# taz.de -- Teenager: Vorbereitungen zu Elvis' Krönung | |
> Vor 30 Jahren starb Elvis Presley. Pophistoriker Jon Savage erzählt in | |
> einem Buch, wie das Subjekt entstand, das ihm Weltruhm brachte: der | |
> Teenager. | |
Bild: Jugendliche mögen Ärger machen: Elvis-Fans in New York 1956. | |
Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, die USA haben gewonnen, und da betritt er | |
die welthistorische Bühne: der Teenager. Wie es sich für die vielleicht | |
größte, ganz sicher aber einflussreichste amerikanische Erfindung des 20. | |
Jahrhunderts gehört, bekommt sie auch gleich ihre eigene | |
Unabhängigkeitserklärung: Das New York Times Magazine veröffentlicht im | |
Januar 1945 die sogenannten Teen Commandments - eine Anspielung auf die | |
"Ten Commandments", die Zehn Gebote -, die Bill Of Rights eines neuen | |
historischen Subjekts. Sie reichen von dem Recht, kein Kind mehr zu sein, | |
über das Recht auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe bis zum | |
Recht auf Hilfe, wenn man nicht mehr weiterweiß. Da ist er also, der | |
Teenager. Bereit, die Welt nach seinem Bild zu verändern. Bereit, Elvis | |
schon bald zu seinem König zu krönen. | |
Natürlich gibt es ihn vorher schon in diversen Vorformen: als Jugendlichen, | |
als Kind, als Heranwachsenden, als jungen Erwachsenen. Durchaus auch schon | |
mit ähnlichen Problemen - im deutschen Sturm und Drang etwa. Das Großartige | |
an "Teenage - The Creation of Youth Culture", dem neuen Buch des britischen | |
Pophistorikers Jon Savage, ist jedoch, wie elegant es die biologistische | |
Einsicht des gesunden Menschenverstands, dass Jugendliche eben immer Ärger | |
machen, mit historischem Wissen umbaut. Jugendliche mögen immer Ärger | |
machen: Aber was genau ein Jugendlicher ist, hat längst nicht nur mit dem | |
Alter zu tun. | |
Der Begriff des Teenagers entsteht im New York des Jahres 1944 - Savage | |
interessiert sich in seinem Buch nicht dafür, was danach kam, sondern wie | |
es dazu kommen konnte. So beschreibt "Teenage", wie Adoleszenz zwischen | |
1880 und 1945 in den vier wichtigsten Industrienationen verhandelt wird: in | |
Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA. Wie an der | |
Schnittstelle von Biologie, Rechtsprechung, Werbepsychologie, Militär, | |
Alltagskultur und Erziehungssystem die Figur des Teenagers entsteht. | |
Savages Kronzeuge ist G. Stanley Hall. Ein heute weithin vergessener | |
amerikanischer Psychologe der Jahrhundertwende, der am ehesten als | |
derjenige erinnert wird, der Sigmund Freud zum ersten Mal nach Amerika | |
einlud und damit den Siegeszug der Psychoanalyse vorbereitete. Hall schrieb | |
jedoch mit "Adolescence" jenes Standardwerk, ohne das es - zumindest laut | |
Savage - den Teenager niemals gegeben hätte (es ist übrigens auch das erste | |
amerikanische Buch, das Freud zitiert). Es erscheint 1904. Hall beschreibt | |
darin das Alter zwischen dem 12. und dem 21. Lebensjahr zum ersten Mal als | |
eine Periode, die nicht biologisch determiniert, sondern sozial konstruiert | |
ist. | |
Mit weit reichenden Konsequenzen: Hall war Humanist, hatte in Deutschland | |
studiert und schlug ein Erziehungssystem vor, das dieser Erkenntnis | |
Rechnung tragen sollte. Es sollte Schulen für alle geben, niemand sollte | |
die Schule vor Ende der Pubertät verlassen müssen, und neben der | |
Vermittlung des Stoffs sollte es genug Raum für "Freizeit, Kunst, Legenden, | |
Romantik, Ideale" geben. Und noch etwas bei Hall ist wichtig: Er | |
identifiziert die amerikanische Jugend emphatisch mit der amerikanischen | |
Nation - auch weil die amerikanische Jugend eine mixed race sei. Wenn es | |
gelinge, die daraus resultierenden Konflikte in den Schulen aufzufangen und | |
ihre Energien zu kanalisieren, würden "the grandest man and women the world | |
has ever known" entstehen. | |
Als Resultat von Halls Überlegungen entsteht die amerikanische High School. | |
Und der amerikanische Jugendliche: höher gebildet als seine europäischen | |
Altersgenossen und wesentlich stärker individualisiert. Savage zitiert | |
einen amerikanischen Politiker, der sich große Sorgen macht, dass das | |
Schulsystem nicht mehr genug Nachschub für die industrielle Reservearmee | |
liefert - und neidvoll nach Deutschland mit seinem autoritären | |
Erziehungssystem blickt. | |
Tatsächlich bildet Deutschland den großen Gegenpart zu den USA. Was auch an | |
der ähnlichen Selbstwahrnehmung liegt - das Deutsche Reich begreift sich | |
genau wie die USA als junge Nation, für beide ist die Jugend der Spiegel | |
der Nation. Niemand denkt dies radikaler zu Ende als die Nazis, die ihr | |
gesamtes Herrschaftssystem auf der deutschen Jugend aufbauen. "Hart wie | |
Kruppstahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder" soll sie werden - und | |
Savage weist überzeugend nach, wie geschickt die Nazis mit der Hitlerjugend | |
und ihren diversen Unterabteilungen eine militärische Vorfeldorganisation | |
schufen, die durch Training, ideologische Indoktrination und dadurch, dass | |
sie Jugendlichen recht früh scheinbare Verantwortung übertrug, eine Kraft | |
entwickelte, der England und Frankreich recht wenig entgegenzusetzen | |
hatten. | |
Grob lässt sich Savages Buch in zwei Hälften teilen: die Zeit bis 1918 und | |
die Zeit danach. Das hat seinen Sinn. Zum einen, weil der Erste Weltkrieg | |
und das Massensterben der europäischen Jugendlichen in den Schützengräben | |
einen Generationenkonflikt hervorbringt, der schärfer ist als alle ähnlich | |
gelagerten Auseinandersetzungen zuvor. Es herrschte damals ein distinktes | |
Gefühl, dass die alte Welt gestorben ist und die Alten ihr Recht verwirkt | |
haben, über das Leben der Jungen zu entscheiden. Zum anderen aber auch, | |
weil Savage das Leben und die Kultur der Heranwachsenden vor 1918 aus | |
impressionistischen Tupfern der zahlreichen Bewegungen ihrer Zeit | |
zusammensetzt, den Hooligans in London, den Gangs von New York und Chicago, | |
den deutschen Wandervögeln, den Pfadfindern und den französischen | |
Décadents. Nach 1918 bekommt das Buch (und die historische Entwicklung) | |
aber einen ganz anderen Zug: Der große Konflikt zwischen dem deutschen und | |
dem amerikanischen Adoleszenzmodell kristallisiert sich erst dann heraus. | |
Wenn man so will, ist der Zweite Weltkrieg eben auch die dazugehörige | |
Entscheidungsschlacht. | |
Tatsächlich legt Savage aber keinen großen Wert auf einen | |
Feldherrenhügelblick. Das war schon so in "Englands Dreaming", dem Buch, | |
mit dem er berühmt geworden ist - das Standardwerk zu den Sex Pistols und | |
der Entstehung des britischen Punk, dessen Wurzeln er weit zurück in den | |
50er-Jahren verortet. Ganz ähnlich verliebt in die historische Genese von | |
kulturellen Phänomenen erzählt er auch die Frühgeschichte des Teenagers: | |
als eine Geschichte, die immer auch von Rebellionen gekennzeichnet ist. | |
Auch in Deutschland, auch und gerade in der NS-Zeit. Ausführlich beschreibt | |
Savage die Hamburger Swingjugend, die Kölner Edelweißpiraten oder die Weiße | |
Rose. | |
"Teenage" ist kein systematisches Buch. Manchmal wünscht man sich ein wenig | |
mehr begriffliche Schärfe. Tatsächlich ist Jon Savage auch kein klassischer | |
Historiker: Er ist ein Popkultur-Afficionado, ein fanatischer Sammler von | |
Platten, Magazinen und Kleiderstilen, die er so liebevoll wie detailgenau | |
immer wieder schildert. Er habe sich, wie er im Vorwort schreibt, auf das | |
Außergewöhnliche konzentriert statt auf das Gewöhnliche, auf "das Extreme | |
auf Kosten der Routine". | |
Tatsächlich scheint in diesem riesigen Tableau sub- und jugendkultureller | |
Stile und Szenen, die Savage aufruft, schon vieles von dem auf, was bis | |
heute Jugendkultur prägt: In der melancholischen Introspektion von Marie | |
Bashkristseff, jenes Tagebuch schreibenden russisch-französischen Mädchens, | |
mit dem "Teenage" beginnt, finden sich schon all die Selbstzweifel, die | |
auch hundert Jahre später noch britische Folksänger in den Selbstmord | |
treiben. Die Wandervögel ziehen mit einer ähnlichen Sehnsucht nach einem | |
wahren Leben außerhalb der Städte in die Natur wie die Hippies vier | |
Generationen später. | |
In der androgynen Dekadenz, die sich rund um Oscar Wilde formiert, scheint | |
vieles auf, was der britische Glamrock später nutzen wird. Ein | |
interessanter Nebengedanke, der bei der Lektüre abfällt: Was wäre wohl | |
passiert, wenn Stefan George zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland | |
Angeklagter eines ähnlichen Prozesses geworden wäre wie Oscar Wilde einige | |
Jahre vorher? Wäre das Jahrhundert anders verlaufen? Oder, bescheidener | |
gefragt: Hätte es einen deutschen David Bowie gegeben? | |
Und die Hooligans des späten 19. Jahrhunderts - nun ja, sie erinnern an | |
alle Hooligans, die noch kommen werden. So ist gerade die Geschichte der | |
Hooligans überraschend nah an dem Hier und Jetzt: Der Hooligan im London | |
und im Manchester der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts war doch genauso | |
Medienerfindung wie Realität auf der Straße. Beides befeuerte sich | |
gegenseitig, die Jugendlichen nahmen begeistert die Berichte über Dress- | |
und Verhaltenscodes auf, machten sie zu ihren eigenen, um nach dem nächsten | |
Krawall wiederum in der Zeitung aufzutauchen. | |
Der amerikanische Teenager ist nicht denkbar ohne den Drang der | |
protestantischen Reformbewegungen im frühen 20. Jahrhundert, die den | |
verwahrlosten Jugendlichen der Innenstädte ihre Sünden austreiben wollten. | |
Es ist ein widersprüchlicher Prozess, den sie in Gang setzen. Zum einen | |
fordern sie die Einführung eines Jugendstrafrechts und setzen sich gegen | |
Kinderarbeit und für bessere Ausbildungsmöglichkeiten ein. Zum anderen aber | |
etablieren sie neue Benimmregeln und eine intensive Lobbyarbeit, die zur | |
Einführung der Prohibition führt. | |
Quer dazu steht die amerikanische Faszination für das Verbrechen: Überall | |
geht die Entdeckung des Jugendlichen mit der Entdeckung des jugendlichen | |
Verbrechers einher - aber nirgendwo so intensiv wie in den USA, was mit dem | |
fehlenden Wohlfahrtsstaat zu tun hat, aber auch mit der Einführung der | |
Prohibition. Ganz ähnlich, wie der Aufstieg von Hiphop in den Achtzigern | |
untrennbar verbunden ist mit dem Bild des jugendlichen Crackdealers, der | |
Schreckbild und popkulturelles Icon wird, verhält es sich mit den Gangstern | |
der Zwanziger. | |
Was immer auch mit der colour line zu tun hat: Jugendlichsein geht in den | |
USA seit den Zwanzigern immer mit einer Faszination für die | |
afroamerikanische Musik zusammen. Die Radio- und Schallplattenindustrie | |
entdeckt den jugendlichen Konsumenten zuerst. Sei es der Hot Jazz der | |
Zwanziger, der recht bald verwässert und weiß gemacht wird. Sei es der | |
Swing der Dreißiger, bei dem das so ohne weiteres schon nicht mehr möglich | |
ist. Und dann kommt Elvis, der sich als erster Weißer überzeugend so | |
anhört, als sei er schwarz, und wird das erste große teenage idol. | |
16 Aug 2007 | |
## AUTOREN | |
Tobias Rapp | |
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