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# taz.de -- Schweizer Bühnen: Eigensinniges Theater
> Die Schweizer sind wieder stark auf deutschsprachigen Bühnen. Das
> Arbeitsbuch "Eigenart Schweiz" klärt die Gründe für die hohe Qualität
Bild: Viel importierte schweizer Theaterthematik: Tell's Apfelschuss
Dort wo sich Finanzhaie und Hinterwäldler gute Nacht sagen, wo Wilhelm Tell
und Sennentuntschis[1] in verbunkerter Bergidylle rumgeistern, wo sich hohe
Selbstmordrate und hohe Lebensqualität ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern,
dort liegt die Schweiz. Dort wird eigensinniges Theater gespielt.
Das behauptet zumindest das diesjährige Arbeitsbuch der Zeitschrift Theater
der Zeit, das den sonderbaren Titel "Eigenart Schweiz" trägt. Herausgegeben
von den Theaterkritikerinnen Dagmar Walser und Barbara Engelhardt, liefert
die Sammlung von Essays, Interviews und historischen Abrissen zu
verschiedenen Theaterschaffenden einen guten Überblick über das Theater der
Deutschschweiz seit den 90er-Jahren.
Damals waren mit Christoph Marthaler, Stefan Bachmann und Barbara Mundel
die Stadttheater in Zürich, Basel und Luzern in den Händen von
KünstlerInnen, die einen ästhetischen Paradigmenwechsel im Kampf um Geld
und Geist durchsetzten. Unter der Leitung von Volker Hesse und Stefan
Müller machte das Theater Neumarkt in Zürich überregional und postmodern
Furore und begründete zusammen mit dem Theaterhaus Gessnerallee das
Nachwuchsfestival Hope & Glory. Dieses wiederum entwickelte sich zu einem
Startplatz für junge KünstlerInnen, die heute die deutschsprachige Szene
mitprägen: Stefan Kaegi, der mit "Rimini Protokoll" eine neue Form des
dokumentarischen Theaters erfunden hatte, oder die "unplugged"-Regisseurin
Barbara Weber präsentierten sich dort in ihren Anfängen. Auf der
Gessnerallee-Bühne begann auch der Autodidakt Igor Bauersima seine
internationale Karriere als Autor und Regisseur, Niklaus Helbling fand mit
seinen "Mass & Fieber"- Freunden eine Spielwiese, um Medien und Körper
schlau durcheinanderzumixen. Währenddessen zieht es Sebastian Nübling immer
wieder ans junge Theater Basel, und in der Berner Reitschule geben die
Regisseurin Meret Matter mit dem Club111, der Regisseur Samuel Schwarz und
der Autor Lukas Bärfuss mit 400asa trashig-politisches (Volks)-Theater zum
besten.
Gleichzeitig spielen Laien in zahlreichen Dörfern der Schweiz Theater,
häufig als Ergänzung zu einem Turn-, Musik- oder sonstigen Vereinsabend im
"Sääli" des Wirtshauses oder in der Aula des Schulhauses. Jährlich finden
in der Schweiz 5.400 solche Volkstheaterveranstaltungen statt, die sich
rund eine Million ZuschauerInnen ansehen. Die Vielfalt auf engem Raum ist
beachtlich.
Von einer schweizerischen Ästhetik kann indessen kaum die Rede sein. "La
Suisse nexiste pas", konstatierte Ben Vautier 1992 in der Weltausstellung
in Sevilla, während "Swissness", die erfolgreiche Vermarktung von Tradition
und High-Tech, zunehmend an Boden gewann. In der heftigen Kritik vieler
Kunstschaffenden an der eigenbrötlerischen Heimat schlummert ein
verstecktes Bekenntnis zu ihr. Eine Verklärung schlägt sich auch in manchen
Texten von "Eigenart Schweiz" nieder, nicht zuletzt weil langjährige Fans,
Freunde oder Förderer über ihre Lieblingsgruppen schreiben.
Im lokalen Kontext sowie in der Vernetzung jenseits nationaler Grenzen
findet sich auch die Antwort auf die Frage nach Gemeinsamkeiten. Denn
Theater ist zwar einerseits, wie Dagmar Walser klug schreibt, "eine lokale
Kunstform, aus der die spezifischen, sprachlichen, regionalen und
historischen Eigenheiten nicht wegzudenken sind", andererseits ist die
Theaterszene der Deutschschweiz selbstverständlich Teil der
deutschsprachigen Theaterlandschaft. Die Westschweizer Theaterschaffenden
sind analog der französischen Provinz auf "la grande capitale", Paris,
ausgerichtet, während die Deutschschweizer Theaterjugend in Gießen, Wien
oder Berlin studiert. So sind es meist die Ausbildungsstätten, die oft
Urzellen künftiger Gruppen sind.
An dieser Stelle findet sich die wohl größte Eigenheit der Schweizer
Theaterlandschaft: in der Ausbildung und Förderung der freien
Theaterschaffenden. So ist der "Zugang zu den Produktionsmitteln
niederschwelliger als anderswo und muss nicht erst durch jahrzehntelange
Selbstausbeutung erdient werden", vermerkt Anja Dirks, Dramaturgin im
Theaterhaus Gessnerallee. Der systematischen Dramatikerförderung ist zu
verdanken, dass zahlreiche Schweizer DramatikerInnen wie etwa Reto Finger
oder Darja Stocker auf deutschsprachigen Bühnen uraufgeführt oder
gegebenenfalls, wie Andri Beyeler, übersetzt werden.
Denn wenn es überhaupt eine spezifisch schweizerische Ästhetik bei den
Theaterschaffenden gibt, so ist es vielleicht jene der "überformten,
manchmal antiquierten, häufig als spießig markierten Schweizer Mundart,
welche die besten unter ihnen zur Kunstsprache umwerten können", wie der
Kulturredakteur des Tages-Anzeigers, Tobi Müller, scharfsinnig vermerkt. Er
zeigt auch, dass Humor und die Musikalität der Sprache, aber auch die
Bezüge zum Volksliedgut und zur klassischen Moderne wichtige Kennzeichen in
den Arbeiten der zwei wohl arriviertesten und vielleicht auch
eigenwilligsten Schweizer Regisseure sind: Ruedi Häusermann oder Christoph
Marthaler.
Manchmal kommt beim Lesen von "Eigenart Schweiz" der leise und letztlich
falsche Verdacht auf, dass die entscheidenden Theaterentwicklungen der
letzten Jahre allein in der Schweiz entstanden seien. Blättert man aber die
Seite um, findet die äußerst gelungene Bestandsaufnahme immer wieder
haarscharf die Kurve raus aus der Schweiz und auf die großen Verkehrsachsen
in andere Länder.
[1] Frauenpuppen, die von den Sennen zu ihrer körperlichen Befriedigung aus
Ziegen- und Kuhhäuten zusammengenäht werden.
"Eigenart Schweiz", hrsg. von Dagmar Walser und Barbara Engelhard,
Arbeitsbuch 16 von Theater der Zeit, 15 Euro
30 Aug 2007
## AUTOREN
Ariane von Graffenried
## TAGS
Georg-Büchner-Preis
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