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# taz.de -- Montagsinterview Sonja Mühlberger: "Wir in Asien wurden vergessen"
> Rund 18.000 Juden fanden nach der Reichspogromnacht Zuflucht in Shanghai.
> Nur etwa 500 von ihnen kamen zurück. Für die damals achtjährige Sonja
> Mühlberger, geborene Krips, war Berlin sogar Neuland.
Bild: Peter Finkelgruen in seiner Kölner Wohnung.
taz: Frau Mühlberger, vor 60 Jahren hatten Sie zum ersten Mal Berlin
betreten. Werden Sie diesen Tag feiern?
Sonja Mühlberger: Ja sicher, wir werden mit ehemaligen "Shanghailändern"
zusammen kommen. So nennen wir uns.
Aber ist der 21. August 1947 für Sie nicht auch ein Trauertag? Immerhin
wurden Sie an dem Tag Ihrer Heimat entrissen.
Von Trauer würde ich nicht sprechen. Es war einfach was Neues. Meine Eltern
hatten mich sehr gut auf die Ankunft in Berlin vorbereitet.
Sie hatten keine Angst?
Nein. Etliche meiner Klassenkameraden hatten Shanghai bereits verlassen.
Die Stadt war ja für uns alle nur ein Wartesaal. Schrecklich fand ich was
ganz anderes: Ich erzählte natürlich allen, dass wir nach Deutschland gehen
würden. Es gab einige Erwachsene, die mich deswegen sogar bespuckten. Sie
fanden, dass man als Jude das Land der Mörder nie wieder betreten dürfe.
Wie war es für Sie, als Sie am 21. August am Görlitzer Bahnhof ankamen?
Die Schiffs- und Bahnreise sind mir sehr gut in Erinnerung geblieben. Der
Tag der Ankunft allerdings nicht. Ich weiß nur, dass mein damals gerade
zweieinhalbjähriger Bruder als jüngster Rückkehrer ständig fotografiert
wurde. Meine Eltern hatten mit dem Gepäck zu tun. Wir wurden danach in ein
Auffanglager nach Reinickendorf gebracht.
Was ist Ihnen von der Reise in Erinnerung geblieben?
Die Schiffsreise von Shanghai bis Neapel war ein großes Abenteuer. Der
Güterzug, in den wir dann einstiegen, war sehr primitiv ausgestattet. Mein
Vater hatte ein Seil vor die Tür des Wagens gespannt, damit wir Kinder
nicht raus fallen. Ich kann mich erinnern, dass ich das erste Mal saftige
grüne Wiesen sah, auf denen zwei Kinder spielten, die deutsch sprachen. In
Shanghai hatten wir zu Hause zwar auch deutsch gesprochen. Aber in dieser
Gegend? Das war für mich schon sehr merkwürdig.
Wussten Sie bis dahin überhaupt, was eine Wiese ist?
Meine Mutter hatte ein deutsches Märchenbuch, aus dem sie mir vorgelesen
hatte. Einmal wollte ich wissen, was ein Wald ist. Sie antwortete: Du musst
dir einen Baum vorstellen und noch weitere. Das ist ein Wald. Aber so eine
Wiese hatte ich tatsächlich noch nie gesehen.
Wie war das Leben in Shanghai?
Wir lebten sehr primitiv. Aber wenn Kinder in so eine Umgebung hinein
geboren werden, bekommen sie von dem Elend nicht viel mit. Für mich waren
die Umstände völlig normal. Ich war ohnehin ein schlechter Esser, so dass
ich den Hunger nicht spürte, den meine Eltern oft hatten. Zudem hatte ich
das ganz große Glück, dass meine Eltern immer zusammen gehalten haben. Die
Situation war ja nicht einfach. Unter den anderen Flüchtlingen gab es zum
Teil schlimme Dramen. Ehen zerbrachen, Menschen starben an schrecklichen
Krankheiten. Meine Eltern hingegen haben ihre ganze Liebe auf mich
übertragen.
Sie waren noch sehr jung, als Sie in Shanghai lebten. Was ist Ihnen
besonders in Erinnerung geblieben?
Ich wollte immer ein Geschwisterkind haben. Ich schlief auf zwei Koffern
mit einer Metallmatratze drauf, die tagsüber weggeräumt wurden. Von unserem
kleinen Balkon konnte ich morgens oft kleine Bündel auf der Straße sehen,
von denen manchmal wimmernde Geräusche kamen. Ich sah dann auch, wie ein
Chinese mit einem Karren kam, diese Bündel auflas und sie ziemlich unsanft
auf den Wagen schmiss. Irgendwann erzählte mir meine Mutter, dass es sich
um Babys handelte, die ausgesetzt wurden, meistens Mädchen. Ich hatte meine
Eltern gebeten, eins dieser Kinder aufzunehmen. Doch meine Eltern hatten
die Befürchtung, dass diese Kinder krank seien und sie zudem auch kein Geld
hätten, sie zu versorgen.
Ging es Ihnen denn im Verhältnis zu den Chinesen besser?
Ich denke schon. Wenn es zum Beispiel sehr heiß war, sind wir abends
spazieren gegangen, um Luft zu schnappen. Wir sind dann manchmal an
chinesischen Hütten vorbei gekommen. Dort schliefen die Menschen auf
schmalen Holzbänken. Überall schwirrten Moskitos um sie herum. Diese Bänke
empfand ich als wesentlich primitiver als meine zwei Koffer mit der
Metallmatratze.
Ihre Eltern und die meisten anderen jüdischen Flüchtlinge hatten doch im
Grunde auch nichts.
Mein Vater hatte immer versucht zu arbeiten und auch meine Mutter half
einer Schneiderin aus. Die meiste Zeit konnten wir unabhängig von den
Geldern der jüdischen Hilfskomitees leben. Auch mussten wir nicht wie viele
andere in einem der sechs Flüchtlingsheime im Ghetto leben.
Sprechen Sie chinesisch?
Leider nur ein paar Wörter. Da mein Vater fließend sprach, brauchte ich es
nie lernen. Andere Kinder haben manchmal über die chinesischen Dienstboten
die Sprache gelernt. Ich nicht.
In der Flüchtlingscommunity gab es Leute, die Dienstboten hatten?
Natürlich waren manche unter uns auch wohlhabender. Einige hatten eine
Bäckerei, ein Restaurant oder gaben eine Zeitung heraus. Besonders die
Ärzte unter uns waren in Shanghai gefragt. Aber gerade in den Kriegsjahren,
als wir von den Hilfslieferungen abgeschnitten waren, ging es vielen Leuten
sehr schlecht. In den Zeitungen wurde dazu aufgerufen, eine weitere Person
am Mittagstisch zu versorgen. Auch bei uns gab es immer Leute, die meine
Mutter zusätzlich bekochte.
Shanghai war damals noch sehr kolonialistisch geprägt. Einerseits waren die
jüdischen Flüchtlinge "Weiße", andererseits viele von ihnen bettelarm.
Welches Verhältnis hatten Sie zu den Chinesen?
Manchmal habe ich auf der Straße mit chinesischen Kindern gespielt. Aber
nicht oft, auch weil wir uns bloß mit Handzeichen verständigen konnten.
Ansonsten gab es tatsächlich nicht viele Berührungspunkte. Mein Vater
allerdings hatte für einen Chinesen Eier verkauft. Wie die meisten Chinesen
auch, musste mein Vater den Dienstbotenaufgang nehmen.
Nur eine Minderheit der rund 18.000 jüdischen Flüchtlinge kehrte nach
Deutschland zurück. Warum hatten sich Ihre Eltern für Deutschland
entschieden?
Es war nicht einfach, 1939 aus Deutschland vorm Faschismus zu fliehen. Es
war aber nach 1945 auch nicht einfach, aus Shanghai wieder wegzukommen. Die
meisten westlichen Länder hatten ihre restriktive Einwanderungspolitik auch
nach dem Schrecken der Nazi-Herrschaft zunächst nur wenig gelockert. Im
Juli 1946 appellierten 15.000 Flüchtlinge in Shanghai an die Welt, um auf
ihr Schicksal in Asien aufmerksam zu machen. Etwa 2.500 hatten nach
Kriegsende den Antrag auf Repatriierung nach Deutschland gestellt. Es
wurden jedoch immer weniger, weil sie dann doch in ein anderes Land weiter
wandern konnten. Unter uns Flüchtlingen gab eine kleine Gruppe, die ein
neues demokratisches Deutschland aufbauen wollte. Zu diesen Leuten gehörte
auch mein Vater.
Und sie landeten im russischen Sektor von Berlin. Haben Ihre Eltern diese
Entscheidung später bereut?
Nein, ich denke nicht, na ja, meine Mutter schon ab und zu mal.
Und wie bewerten Sie im Nachhinein diese Entscheidung?
Als Kind musste ich mich natürlich nach meinen Eltern richten. Aber ich
habe ja auch meinen Weg gemacht. Es war aber auch für meine Eltern damals
nicht einfach. Als wir in Berlin ankamen, holte uns kein Verwandter am
Bahnhof ab. Wir konnten auch bei niemanden unterkommen, meine Großeltern
mütterlicherseits waren in Theresienstadt umgekommen, viele andere
Familienmitglieder hatte man ebenfalls umgebracht. Die Eltern meines Vaters
starben kurz nach dem Krieg in Haifa. Meine Eltern mussten neu anfangen.
Auch nach dem Mauerbau haben Sie die Entscheidung nicht bedauert?
Nein, denn als wir 1947 ankamen, war Berlin schon geteilt. Es gab die
Währungsreform. Und meine geliebten Kaugummis, die ich am Westkreuz in
Automaten gesehen hatte, konnte ich nicht kaufen, weil wir kein Westgeld
hatten. Ich kannte sie aus Shanghai. Die Amerikaner hatten sie nach 1945
mitgebracht.
Hört man heute ehemalige Flüchtlinge aus Shanghai erzählen, scheinen viele
von ihnen das Leben dort zu verklären und sich nur noch an die guten Dinge
zu erinnern. War das bei Ihren Eltern auch so?
Bei meinem Vater eventuell, bei meiner Mutter nicht. Ich habe sie nach der
Wende 1990 immer wieder gefragt, aber nach Shanghai wollte sie nie wieder.
Sie ist 2004 gestorben. Mein Vater hingegen hatte nach unserer Rückkehr
immer wieder Begegnungen mit irgendwelchen Ex-Shanghaiern. Ich nehme an, er
wäre ganz gerne zurückgegangen. Aber bis zu seinem Tod 1967 ist es dazu
leider nicht mehr gekommen.
Und wie war es bei Ihnen?
Bei mir war der Wunsch immer sehr stark. Die erste große Reise, die mein
Mann und ich zur Silberhochzeit machen konnten, ging 1986 nach Nordkorea.
Denn China war für damalige DDR-Verhältnisse zu teuer. 1998 wurde ich dann
für einen Dokumentarfilm nach Shanghai eingeladen und im November 2005 zu
einer Konferenz "60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg". Es war enorm. Vieles
hatte ich viel größer in Erinnerung. Und ich fand unser Haus wieder.
Sie konnten sich an Ihr Haus erinnern?
Aber natürlich. Der Busfahrer fuhr durch Hongkou, wo sich das Jüdische
Ghetto befand. Trotz der 50 Jahre habe ich es sofort wieder erkannt. Es
hatte ein neues Dach, auf dem kleinen Balkon sah ich eine Klimaanlage. Aber
sonst hatte sich so gut wie nichts verändert. Inzwischen ist das Haus
abgerissen.
Wie war es für Sie, nach 50 Jahren durch die Gegend zu laufen?
Es war ein Gefühl des Vertrautseins. Ich erinnere mich an eine bestimmte
Sorte Blätterteigkuchen. Ich weiß noch, wie mein Vater mit mir eine
Konditorei betrat, die er mit Eiern belieferte. Ich hatte bis dahin noch
nie so viele Kuchen gesehen. Mein Vater sagte: Sonja, du kannst dir
aussuchen, was du willst. Ich hätte die schönsten Torten essen können. Doch
ich wollte Blätterteig. Diesen Geruch hatte ich auf meinen Reisen sofort
wieder erkannt.
Ist Shanghai Ihre Heimat?
Shanghai ist auf alle Fälle ein Teil von mir. Aufgrund seiner schrecklichen
Erfahrungen hat mir mein Vater nicht umsonst gesagt: Sonja, auf deiner
Geburtsurkunde ist der Stempel des Shanghai Municipal Council. Wenn du mal
Schwierigkeiten haben solltest - nach Shanghai kannst du immer zurück.
Gerade in den Jahrzehnten unter Mao war dies doch keine wirkliche
Alternative oder?
Das mag sein. Ein Trost war dieser Stempel für mich allemal.
19 Aug 2007
## AUTOREN
Felix Lee
## TAGS
Minderjährige Geflüchtete
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