# taz.de -- Die Einzigartigkeit jedes Schülers | |
> Die Gewinner des Schulpreises verordnen keinen Gleichschritt. Ihr erster | |
> Maßstab ist die Verschiedenheit der Kinder. Ihre Erfolge erzielen sie im | |
> Widerspruch - gegen das gegliederte Schulsystem und gegen die | |
> Gesamtschulen als Lernfabriken | |
VON REINHARD KAHL | |
Die Kultusminister saßen wie gewohnt in der ersten Reihe und demonstrierten | |
föderalen Stolz. Das war das Bild am Anfang der Festveranstaltung. | |
Eingeladen wurden die Minister, weil die fünf Schulen, die aus der Hand von | |
Bundespräsident Horst Köhler am Montag den Deutschen Schulpreis erhielten, | |
sozusagen ihre Landeskinder sind. Aber diese Schulen sind erwachsen | |
geworden. Sie bekommen den Preis nicht wegen, sondern trotz der von den | |
Ministern verantworteten Bildungspolitik. Und als nach der Preisverleihung | |
Feierstimmung bei der versammelten pädagogischen Prominenz aufkam und man | |
sich dazu gratulierte, wie gelungen Schulen in Deutschland doch sein | |
können, trotz alledem, da standen die Kultusminister abseits, wie bestellt | |
und nicht abgeholt. Dieser Tag, der 11. Dezember 2006, könnte sich als ein | |
historisches Datum für die Schulen dieses Landes herausstellen. | |
Alle fünf ausgezeichneten Schulen verstehen sich als "Schulen für alle". In | |
der wunderbaren Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund, die den ersten | |
Preis erhielt, bedauern die Lehrer, ihre Kinder nicht über das vierte | |
Schuljahr hinaus weiter gemeinsam unterrichten zu können. Wenn man sieht, | |
welchen Sprung die Kinder in ihrer Arbeitshaltung, in den Leistungen und in | |
ihrem freudigen Selbstbewusstsein von der Eingangsklasse zur dritten Klasse | |
machen, kann man sich vorstellen, wie das weitergehen könnte. "Wir möchten | |
die Kinder länger behalten", sagt Gisela Schultebraucks, die Schulleiterin, | |
bedauernd. Die Kinder aus dem ersten und zweiten Schuljahr lernen zusammen. | |
Manche schaffen den Sprung zur nächsten Stufe, der dritten Klasse, in einem | |
Jahr, andere brauchen dafür drei Jahre, aber alle schaffen ihn. | |
Die Altersmischung hat außerdem den großen Vorteil, dass die Neuanfänger | |
nicht am Nullpunkt starten. Sie kommen in eine Community mit ihren Regeln, | |
Ritualen und Revieren. Die Schule ist für sie kein leerer Container, den | |
die Lehrer gegenüber den Kindern erst mühsam definieren müssen. Und noch | |
etwas schafft die Altersmischung. Es lässt sich nicht mehr darüber | |
hinwegsehen, dass jedes Kind anders ist. Die Illusion, dass alle gleich | |
sind, oder - noch verrückter -, dass es die Aufgabe der Schule sei, alle | |
erst mal auf den gleichen Stand zu bringen, um dann nach dem Lehrplan mit | |
der ganzen Klasse im Gleichschritt voranzugehen, wird spätestens an der | |
durch die Altersmischung noch gesteigerten Realität von Verschiedenheit | |
zerschellen. | |
Kein Wunder, dass bei der üblichen Gleichschrittspädagogik viele Kinder | |
verloren gehen. Schon wegen der Langeweile. Und die Frage, ob die | |
schnellsten oder die langsamsten das Tempo "diktieren" sollen, ändert | |
nichts daran, dass Einheitstempo immer eine graue, alltägliche Diktatur | |
hervorbringt. Eine Schule, von der bald niemand mehr etwas wissen will. Die | |
Trümmer des deutschen Schulsystems entstehen, wo die Verschiedenheit der | |
Kinder ignoriert wird, wo Fächer und nicht Schüler unterrichtet werden, wo | |
unser viergliedriges System (bei der Rede vom "dreigliedrigen" werden ja | |
bereits die nahezu fünf Prozent Sonderschüler - einmalig in der Welt - | |
ausgebürgert) die Illusion aufbaut, die Verschiedenheit mit der Aufteilung | |
der Kinder in Schultypen bereits gelöst zu haben. "Lernen ist doch das | |
Allerindividuellste auf der ganzen Welt", sagt Hartmut von Hentig, der | |
große Mentor aller pädagogischen Erneuerung, "es ist genauso individuell | |
wie die Liebe." | |
In guten Schulen führt der Blick auf die Verschiedenheit der Kinder zur | |
Anerkennung, ja Bewunderung für die Einzigartigkeit jedes Einzelnen. Sie | |
unterscheiden sich von schlechten genau darin: Wird die Verschiedenheit der | |
Kinder und Jugendlichen zumindest respektiert - oder wird sie als | |
Abweichung von einer idealen Norm, gewissermaßen als zu korrigierender | |
Geburtsfehler des Individuums, bekämpft? | |
Aber dieser fatale Irrglaube der Industriegesellschaft, dass Menschen gut | |
funktionierende Maschinen sein sollten, verliert seine Anhänger. Es könnte | |
sehr schnell gehen, dass die neuen Schulen mehrheitsfähig werden, wenn sich | |
erst einmal herumspricht, wie weit der Gegenentwurf bereits gediehen ist. | |
Das ist das ernorme Verdienst des Deutschen Schulpreises, diesen gelungenen | |
Schulen Bekanntheit und Ansehen zu verschaffen. Es sind neben der | |
Dortmunder Grundschule allesamt Gesamtschulen der zweiten Generation: | |
Kassel-Waldau, Max-Brauer in Hamburg, Jenaplan in Jena und Franzsches Feld | |
in Braunschweig. Sie haben sich im Widerspruch sowohl gegen das gegliederte | |
deutsche Schulsystem als auch gegen die zuweilen an Lernfabriken | |
erinnernden Gesamtschulen der ersten Generation profiliert. Sie haben | |
übersichtliche Lernräume geschaffen und sich geweigert, die Selektion mit | |
noch ausgefeilterer Differenzierung zu perpetuieren. Ihr Schulklima schafft | |
gute Stimmung und bringt allerbeste Leistungen. Diese Schulen mussten ihre | |
Freiheit oft Zentimeter für Zentimeter gegen Kultusminister, | |
Schulbürokraten und nicht zuletzt gegen eine öffentliche Meinung | |
verteidigen, die in alter deutscher Tradition einfach nicht glauben wollte, | |
dass sich mehr Freude und bessere Leistungen gegenseitig hochschaukeln. | |
Diese Schulen sind selber lernende Organisationen. Im Alltag der | |
Grundschule Kleine Kielstraße, in der vier von fünf Kindern aus | |
ausländischen Familien kommen, sieht das so aus: Während die Schulanfänger | |
bereits kleine naturwissenschaftliche Experimente machen, lernen ihr Mütter | |
im Nebenraum Deutsch. Noch einen Raum weiter werden deren Kleinkinder | |
betreut. Schulleiterin Gisela Schultebraucks konnte dafür von einer | |
Wohnungsbaugesellschaft 9.000 Euro im Jahr organisieren. Zehn Prozent der | |
Mütter machen mit. Eltern werden mit den Kindern schon ein Jahr vor der | |
Einschulung zu einem Test eingeladen. Anschließend bekommen sie einen | |
Förderbrief mit Angeboten. Die Reihe solcher Ideen an dieser Schule ist | |
lang. Das Faszinierende ist, wie diese und andere Schulen dabei souverän | |
werden. Sie stilisieren all die kleinen und großen Probleme, die auch bei | |
ihnen nicht aufhören, nicht zu einer Übermacht, die sie selbst zum | |
ohnmächtigen Opfer macht, so in der Art: Bei einer "Belastung" von 80 | |
Prozent Ausländern kann man halt nichts mehr machen, und angesichts großer | |
Klassen, von zu wenig Geld, zu viel alter oder vielleicht auch zu viel | |
junger Lehrer ..., da geht doch gar nichts. Und das beweisen wir. Solche | |
Opferdiskurse sind in den depressiven Zirkeln vieler Lehrerzimmer | |
verbreitet. Sie frönen, zuweilen mit kritischer Theorie untermauert, dem | |
traurigen Bild vom handlungsunfähigen Untermieter in der Welt. Und damit | |
kommen sie dann auch noch ihren Schülern. Die lernenden Schulen eignen sich | |
als Erstes die Probleme, unter denen sie leiden, als ihre eigenen an. Egal | |
wodurch sie hervorgebracht worden sind, jetzt sind es ihre Probleme, das | |
heißt, das Rohmaterial ihrer Lösungen. So wird Entfremdung in eigenes Leben | |
umcodiert. "Im Grunde ist die Schule", sagt die Dortmunder Schulleiterin, | |
"eine Antwort auf die Kinder und den Stadtteil, ein ständiger Dialog." Und | |
dann sagt sie noch etwas: "Ohne Liebe ist alles nichts." | |
Die Jury, so war zu hören, habe sich sehr darum bemüht, ein Gymnasium bei | |
den Preisträgern zu haben, konnte aber unter den 120 gymnasialen | |
Bewerbungen kein hervorragendes finden. Die meisten Gymnasien wollen immer | |
noch nur gute Exemplare ihrer Gattung, aber keine eigenwilligen Schulen | |
sein. Die Botschaft des Deutschen Schulpreises hingegen heißt: Eine | |
gelungene Schule hat eine Biografie. Sie ist ein Individuum. Und damit | |
kommt man zum nächsten Punkt. Individuen suchen mit anderen Individuen eine | |
Gemeinschaft. Sie müssen sich verständigen. Dafür brauchen sie eine | |
Sprache. Und siehe da: All diese Schulen sind untereinander im Kontakt. Sie | |
lernen voneinander. Aus manchen haben sich die Lehrer schon mehrfach | |
gegenseitig besucht. | |
Steht diese Strategie vor dem Durchbruch mehrheitsfähig zu werden? Die | |
Botschaft des Preises, der nun jährlich von der Robert Bosch Stiftung | |
ausgelobt wird, ist die Ermutigung aller Schulen, eigenwilliger zu werden. | |
Das ist keine Marotte einer reformfreundlichen Stiftung. Die pluralistisch | |
gemixte Jury könnte der Deutsche Bildungsrat 2006 sein. Dazu gehören der | |
derzeitige Pisa-Chef Manfred Prenzel und sein Nachfolger Eckhard Klieme. | |
Der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz Erich Thies stimmte ebenso | |
über die Preise mit ab wie der Chef der niederländischen Schulinspektion | |
Johan van Bruggen, Jürgen Oelkers aus der Schweiz sowie die gestandenen | |
Schulleiterinnen Enja Riegel und Erika Risse. | |
Überzeugend für die Jury war natürlich auch die hervorragende | |
Leistungsbilanz der Schüler in allen Preisträgerschulen. Zum Beispiel in | |
der Jenaplanschule in Jena. Sie beginnt mit der Vorschule und geht bis zum | |
Abitur, das mehr als die Hälfte der Schüler ablegt. Die Schüler bringen es | |
auf den Abischnitt von 1,5. Im Landesschnitt des Thüringer Zentralabiturs | |
werden 2,3 erreicht. Die Schüler lernen meist in jahrgangsgemischten | |
Gruppen, den "Stammgruppen", zu denen jeweils drei Jahrgänge gehören. | |
Kinder entwickeln dort ihre "Eigenzeit". Das ist für die Schulleiterin | |
Gisela John "die wirkliche Demokratisierung der Schule". Sie findet im | |
Unterricht statt. In Jena schätzt sich jeder Schüler zweimal im Jahr in | |
einem Brief selbst ein. Der Lehrer oder die Lehrerin antworten darauf | |
schriftlich, dann folgt ein Gespräch mit allen, auch den Eltern. Erst dann | |
gibt es in den höheren Klassen Noten. Gisela John schwärmt von der | |
Ehrlichkeit der Schüler sich selbst gegenüber. | |
Die verbreitete Schülerstrategie, im Unterricht lieber intelligent gucken | |
und bloß keine dummen Fragen stellen, gilt in diesen Schulen nicht. Der | |
Verzicht auf den Bluff kann allerdings nur gelingen, weil die Schüler ihre | |
Schwächen nicht verbergen müssen. Sie dürfen Fehler machen, aber nicht | |
immer die gleichen. | |
Langsam muss es sich herumsprechen, dass Schüler diese Offenheit und | |
Lernbereitschaft einfach nicht wagen, solange sie bei schlechten Leistungen | |
fürchten müssen, dass die Schule sie als ungeeignet abstößt. Vielleicht | |
sollte die Gretchenfrage nach dem Schulsystem künftig so lauten: Prämiert | |
eine Schule die Verstellung der Schüler oder bietet sie Anreize, damit | |
jeder Schüler mit sich selbst, den anderen Schülern und den Lehrern ins | |
Gespräch kommt? Mit der Wahrhaftigkeit wird auch die kognitive Potenz | |
gesteigert. Nur in souveränen Schulen können Kinder zu souveränen Menschen | |
erzogen werden! Die Preisträger zeigen Umrisse der Schule der Zukunft. Es | |
gibt sie bereits. Hervorgegangen ist sie aus der Intelligenz der Praxis. | |
13 Dec 2006 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Kahl | |
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