# taz.de -- Gaza: Viel Ruhe in Hamastan | |
> Der Gaza-Streifen ist nach dem kurzen Bürgerkrieg unter der Kontrolle der | |
> Hamas zu einem recht sicheren Ort geworden | |
Bild: Grenzübergang Eres im nördlichen Gaza-Streifen | |
Man fühlt sich wie auf einem Flughafen, wenn man den Grenzübergang Eres | |
zwischen Israel und dem Gaza-Streifen erreicht. Riesige vollklimatisierte | |
Hallen, in denen Pfeile die Reisenden durch jeweils grün oder rot | |
aufleuchtende Schranken zu den Kontrollen leiten. Dazu weisen dezente gelbe | |
Schilder mit der Aufschrift "Gaza-Streifen" den Weg. Hat man die Kontrollen | |
überstanden, öffnet sich eine vollautomatische Schiebetür aus dickem Eisen. | |
Es folgen zwei Gittertore und ein drei Minuten langer Fußmarsch entlang an | |
Zäunen und Mauern, bis man endlich auf der palästinensischen Seite steht. | |
Es riecht nach Abfall und Urin. Überall liegen Plastikflaschen und leere | |
Kekstüten, ein paar Sandalen, ein alter Pullover und Zigarettenreste. Bis | |
Mittwochnacht lagerten hier hunderte Flüchtlinge, zumeist Ausländer und | |
Fatah-Mitglieder. Sie harrten hier mehrere Tage ohne sanitäre Anlagen und | |
ausreichende Nahrungsmittel in der stickigen Hitze aus. Bis Israel | |
schließlich die Grenze öffnete. | |
Hier herrscht Anarchie: Am Ende des gut 200 Meter langen Betonkorridors | |
werkeln Plünderer, sie bauen die Grenzanlagen ab. Alle paar Minuten fällt | |
einer der riesigen eisernen Dachträger krachend zu Boden. Jugendliche | |
betteln aggressiv um einen Schekel, rempeln und schimpfen die fremden | |
Besucher an. Die Grenzregion auf palästinensischer Seite ist ein | |
gesetzloser Raum, die neuen Ordnungshüter der Hamas trauen sich nicht in | |
Reichweite israelischer Kugeln. | |
Ein Gefühl der Sicherheit stellt sich erst wieder ein, wenn "Hamastan" | |
erreicht ist. Nur noch ahnen lassen sich hier inzwischen die blutigen | |
Gefechte, die Hinrichtungen auf offener Straße und die öffentlichen | |
Misshandlungen der toten Körper. Die Hamas hat die Lage unter Kontrolle, | |
keine Schüsse, keine Maskierten. Nur noch vereinzelte bewaffnete Männer auf | |
den Straßen. Sie regeln den Verkehr, achten darauf, dass die Kleinhändler | |
keine Wucherpreise für die knapper werdenden Grundnahrungsmittel nehmen. | |
Allesamt tragen sie nagelneue blauweiße Camouflage-Uniformen. Sie gehören | |
den vor gut einem Jahr von der Hamas formierten "Exekutiv-Kräften" an und | |
unterstehen offiziell dem Innenministerium. | |
Der katholische Pater Manuel Musallem mag der neuen Ruhe noch nicht trauen. | |
Sichtlich bedrückt sitzt er vor seinem Schreibtisch, der dezent mit zwei | |
kleinen Kreuzen geschmückt ist. An der Wand hängt ein Bild des Papstes. Vor | |
ein paar Tagen steckten bewaffnete Fanatiker das Schwesternstift seiner | |
"Schule der Heiligen Familie" in Brand. Es dauert etwas, bis er zugibt, | |
dass die Täter zur Hamas gehört haben müssen, da sie eine Waffe trugen. | |
"Wir Christen in Palästina und in Gaza sind zuallererst Araber und | |
Palästinenser", sagt der Pater. Wenn er überhaupt Angst habe, "dann nicht | |
vor den Muslimen, sondern vor den Fundamentalisten". Schon früher gab es | |
Drohungen gegen die christliche Einrichtung. Präsident Mahmud Abbas "hat | |
die Sache immer leicht genommen, aber als ich mich bei der Hamas beschwert | |
habe, sind sofort Wachmänner gekommen, um die Schule zu beschützen". Die | |
Hamas habe auch die Schäden im Stift "umgehend repariert". | |
Pater Manuel lässt sich breit über seine guten Beziehungen zur | |
Hamas-Führung aus, "die ihre Kinder in meine Schule schicken". Diese Leute | |
würden "aber auch die Fundamentalisten ideologisch nähren", wirft ein | |
Mitarbeiter ein, der selbst Muslim ist. Er scherzt, der Pater sollte sich | |
"besser einen Bart wachsen lassen" - das Zeichen religiöser Muslime. Doch | |
der Schuldirektor bleibt unbeirrt. Der Fundamentalismus werde von der | |
Besatzung und der Not genährt. "Wenn wir nicht bald eine friedliche Lösung | |
finden, wird die Hamas auch das Westjordanland erobern." | |
Mit der Sorge, alles könnte enden wie in Gaza, steht der Pater nicht | |
allein. Auch die Fatah-Sicherheitsleute im Westjordanland bereiten sich auf | |
die nächste Schlacht vor. Sie wollen sie auf keinen Fall wieder verlieren. | |
Fawsy Barhoum, Sprecher der Hamas im Gaza-Streifen, versteht dagegen die | |
ganze Aufregung über eine mögliche Fortsetzung des Bürgerkrieges im | |
Westjordanland nicht. "Dort gibt es keine Hamas mehr", erklärt er trocken. | |
Tatsächlich wurden die Hamas-Funktionäre, die nicht schon seit Wochen | |
hinter israelischen Gittern sitzen, inzwischen von der Fatah im | |
Westjordanland sichergestellt. Abbas hat 1.500 Hamas-Mitglieder verhaften | |
lassen und zudem die Milizen der Kassam-Brigaden verboten. Die Kluft | |
zwischen den beiden größten palästinensischen Bewegungen vertieft sich von | |
Tag zu Tag. | |
"Unser Kampf war niemals gegen die Fatah gerichtet", erklärt der | |
Hamas-Sprecher dennoch. Sondern: "Wir haben den Gaza-Streifen von den | |
Spionen und Kollaborateuren befreit." Barhoum hat ein Video vorbereitet, | |
das einen jungen Mann zeigt. Er liegt mit verbundenen Augen am Boden und | |
wird unter Schreien wieder und wieder getreten und mit einem Stock | |
geschlagen. Die Folterungen hätten fünf Tage gedauert, erklärt Barhoum. | |
Dann sei der Mann erschossen worden. "Wir haben das Video im Büro von Abbas | |
gefunden." | |
Abbas sei auch schuld daran, dass die 1,5 Millionen Menschen im | |
Gaza-Streifen von der Welt abgeschnitten seien, sagt Barhoum. Aber: "Es | |
wird zur Einheit kommen", zeigt sich Barhoum überzeugt. Fatah und Hamas | |
würden doch wieder zusammen arbeiten und regieren. Die Hamas hat es | |
verständlicherweise eiliger, denn mit der Isolation des Gaza-Streifens | |
droht eine humanitäre Katastrophe. | |
Überraschenderweise ist das Haus von Präsident Abbas im Gaza-Streifen von | |
den Kämpfen völlig unbeschädigt geblieben. Im Garten steht noch der | |
Rasenmäher, gerade so, als wäre der Bewohner des Hauses mal eben einkaufen | |
gegangen. Nur die großen Fotos der "Märtyrer", die am Zaun und in den | |
Bäumen hängen, dürften neu sein. Auch im Haus ist offenbar nichts berührt | |
worden. Überall hängt das Bild von Abbas, viele aus Zeiten, als er deutlich | |
jünger war. Im Wohnzimmer ein Fernseher mit Ausmaßen fast wie eine | |
Kinoleinwand und davor ein Lauftrainer für den sportlichen Präsidenten. | |
Im Gaza-Streifen scheint das friedliche Nebeneinander wieder ganz gut zu | |
funktionieren - nachdem die Offiziere der Fatah-nahen "Präventiven | |
Sicherheit" und der Präsidentengarde geflohen sind oder verhaftet wurden. | |
Die Angehörigen der anderen Polizeieinheiten, die sich zum Teil den | |
Hamas-Milizen kampflos ergaben, sind heute schon kein Feind mehr. Abdallah | |
Fahmawie war Hauptmann der Nationalen Polizei und wartet jetzt auf neue | |
Befehle von seinem nach Ramallah geflohenen Kommandanten. "Angst vor der | |
Hamas habe ich nie gehabt", sagt er. | |
Bei der Familie Obeid aus Jabalia gehört die Koexistenz der verfeindeten | |
Gruppen zum Alltag. Der 25-jährige Fauwad gehört zur Fatah, sein um fünf | |
Jahre jüngerer Bruder Ahmad zur Hamas. Beide schlafen noch immer im | |
gleichen Zimmer. Dass sich die Brüder nicht zu heftig streiten, weiß ihr | |
Vater zu verhindern. In diesen Tagen sind sich die beiden ungewöhnlich | |
einig: Ja, der Kampf der Hamas galt der Korruption und der Ungerechtigkeit. | |
Mohammed Dahlan, der Chef der Präventiven Sicherheit, "hat uns betrogen", | |
sagt Fauwad, "er ist weggelaufen und hat seine Truppen alleingelassen". | |
Die Schlacht habe nicht die Fatah verloren, sondern nur "die schlechten | |
Fatah-Leute", meint er. Die nun von der Korruption gereinigte Bewegung sei | |
schon wieder im Aufwind, gewinne an Popularität. "In vier Jahren spätestens | |
werden wir wieder regieren", gibt sich Fauwad selbstbewusst. Da schüttelt | |
sein kleiner Bruder lachend den Kopf: "Hamas - von hier ab bis in die | |
Ewigkeit." | |
23 Jun 2007 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
## TAGS | |
Niels Stolberg | |
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