# taz.de -- Portrait: Eine Jugend im Widerstand | |
> André Kirschen erschoss einen deutschen Offizier, überlebte Folter und | |
> Gefängnis. Nun zeigt eine Berliner Ausstellung einen 65 Jahre alten Film | |
> mit ihm. Ein Besuch in Paris. | |
Bild: "Weil das deutsche Gesetz die Todesstrafe erst ab 16 Jahren vorsah, wurde… | |
"Ohne Zweifel ein Offizier mit einer schönen Uniform und einem Dolch. Ich | |
zog meine Waffe, drückte sie an meine Hüfte und schoss dem Mann in den | |
Rücken - aus zwei Meter Entfernung, er brach zusammen." Als André Kirschen | |
am 10. September 1941 in der Pariser Metrostation Porte Dauphine einen | |
deutschen Marinesoldaten niederschoss, war er 15 Jahre und einen Monat alt. | |
Zusammen mit 26 anderen kommunistischen Widerstandskämpfern kam er vor ein | |
Militärgericht und entkam dem Todesurteil. Von diesem Prozess gegen die | |
jungen Kommunisten existieren Filmaufnahmen. Diese Bilder zeigt jetzt die | |
Ausstellung "'Was damals Recht war ' Soldaten und Zivilisten der deutschen | |
Wehrmacht" der Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas in Berlin. In | |
ihnen ist auch zu sehen, wie der junge André Kirschen den Umgang mit seiner | |
Waffe demonstrieren muss. | |
Heute ist André Kirschen 80 Jahre alt und lebt mit seiner Frau in einem | |
Vorort von Paris. Auf die Interviewanfrage hatte er skeptisch reagiert, | |
freundlich, aber kurz angebunden. Ein Gespräch? Ja, aber nur bei ihm zu | |
Hause und nur kurz, er müsse sich um seine Frau kümmern. | |
"Ah, Montreuil", hieß es in Paris. "Ein Kommunist?! Kein Wunder, dass er | |
dort lebt." Montreuil-sous-Bois, die ehemalige Industriestadt des 19. | |
Jahrhunderts, war eine der Hochburgen in der Geschichte der | |
Arbeiterbewegung und des Widerstands in Frankreich. | |
"Sie haben hierher gefunden und Sie sind pünktlich, ich gratuliere Ihnen!", | |
so die Begrüßung am Gartentor. Kein Händedruck, stattdessen hüpft der | |
zierliche kleine Mann überraschend flink die Treppe hoch in sein | |
Arbeitszimmer. Er müsse nochmals kurz nach seiner Frau sehen. Schon ist er | |
wieder weg - und schnell wie ein Wiesel ist er wieder da. Man sieht ihm | |
zwar seine 80 Jahre an, Falten, Altersflecken, schütteres Haar. Aber er hat | |
noch immer die gleiche Haltung, den gleichen Gesichtsausdruck wie in den | |
Filmaufnahmen von vor 65 Jahren. | |
Alles geht schnell bei Herrn Kirschen. Auch die Distanz ist plötzlich weg. | |
Er raucht, erzählt und lacht viel, zwar schüchtern, aber er kokettiert | |
auch. | |
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion im Juni 1941 | |
hatte sich der Unmut in der französischen Bevölkerung gegen die deutschen | |
Besatzer gemehrt. Pétains Politik der Kollaboration fand immer weniger | |
Zustimmung. Proteste und Sabotageakte häuften sich. Die Kommunistische | |
Partei rief zum bewaffneten Widerstand auf. Mit der OS, der Organisation | |
Spéciale, schickt die Partei den kommunistischen Nachwuchs, meist | |
Jugendliche unter 21 Jahren, als Erste und fast unausgebildet in den Kampf. | |
Unter den Jüngsten war André Kirschen. Als 13-Jähriger war der Sohn | |
rumänischer Einwanderer über seinen älteren Bruder und dessen | |
Studienfreunde von der Universität Sorbonne zur Kommunistischen Partei | |
gestoßen. Sonst sei er ein schüchterner Einzelgänger gewesen. Ihm habe der | |
Zusammenhalt in der Gruppe gefallen, erzählt er und schaut ein wenig | |
verlegen. Inoffiziell arbeitete er in der Sektion seines Bruders mit. Sie | |
trafen sich im Haus ihrer Eltern und druckten mit einer Kinderbuchpresse | |
Parolen und Flugblätter. Nach den ersten Demonstrationen 1940 flog die | |
Gruppe schnell auf. Der Bruder wurde verhaftet, André nicht, denn noch | |
tauchte er nicht in den Unterlagen der Partei auf. Wenige Monate später | |
schloss er sich der OS an und begann den bewaffneten Kampf. | |
"Ich war stolz und beeindruckt, ich hatte das Gefühl, plötzlich erwachsen | |
geworden zu sein." So beschreibt er seine Gefühle nach dem Attentat. | |
Gemeinsam mit zwei Genossen war er durch die Stadt gestreift auf der Suche | |
nach einzelnen Wehrmachtsangehörigen. Ihre Aufgabe war es, sie | |
niederzuschlagen, unbedingt zu entwaffnen und sie dann zu töten. Ganz | |
besonders wichtig waren die Waffen, denn die OS war schlecht ausgestattet. | |
"Mir gefiel die Vorstellung aber nicht, jemanden niederzuschlagen." Da sie | |
keine geeignete Person trafen, entschied er, es allein zu versuchen. Schon | |
auf dem Nachhauseweg - ihm war bis dahin keine einzelne Person begegnet - | |
kam ihm der Marine-Unteroffizier entgegen. Der 15-Jährige ergriff die | |
Gelegenheit. Er drehte um, holte auf und zückte die Waffe. | |
Seine Tat in der Metrostation blieb unentdeckt, obwohl sich die Büros der | |
obersten Verantwortlichen der SS in Frankreich, General Karl Oberg und sein | |
Stellvertreter Knochen, in direkter Nachbarschaft, in der Avenue Foch, | |
befanden. Die sogenannte Avenue Boche - Boche bezeichnet umgangssprachlich | |
abwertend die Deutschen - war die Straße mit der wohl höchsten Dichte an | |
Wehrmachtsangehörigen in Paris. | |
Im März 1942 flog die ganze Gruppe auf und damit auch André Kirschen. Es | |
folgten zehn Tage lang Verhöre und Schläge von der französischen Polizei | |
und Verhöre und Schläge von der deutschen Geheimen Feldpolizei. Es heißt, | |
der Verantwortliche der Kommunistischen Jugend sei zu Tode gefoltert | |
worden. | |
"Ich konnte nicht anders, als das zu ertragen. Ich wollte zwar nicht | |
sterben; aber als Verräter zu sterben, das wäre das Schlimmste gewesen. | |
Mich rettete letztendlich, dass ich nicht viel wusste", fasst André | |
Kirschen diese Zeit zusammen. | |
Tag und Nacht gefesselt in der Gefängniszelle und abgeschnitten von | |
jeglicher Information, war sich der 15-Jährige sicher, er werde sterben. An | |
ein ordentliches Gerichtsverfahren und Rechte als Angeklagter glaubte er | |
nicht. Wie er das ertragen habe? "Ich war wie in einem Kokon, ich habe auch | |
keinen Hunger verspürt, obwohl die Ernährungssituation im Gefängnis | |
erbärmlich war." | |
Nach fast einem Monat der Ungewissheit öffnete sich die Zellentür: | |
"Aufstehen, waschen, schönmachen, Gericht!" 34 Anklagepunkte: versuchte | |
Anschläge auf Wehrmachtsangehörige, Sabotageakte, durchtrennte Kabel, | |
selbst gebastelte Brandsätze und Bomben. Die Anwälte, je einer für drei | |
Angeklagte, griffen nicht in das Prozessgeschehen ein. Am vorletzten Tag | |
erschien das Kamerateam. Für André hieß es: "Na los, du Schweinehund, zeig, | |
wie du es gemacht hast" | |
Der Film wurde nie gezeigt. Es ist nicht bekannt, warum er nicht in den | |
Wochenschauen in Frankreich lief. Am achten Verhandlungstag das Urteil: | |
25-mal die Todesstrafe, zweimal Gefängnis. André Kirschen wird zu zehn | |
Jahren Gefängnis verurteilt. Ihn rettete sein Alter, er war noch keine 16 | |
Jahre alt. | |
Auch die deutschen Gefängnisse überlebte er und drehte nicht durch: Zwei | |
Jahre Einzelhaft ohne Nachrichten von seiner Familie. Die deutsche | |
Grammatik, um die er gebeten hatte, wurde ihm wieder abgenommen. Seine | |
einzigen Informationen über den Verlauf des Krieges lieferten ihm, mit | |
Verspätung und ohne Deutschkenntnisse schwer zu entziffern, die | |
Zeitungsstücke, die er als Toilettenpapier erhielt. Er erfuhr erst zwei | |
Jahre nach deren Tod, dass sein Vater und sein Bruder zusammen mit 95 | |
Geiseln hingerichtet worden waren und seine Mutter nach Auschwitz | |
deportiert wurde. Was ihn selbst im Gefängnis rettete, er weiß es nicht. Es | |
wird zwar entdeckt, dass er Jude ist, aber er kommt nicht in ein | |
Konzentrationslager. | |
Mit Ende des Krieges die zweifache Wiedergeburt. André Kirschen kehrte nach | |
Paris zurück. Mittlerweile 19 Jahre alt, bereitete er sich mit Hilfe eines | |
Onkels auf das Abitur vor. Da erlitt er in Folge eines Fahrradunfalls einen | |
Leberriss, aber auch den überlebte er. Er studierte, heiratete, gründete | |
einen Verlag, bekam zwei Kinder und erwirtschaftete sich einen kleinen | |
Wohlstand. "Ich wollte einfach vergessen." | |
Der Kommunistischen Partei ist er trotz Irritationen lange treu geblieben: | |
"Sie war wie eine Familie für mich. Ich hatte sogar die Tendenz - und das | |
bedaure ich heute zutiefst -, die Welt in zwei Teile zu teilen: die | |
Kommunisten, die die Wahrheit und die Zukunft darstellten, und die anderen, | |
die überzeugt werden mussten." Aber 1978 tritt er aus. Nach einer | |
verlorenen Wahl in Frankreich und dem Rückzug auf eine dauernde | |
Oppositionsposition hat die Partei für ihn keine Ideale mehr. | |
Das Attentat hätte ihn in den Augen vieler Franzosen zum Helden machen | |
können. Aber Ruhm und Trubel um seine Person suchte er nicht. "Was wir | |
getan haben, war nur sehr wenig", beschwichtigt er. "Ich war eben einfach | |
nur ein paar Monate jünger als die anderen, und nur das rettete mir das | |
Leben." Er mied öffentliche Auftritte. Ehrungen von Leuten, die in seinen | |
Augen nicht viel getan hatten, ärgern ihn aber auch jetzt noch. Und die | |
Ehrung von kommunistischen Widerstandskämpfern durch Sarkozy anlässlich | |
seines Amtsantritts? "Ha, das amüsiert mich, das zeigt, wie gerissen er | |
ist", sagt er gelassen. | |
Erst mit dem Alter kam der Wunsch, zu berichten. Er, der Verleger und | |
Buchautor, wartete 60 Jahre mit der Veröffentlichung seiner persönlichen | |
Geschichte. 2002 bringt er ein Buch über das Gerichtsverfahren heraus, erst | |
2005 erschien ein autobiografisches Interview. | |
Sehr gerne wäre er zur Ausstellungseröffnung nach Berlin gereist, aber es | |
geht ihm nicht gut genug. Auch wenn er sich skeptisch gibt, freut es ihn | |
sehr, dass seine Geschichte in Deutschland auf Interesse stößt. Und etwas | |
betont er ganz besonders: Er sei nie Rassist gewesen und habe die Deutschen | |
nie pauschal verurteilt. | |
Bis zum 1. August in der Auguststr. 90 in Berlin-Mitte. Ab dem 10. 8 ist | |
die Ausstellung in Köln zu sehen, danach in München, Freiburg, Halle u.a. | |
Orten. | |
7 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
Natascha Peleikis | |
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