# taz.de -- Regisseur Ulrich Seidl: "Es liegt Schönheit im Grässlichen" | |
> Wie man sich den zärtlichen Blick auf hoffnungslose Zustände bewahrt. Ein | |
> Gespräch mit dem österreichischen Filmemacher Ulrich Seidl über seinen | |
> neuen Film "Import Export" | |
Bild: Olga (Ekateryna Rak) in Ulrich Seidls Film "Import Export". | |
taz: Herr Seidl, Sie sind bekannt für Ihre dokumentarisch genauen | |
Schilderungen eines österreichischen Alltags, in dem Normalität und | |
Wahnsinn meist eine sehr spezielle Verbindung eingehen. Für "Import Export" | |
erkunden Sie die Zustände auch jenseits der Grenzen, in Osteuropa. | |
Ulrich Seidl: Die Grundidee war die Figur von Paul (Paul Hofmann). Ich | |
hatte vor einigen Jahren mit anderen Kollegen einen Episoden-Dokumentarfilm | |
zur Lage Österreichs gedreht und damals eine Familie kennengelernt, von | |
denen alle arbeitslos waren, die Eltern wie die erwachsenen Kinder. Da kam | |
mir der Gedanke, daraus einen Spielfilm zu machen. Das war mir dann aber, | |
wie es immer bei mir ist, zu wenig, zu einförmig. Zur selben Zeit war ich | |
viel in Osteuropa unterwegs, um dort Schauplätze für einen historischen | |
Film zu finden. So hat sich das ergeben. Ich wollte schon immer in | |
Osteuropa drehen. Anfangs waren es sechs oder sieben Geschichten, über | |
Figuren, die sich entweder von Osten nach Westen bewegen oder umgekehrt. Am | |
Ende aber habe ich mich doch lieber auf zwei Geschichten konzentriert. | |
Dass Paul Wien verlässt, um in Osteuropa zu arbeiten, ist ungewöhnlicher | |
als die Geschichte von Olga, die aus der Ukraine in den Westen kommt. | |
Die Geschichte von Olga (Ekateryna Rak) ist geradezu klassisch. Es gibt in | |
Wien wer weiß wie viele schwarzarbeitende Frauen aus Moldawien oder der | |
Ukraine. Und zwar immer Frauen, weil die eher Arbeit finden als ihre | |
Männer. Der Mann und die Kinder bleiben zu Hause, während die Frau in den | |
Westen geht und das Geld verdient. Was kulturell gesehen für diese Länder | |
eine Katastrophe ist. Die gehen mit einem Touristenvisum und dann tauchen | |
sie unter. Und sie müssen eine bestimte Zeitlang bleiben, damit sich das | |
auszahlt. Die können nicht zurückgehen. | |
Die Darstellerin von Olgas Freundin, Natalia Epureanu, hat so ein Schicksal | |
hinter sich. | |
Als der Film schon in der Vorbereitung war, arbeitete Natalia als Putzfrau | |
in unserer Firma. Dann stellte sich heraus, dass sie genau dieselbe | |
Geschichte erlebt hat, wie ich sie geschrieben habe. Auch sie hat ihr Kind | |
bei der Mutter zurückgelassen und Jahre lang nicht gesehen. Natalia war | |
allerdings so fleißig, geradezu besessen fleißig, dass sie gut verdient | |
hat. Heute hat sie sich in Wien eine Existenz gebaut, inzwischen ist ihr | |
Kind auch da. Die hat es wirklich geschafft. | |
In Ihren Filmen arbeiten regelmäßig Laien mit professionellen Schauspielern | |
zusammen. | |
Ich verwende das Wort "Laien" nicht. Ich sage immer "Nicht-Schauspieler" | |
oder "Schauspieler". Die unterscheidet nur, dass die einen das zum Beruf | |
haben und die anderen nicht. | |
In "Hundstage" setzten Sie ihre Darsteller enormer Hitze aus, in | |
"ImportExport" machten Sie Außenaufnahmen bei Minusgraden weit unter Null. | |
Ist eine gewisse körperliche Unerschrockenheit bei Ihren Dreharbeiten | |
Voraussetzung? | |
Das Physische ist mich sehr wichtig. Die Schauspieler müssen frieren, wenn | |
es kalt ist, und sie müssen schwitzen, wenn es heiß ist. Das verlange ich | |
von denen. | |
Gab es da Widerstände? | |
Die Schauspieler verstehen, dass das wichtig ist, und wenn sie es nicht | |
verstehen würden, dann wären sie für mich nicht die richtigen. Das ist | |
klar. Es gibt welche, die würden das nicht tun. Aber mit denen arbeite ich | |
nicht. | |
Wie finden Sie die Darsteller? | |
Indem ich ein meist langwieriges Casting veranstalte. Das ist ein | |
sukzessiver Auswahlprozess. Im Fall von Paul geht man in Wien auf die | |
Straße, in Szenelokale, in Lehrlingsausbildungsstätten, in Gefängnisse, | |
wohin auch immer. Eben überall dorthin, wo so ein Paul gefunden werden | |
könnte. Dann tut sich eigentlich eine ganze Menge an Möglichkeiten und | |
Menschen auf. Zunächst interessiert mich nur die Lebensgeschichte von | |
einem, dann macht man Probeaufnahmen und schaut, wie jemand vor der Kamera | |
ist. Letztendlich muss ich, und das ist das Schwierigste, sicher gehen, ob | |
jemand genug Charisma hat, genug Spektrum hat an Möglichkeiten, seine | |
gesamte Rolle abzudecken. | |
Hat dieser Auswahlprozess Einfluss auf das Drehbuch? | |
Sicher, die Figur des Stiefvaters (Michael Thomas) etwa stand nicht im | |
Drehbuch. Sie hat sich erst im Casting ergeben. Geschrieben war, dass der | |
Pauli alleine in den Osten reist. Als wir Michael Thomas gefunden haben, | |
haben wir ein Szenencasting mit ihm und Paul Hofmann gemacht. Das war so | |
großartig an Möglichkeiten, dass ich gesagt habe, gut, wir nehmen ihn als | |
Stiefvater hinein. | |
Mit dieser Methode muss man das eigene Drehbuch hinter sich lassen können. | |
Die Methode ist, dass die Dinge auf einen zukommen, man sie aufnimmt und | |
verfolgt. Das ist auch ein Grund, warum die Produktion der Filme so lange | |
dauert. Ich habe immer wieder Filmschüler unterricht und dabei die | |
Erfahrung gemacht, dass angehende Regisseure ihr eigenes Material nicht | |
bewerten können. Die versuchen stur durchzusetzen, was sie sich irgendwann | |
einmal ausgedacht haben. Ich muss mich aber, wenn ich mein Material | |
anschaue, davon freimachen, welche Absicht ich einmal hatte. Ich schaue | |
ganz neutral: Was ist das wert? | |
Würden Sie sich korrekt bezeichnet finden als "Materialfilmer"? | |
Das ist ja ein schrecklicher Audruck! | |
Ich verstehe den durchaus positiv: Das Material der vorgefundenen Realität | |
ernster nehmen als die eigenen Ideen. | |
Also, ich würde mich so nicht bezeichnen. Ich tue mich überhaupt schwer, | |
mich als irgendwas zu bezeichnen, weil mir das immer zu eng ist, mit einem | |
Begriff. Ich mache die und die Filme, und zu denen kann man dann etwas | |
sagen. | |
Darf ich es nochmal versuchen? Ihre Filme sind von zweierlei geprägt: Eine | |
starken Willen zur Inszenierung, zum Stil einerseits, etwa in der | |
Kameraarbeit; andererseits von einem dokumentarischen Ethos. Es sind | |
gewissermaßen "dokumentarische Spielfilme". | |
Ich überlasse das Ihnen, wenn Sie mich so sehen wollen. Ich würde mich | |
selbst nicht so beschreiben. Mich hat von Anfang meiner Filmlaufbahn an | |
beides interessiert. Lange Zeit war das Dokumentarische bestimmend, dann | |
ging die Entwicklung hin zur Fiktion. "Import Export" und "Hundstage" sind | |
reine Fiktionen, die aber dieses Authentische haben. Weil mir das wichtig | |
ist. Dadurch ist das Publikum miteinbezogen in die Welt, weil jeder ein | |
Teil dieser Welt sein könnte. Durch die authentische Darstellung weiß der | |
Zuschauer, das ist jetzt nicht Illusion, sondern Realität. | |
Wie schafft man einen zärtlichen Blick auf hoffnungslose Zustände? | |
Indem man sich für die Menschen interessiert. Und indem man sich für das | |
Leben interessiert. Es gibt in dieser Gräßlichkeit immer auch Schönheit. Es | |
gibt in der Ausweglosigkeit immer eine Hoffnung. Wenn ich daran nicht | |
glauben würde, würde ich nicht solche Filme machen. Das wäre mir dann zu | |
anstrengend. Dann würde ich mir solche Derharbeiten nicht antun. Nur | |
grausige Zustände zu bejammern, das wäre mir zu wenig. | |
Es gibt ja durchaus auch komische Szenen, beispielsweise die, in der Olga | |
Porno-Deutsch lernt. Könnte eigentlich einer Ihrer Film auchohne Humor | |
auskommen? | |
Nein, das würde ich schlecht finden. Mir ist in jedem Film noch zu wenig | |
Humor drinnen. Ich kann das bloß auch nicht ganz steuern. Am Anfang, als | |
wir die Muster von "ImportExport" gesehen haben, dachte ich, der Film hätte | |
mehr Humor als "Hundstage". Letztendlich stimmte das dann gar nicht, weil | |
der Film sich eben so gestaltet hatte. Aber ich denke, er könnte mehr Humor | |
vertragen. Gerade weil der Film auf der anderen Seite ja sehr schwer ist. | |
Werden wir irgendwann einmal eine Ulrich Seidl-Komödie sehen? | |
Nein. | |
INTERVIEW: DIETMAR KAMMERER | |
Zu Seidl ist soeben ein lesenswertes Buch erschienen: "Sündenfall. Die | |
Grenzüberschreitungen des Filmemachers Ulrich Seidl" (Sonderzahl Verlag, | |
Wien, 250 Seiten, 19,90 Euro). Autor ist der Wiener Filmkritiker, | |
Profil-Kulturchef und taz-Autor Stefan Grissemann. "Sündenfall" ist | |
Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den Methoden und Absichten | |
Seidls. Dessen Arbeit wird auf praktischer wie auf theoretischer Ebene | |
erhellt - etwa über einen Bericht vom Set von "Import Export", der | |
anschaulich macht, wie hoch die Anforderungen sind, die Seidl an sich und | |
sein Team stellt. Aber auch, indem Grissemann Seidls Oeuvre in Diskussionen | |
darüber einbindet, wie Filmemacher mit Menschen in prekären Umständen | |
umgehen können. In längeren, in die Analyse eingebauten Zitaten erhält | |
Seidl zudem selbst Gelegenheit, sich und seine Arbeitsweise zu | |
charakterisieren. | |
19 Oct 2007 | |
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