |
## Zum Zurücklächeln bringen | |
Antje Boesler, die noch heute binnen Sekunden aufbrausen kann, hasst nichts | |
mehr als Ignoranz gegenüber Menschen und Dingen. Wir leben in einer | |
Beschwergesellschaft. Um die zu erschüttern, hat sie sich eines Tages etwas | |
ausgedacht. „Warum der Bus zu spät kommt?“, gibt sie seitdem zurück, wenn | |
sich jemand beklagt. „Da könnte ich Ihnen einen Sack voller Geschichten | |
erzählen. Glauben Sie mir nicht? Hier gebe ich Ihnen eine.“ Und mit diesen | |
Worten drückt sie dem Fahrgast ein Blatt Papier in die Hand. | |
Da hatte sie, während sie so viele Kilometer zurücklegte, dass man mühelos | |
bis ans Kap Hoorn und zurück kommen könnte, alles aufgeschrieben, was | |
Verspätungen im Leben einer Fahrerin manchmal einfach unvermeidbar macht. | |
Eins der Wunder, die man nicht hoch genug schätzen kann, ist doch allein | |
eine Bustür, die sich täglich eintausendmal öffnet. Wer schreibt darüber, | |
dass so eine Tür auch mal kaputtgehen kann? Und was machst du, wenn dir im | |
Grunewald ein Rollstuhl entgegenrast, den eine Dame lenkt, die unstoppable | |
ist? Oder wenn ein Trucker den Weg versperrt, dem seine Eiscremefracht | |
schmilzt? Oder wenn auf der Potsdamer ein verletztes Halloweenmonster auf | |
Rettung wartet? Und wer erzählt, wie es ist, wenn man das Leben und das | |
Fahren ganz einfach mag? | |
Wenn man sich etwas stark wünscht, dann kann man es auch. Zum Beispiel | |
schreiben. Sogar dann, wenn man wie Antje eine Rechtschreibschwäche hat. | |
Antje Boesler schickte der Zufall eine Helferin: eine Deutschlehrerin, die | |
am Abend mit ihr ihre Texte korrigiert. Aber vorsichtig. Nur mit Grünstift. | |
Sodass Antjes Stil erhalten bleibt, die gern „märchenhaft“ schreibt statt | |
„schön“. Aber auch „jemanden auf die Bretter schicken“ kann. Die Sache… | |
ihre Kraft behalten, denn schreiben ist ein bisschen wie im Wald Baumhäuser | |
bauen. Und ein bisschen wie fahren. Man ist unterwegs. | |
Als ihre Fahrgäste ihre Geschichten mochten, traute sie sich und gründete | |
ihren eigenen Blog auf Netnovela. „Tagebuch einer Busfahrerin“. | |
Bald darauf erprobte sie sich auf Berlins offenen Lesebühnen. Selbst das | |
Fernsehen war schon bei ihr: Ein Kamerateam der UFA castete Privatleute, | |
die ihre Geschichte erzählen. Die ausdrucksstärksten sollten gesendet | |
werden. Antje Boesler wurde ausgewählt. | |
Und so könnte es immer weitergehen – wie bei einem Stein, der über das | |
Wasser springt. Am liebsten will sie ihre Busgeschichten irgendwann als | |
Buch veröffentlichen. | |
Aber das soll nur der Anfang sein. Im Anschluss will sie noch einen | |
Ratgeber schreiben. Er soll vom Wünschen handeln. Denn Antje sagt, dass man | |
das Wünschen lernen kann. Sie selbst zum Beispiel wünscht sich, noch einmal | |
in ihrem Leben einen Schwertransporter zu steuern. Und sie ist sicher, dass | |
sie eines Tages einen fahren wird. | |
Tina Veihelmann ist literarisch schreibende Journalistin. Ihr Buch „Aurith | |
– Urad“ erzählt vom Leben in zwei Dörfern, die doch eigentlich eins sind | |
4 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Tina Veihelmann | |
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